Freitag, 19. August 2022, 14:19 Uhr
Noah fiel die Kinnlade runter und er bemerkte, wie sein Mund eher das Wort formte, als dass er es wirklich aussprach: „Doping?!“
Amelie nickte, bevor ein erneutes bebendes Schluchzen durch ihren Körper fuhr. „Ich … ich hab das viel zu spät kapiert. J.J. meinte, die Tabletten wären wichtig für die Muskeln und … und alle Ausdauersportler würden sie nehmen.“
Noah starrte Amelie immer noch perplex an. „Du hast Tabletten geschluckt, die J.J. dir gegeben hat? Steroide?“
„Ja, jeden Tag eine. Seit … ein paar Monaten. Ich wusste am Anfang nicht, was es genau war. Dass es verboten ist. Und was es für Nebenwirkungen haben kann bei Mädchen in der Pubertät. Anabole Steroide eben. Ich habe dann bei J.J. nachgefragt und er meinte, ich soll mir keine Sorgen machen, es würde ja bereits jetzt super wirken.“
Noah dachte an Amelies Erfolg bei den Jugendmeisterschaften, der anscheinend nicht nur auf hartes Training und einen natürlichen Wachstumsschub zurückzuführen war. „Es scheint tatsächlich gewirkt zu haben, oder? Jugendmeisterin mit 15?“
Amelies Schluchzen hörte auf. Sie richtete ihren Blick nach oben, so als versuchte sie, sich an den Wettbewerb zu erinnern, der noch nicht mal eine Woche zurücklag. „Die Medaille in Hamburg war der Wahnsinn. Ich war so happy! Und gleichzeitig … Naja, ich hatte schon ein schlechtes Gefühl dabei. Aber J.J. meinte, es würden alle machen und keiner redet drüber. Er würde dafür sorgen, dass es nicht rauskommt bei den Kontrollen. Deshalb dachte ich mir, vielleicht stimmt das ja. Vielleicht machen es die anderen auch so? Vielleicht ist das einfach so im Leistungssport?“
Noah wollte etwas erwidern, wollte den sauberen Sport verteidigen. Er dachte an die Philosophie-Stunde, an Thomas Hobbes und die klaren Regeln, die sicherstellten, dass niemand mit leichteren Kugeln stieß, auch nicht die Konkurrenten, denen man das vielleicht zutrauen würde. Schön theoretisch gesprochen. Aber Fakt war, dass es in der Realität wohl einige Grauzonen oder Möglichkeiten gab, Regeln zu umgehen. Er als Stabhochspringer wusste nicht viel darüber, was tatsächlich im Langstreckenlauf galt. Er war nie auch nur annähernd in so eine prekäre Lage geraten, in der Amelie sich befand.
Stattdessen fragte Noah: „Und was war jetzt mit Johannes? Wusste er davon?“
„Keine Ahnung. So ganz verstehe ich das auch nicht. Weder was J.J. für ein Problem mit ihm hat noch warum das alles jetzt passiert ist. Erst hat das ganze Laufteam meinen Erfolg gefeiert, J.J. hat mich voll gelobt. Und am Montag, bei den Jahres-anfangsgesprächen, meinte er dann, dass ich ihm einen Gefallen tun muss. Ja, so hat er es ausgedrückt. Einen Gefallen. Als Dank dafür, dass ich die Tabletten und somit die Medaille bekommen habe. Ich wär ihm etwas schuldig. Ich sollte behaupten, d- dass Johannes mich bei der Physiotherapie am Busen begrapscht hat. Und wenn ich das nicht machen würde … Dann würde er die Doping-Probe auffliegen lassen, ich wäre meine Medaille los und … meine ganze Sportkarriere, mein ganzes Leben wäre kaputt!“ Sie blickte Noah voller Verzweiflung an. „Was hätte ich denn tun sollen? Noah, du bist doch so schlau. Was soll ich denn jetzt bloß tun?“
Tja, wenn ich das wüsste , dachte Noah. Er war schockiert darüber, was J.J. Amelie angetan hatte. J.J., der als harter und fordernder Trainer galt, dem der Erfolg recht gab. J.J., der sich mit der hübschen jungen Ehefrau an seiner Seite als agil und dynamisch präsentierte, wie zu seinen aktiven Zeiten. War er so erfolgshungrig gewesen, dass er vor Doping nicht zurückgeschreckt und Amelie anschließend für seine Zwecke instrumentalisiert hatte?
Er fasste zusammen und zählte an Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger ab: „Das ist Nötigung. Und wie heißt das … Anstiftung zur Verleumdung. Und davon abgesehen hat sich J.J. bereits strafbar gemacht, als er dir die Steroide gegeben hat. Das ist verboten. Und du bist minderjährig.“
Amelie nickte langsam. „Ich weiß jetzt, dass J.J. das alles nicht darf. Aber ich hab so eine Angst davor, dass er seine Drohung wahr macht. Dann kommt raus, dass ich gedopt war. Das ist für mich das Ende.“
Nach dem ersten Schock spürte Noah, wie in gleichem Maße Mitleid für Amelie und Wut auf J.J. in ihm tobten. Er überlegte fieberhaft, wie man ihr helfen könnte. Was würde Nico mit seinen weisen Ratschlägen wohl sagen? „Das ist eine absolut beschissene Situation, wenn ich das mal so sagen darf“, sagte er schließlich seufzend. „Aber irgendwie wirst du da wieder rauskommen. Hast du mit jemandem darüber geredet? Vielleicht mit jemand anderem aus dem Laufteam? Wer weiß, womöglich bist du ja nicht die einzige, die von J.J. Tabletten bekommen hat?“
Amelie schüttelte den Kopf: „Ich hab mich noch nicht getraut. J.J hat immer so getan, als wäre es normal. Alle nehmen es, aber keiner spricht darüber. Keine Ahnung, ob das stimmt. Aber wenn ich jemanden frage, fliege ich ja sofort auf.“
„Das hat er wirklich perfide eingefädelt. Aber er darf damit nicht durchkommen, er muss bestraft werden. Amelie, du musst die Aussage gegenüber Johannes zurückziehen und stattdessen sagen, was J.J. dir mit dem Doping und der Nötigung angetan hat.“
„Aber dann … werd ich wegen Falschaussage bestraft. Und wegen Doping. Und meine Medaille ist weg. Und meine ganze sportliche Zukunft …“ Ihre Worte wurden fast von ihrem bitterlichen Schluchzen verschluckt.
„Nein“, sagte Noah und war selbst überrascht, wie bestimmt seine Stimme klang. „Naja, die Medaille wirst du wahrscheinlich abgeben müssen. Aber es darf nicht sein, dass es das Ende ist. Ohne Doping kannst du mit einem neuen Trainer irgendwann wieder erfolgreich sein. Es ist doch nicht deine Schuld! Du bist noch so jung und hast so viel Talent.“ Noah hoffte selbst, dass seine Worte wahr werden konnten.
„Meinst du?“ Sie sah ihn unsicher an.
„Ja, bestimmt. Es kann alles wieder gut werden, wenn du jetzt die Wahrheit sagst. Dich hier zu verkriechen und aus Angst vor J.J. zu lügen, während alle Johannes für ein Schwein halten, ist jedenfalls keine Alternative. Je eher du das beendest, desto besser.“
Sie nickte zögernd. „Ich weiß. Ich fühle mich so schrecklich wegen der ganzen Sache. Ich wollte das doch nicht! Aber … Noah, kannst du mir einen Gefallen tun? Sag bitte nichts den anderen und nichts der Polizei.“
Noah musste schlucken. Das widerstrebte ihm zutiefst, andererseits hatte sie ihn ins Vertrauen gezogen. Er überlegte und nickte schließlich. „Okay. Wenn du mir versprichst, dass du darüber nachdenkst. Es ist am Ende deine Entscheidung und das wird verdammt schwer für dich. Aber du schaffst das. Sprich mit deinen Eltern! Geschäftsreise hin oder her. Und wenn ich dir irgendwie helfen kann, tue ich das auch. So wie sicher viele deiner Freunde.“
„Danke, Noah.“ In ihren Augen sammelten sich erneut Tränen, doch ihr leichtes Lächeln zeigte, dass es mehr Emotionen der Rührung als der Verzweiflung waren. Sie rückte vorsichtig auf ihn zu und schlang ihre Arme um ihn. In diesem Moment wünschte sich Noah nichts mehr, als sie so lange zu halten und zu beschützen, bis sich alles für sie zum Guten wenden würde.
Als er anschließend auf dem Weg in sein Zimmer war, kreisten seine Gedanken immer noch um Amelie und darum, was sie emotional durchgemacht haben musste. Als er die Zimmertür öffnen wollte, war er überrascht, dass diese abgeschlossen war. Nico sollte jetzt in der Lernzeit eigentlich am Schreibtisch sitzen. Doch kaum hatte Noah seine Zimmerkarte herausgeholt, kam sein Mitbewohner durch die Glastür in den Gang und folgte ihm aufs Zimmer.
Noah überlegte, ob er Nico fragen sollte, wo er herkam, aber dieser war schneller: „Na, was hat Amelie über Julius gesagt? Stimmte die Theorie, dass Julius mitbekommen hat, dass –“
„Julius?“ Noah fiel Nico ins Wort und starrte ihn entgeistert an.
„Ja, du wolltest doch mit Amelie sprechen, um mehr über Julius‘ Tod zu erfahren.“ Nun wirkte Nico sehr verwirrt.
Julius! Natürlich ! Eine eiskalte Welle durchströmte Noah. Er war so von Amelies Geschichte bewegt und schockiert gewesen, dass er überhaupt keine Verbindung zu Julius gezogen hatte. Dabei war es nun offensichtlich. „Scheiße!“, stieß er aus. Und noch einmal, diesmal viel lauter: „Verdammte Scheiße!“