33. Kapitel: Latino Beach Party

Freitag, 19. August 2022, 20:12 Uhr

„Kommst du gleich mit zur Party?“ Noah war gerade in sein Chemiebuch vertieft, als Nico ins Zimmer kam und ihn an die Veranstaltung erinnerte, die er verdrängt haben musste. Nach dem Gemeinschaftssport hatte er sich gleich an die Aufgaben gesetzt, schließlich hatte er durch das Gespräch mit Amelie nach dem Mittagessen wieder eine Lernzeit verpasst. Es gab eine Menge zu tun, und ganz so trivial waren die Chemieformeln auch nicht. Nico hatte währenddessen mit seinem Auto den Mädchen mit den Einkäufen für die Party geholfen. Latino Beach Party, auch das noch! Noah hatte keine Lust. Er fühlte sich auf Partys nie besonders wohl und an diesem Tag war ihm erst recht nicht danach.

„Sag bloß, Noah Bergmann ist nicht der größte Partytiger der Schule! Na, wenn ich vorher gewusst hätte, auf wen ich mich da eingelassen habe …“, neckte Nico ihn.

„Sei ruhig“, sagte Noah seufzend. „Ich hab echt noch zu tun und will die Aufgaben nicht alle ins Wochenende schleppen. Hier der Essay für Philo, die weiteren Chemieaufgaben, dann die Zusatzaufgabe für Mathe, die der Wozniak mir gegeben hat, außerdem die Vokabeln für Französisch und –“

„Die kannst du sicher schon“, unterbrach Nico ihn.

„Eigentlich schon, aber bei einem Verb bin ich mir nicht ganz sicher, wie es konjugiert wird.“ Noah musste selbst schmunzeln, wurde dann aber wieder ernst. „Davon abgesehen ist mir heute wirklich nicht nach Party.“

Nico legte ihm die Arme auf die Schultern. „Das ist echt heftig mit dem Doping von Amelie und wahrscheinlich auch Julius. Aber wir können heute nichts mehr tun. Da kann ein bisschen Ablenkung nicht schaden. Vielleicht magst du ja doch nachkommen, nachdem du dein Französischbuch auswendig gelernt hast.“ Er ließ hauchzart zwei Finger über Noahs Arme gleiten und flüsterte: „Ich würde nämlich voll gerne mit dir zusammen am Strand chillen.“

Da waren sie wieder, die Schmetterlinge in Noahs Bauch, die unter den aufwühlenden Erkenntnissen der letzten Stunden etwas benommen am Boden gelegen hatten. Nun flatterten sie erneut wie wild, und Noah spürte den immensen Wunsch, weiter von Nico berührt zu werden.

„Ich hab ja auch gar nichts dagegen am Strand zu chillen, also mit dir. Aber nicht inmitten all der Leute und der Party …“

„Niemand zwingt uns, ewig zu bleiben. Und wenn wir Lust haben, können wir die Party anschließend zu zweit weiterfeiern“, hauchte Nico mit einem bedeutungsvollen Unterton und gab Noah einen innigen Kuss, der mindestens genauso viel ausdrückte wie seine Worte.

***

Die goldenen Strahlen der Abendsonne beschienen den Abschnitt des Seeufers, an dem sich unweit vom Internat ein kleiner grobkörniger Sandstrand befand. Noah hörte bereits aus einigen Metern Entfernung die Latino-Rhythmen von Despacito . Ungefähr dreißig bis vierzig seiner Mitschülerinnen und Mitschüler hatten sich am See versammelt, manche tanzten barfuß im Sand, andere machten es sich in kleineren Grüppchen auf Picknickdecken gemütlich.

„Noah! Wie schön, dass du gekommen bist!“ Während er sich noch umblickte, kam Nele auf ihn zugelaufen. Sie lächelte ihn an, zögerte kurz und umarmte ihn dann zur Begrüßung. „Du möchtest bestimmt auch ein Null-Prozent-Bier?“

„Äh, ja, gerne“, antwortete Noah und schaute sich nach dem Rest seiner Freunde um. Er winkte Luisa zu, die zusammen mit zwei weiteren Mädchen ihres Jahrgangs tanzte. Aylin saß kichernd neben Cem auf einer Decke; die beiden Geschwister schienen sich gut zu amüsieren. Wo war Nico? Aha, dort hinten mit Thor und Felix ins Gespräch vertieft.

„Danke, Nele!“ Noah nahm das alkoholfreie Bier entgegen, das Nele ihm reichte.

„Prost!“ Sie stießen mit ihren Flaschen an, und Noah steuerte auf die Dreiergruppe um Nico zu.

„Moin“, sagte Noah und hob seine Bierflasche zum Gruß. Nicos Augen leuchteten, als er Noah erblickte; Thor und Felix nickten ihm zu.

„Die Sonne geht fast unter und du sagst Moin. Ihr Hamburger habt ein merkwürdiges Zeitverständnis“, sagte Felix.

„Moin kann man immer sagen. Das heißt Hallo, wie geht’s, und hat gar nichts mit Guten Morgen zu tun, auch wenn das viele denken“, erklärte Noah. Er nahm ein Schluck von seinem Bier. „Das kommt von irgendeinem plattdeutschen Wort.“

„Von Moi und das bedeutet schön “, fügte Nele hinzu. „Hey, wenn jemand Plattdütsch erfunden hat, dann wir in Ostfriesland.“ Sie sah Noah herausfordernd an. „Kleine Kostprobe gefällig?“

In diesem Moment kam Luisa und schlang ihre Arme von hinten um Thor: „Ihr steht hier rum und redet über Ostfriesisch? Leute, das ist eine Latino-Party, kommt mal tanzen!“ Sie zog ihren Freund zur Mitte des Strandabschnitts, wo aus den Boxen nun ein Shakira-Song ertönte.

„Noah, kommst du auch mit?“ Nele warf ihm einen auffordernden Blick zu. Tanzen? Zu Latino-Musik? Mit Nele? Das war so ziemlich das letzte, was Noah wollte. Während er mit „Also, Tanzen ist wirklich nicht so meins“, begann, fiel ihm überraschenderweise Felix ins Wort: „Nele, wenn du willst, tanz ich mit dir zu Shakira.“

Noah beobachtete erstaunt, wie Felix Neles Hand ergriff und die verdutzte Weitspringerin mit sich auf die improvisierte Strand-Tanzfläche zog. Er setzte sich neben Nico in den Sand, woraufhin dieser noch ein bisschen näher an ihn heranrückte und seine Bierflasche erhob: „Guten Abend schöner Mann! Prost erstmal!“ Sie sahen sich tief in die Augen, während sie mit ihren Flaschen anstießen.

Die untergehende Sonne ließ Nicos Gesicht erstrahlen. „Es ist wirklich ein schöner Abend“, stellte Noah mit gedämpfter Stimme fest. „Von daher passt das schon, dass Moin von schön kommt. Allerdings würde ich noch lieber mit dir alleine am Strand sitzen, als mich auf einer Party dafür zu rechtfertigen, dass ich nicht tanze.“

„Du musst ja nicht vor allen Leuten tanzen, solange du es innerlich tust“, flüsterte Nico nah an seinem Ohr.

„Das tue ich“, sagte Noah lächelnd. Die Schmetterlinge in seinem Bauch tanzten in der Tat wie wild und weckten Erinnerungen an den gestrigen Abend.

„Sag mal“, begann er leise und warf Nico einen interessierten Blick zu. „Warum hast du eigentlich Pegasus auf deinem Rücken? Soll er dich beim Laufen beflügeln?“

„Das auch“, erklärte Nico. „Beim Laufen, aber noch viel mehr im Leben. Von allen Gestalten der Mythologie finde ich Pegasus am faszinierendsten. Ein Pferd, das fliegen kann. Der Inbegriff des Unmöglichen. Das zeigt uns doch, dass nichts unmöglich ist. Es lohnt sich für das zu kämpfen, was uns wichtig ist.“

Noah dachte nach. „Wenn man das so sieht, passt es tatsächlich zum Sport und zum Leben allgemein. Ich glaube trotzdem nicht, dass mir ein Pegasus-Tattoo Kraft geben würde, höher zu springen.“

„Sag das nicht. Der hat Flügel und fliegt dich somit über 5 Meter. Ach, was sag ich, 6 Meter, 7 …“

„Hey!“ Noah knuffte ihn in die Seite und wurde dann wieder ernster. „Ich bin nicht so ein Typ für Tattoos. Aber wenn …“ Er stockte und ließ seine Gedanken wandern. „Dann würde ich wohl etwas nehmen, was zu mir und meinen beiden Leidenschaften passt. Vielleicht die Olympischen Ringe vereint mit dem mathematischen Symbol für die Unendlichkeit.“

„Was an dir bestimmt super aussehen würde“, meinte Nico zwinkernd und senkte seine Stimme noch mehr. „Egal an welcher Körperstelle.“

Noah merkte, wie er errötete, aber bevor er widersprechen konnte, meinte Nico: „Das meine ich ernst! Es würde an dir super aussehen. Aber es steht dir auch sehr gut, wenn du diese Leidenschaften einfach in dir drin trägst. Das ist das Wichtigste.“

Noah hätte ihn am liebsten auf der Stelle geküsst. Doch sie waren schließlich auf der Party vor den Augen aller anderen. Er ließ den Blick über die tanzenden Jungen und Mädchen schweifen. Er sah Nele neben Felix; ihre Hüften und Arme bewegten sich zur Latino-Musik. Auch Nicos Blick folgte Neles Tanzschritten „Du solltest ihr mal kommunizieren, dass du kein Interesse an ihr hast.“

Noah seufzte. „Ja, ich weiß, da muss ich irgendwann durch. Es wäre einfacher, wenn ich geoutet wäre und mit dir in aller Öffentlichkeit …“ Er blickte zu Luisa, die beim Tanzen ihre Arme um Thor geschlungen hatte und ihn küsste. „Ich weiß nicht, ob ich bereit dafür bin. Das ist alles so neu – und es ist so viel passiert in den letzten Tagen.“

Seine Hand fuhr durch den Sand; er ließ die kleinen Körnchen geistesabwesend durch die Finger gleiten. Plötzlich hielt er inne, als er Nicos Hand auf seiner spürte.

„Mach dich nicht verrückt, Noah. Das –“ Nico zog seine Hand sogleich wieder weg, und auch Noah hörte Schritte in der Nähe, so dass sie schnell ein wenig auseinander rückten. Luisa und Thor ließen sich händchenhaltend neben ihnen in den Sand fallen.

Aylin tanzte währenddessen mit einem Mitschüler aus ihrem Jahrgang, dessen Namen Noah nicht kannte. Ein Sprinter, glaubte er. Sie lächelte ihn an und schwang ihre Hüften. Ob das derjenige war, in den sie verliebt war? Noah sah zu Cem hinüber, der Aylin mit den Augen genau verfolgte. So ganz würde er aus der komplexen Beziehung der beiden Geschwister nie schlau werden. Vorhin hatte Aylin noch neben Cem gesessen und mit ihm gelacht; jetzt wirkte er wieder wie ihr Wächter. Wo ging der Beschützerinstinkt in Überwachung über? Aylin mit ihrem Selbstbewusstsein war sicher die letzte Person, die beschützt werden musste, aber womöglich ging Cem gerade deswegen so in dieser Rolle auf und genoss es, sich stark zu fühlen. Aylin hatte einmal erwähnt, dass ihr Bruder eine zurückhaltende und unsichere Seite hatte, die er so gut wie möglich zu verstecken versuchte. Und Noah wusste, dass Aylin und Cem trotz aller Differenzen zueinander hielten.

„Wie kommst du eigentlich mit deinen älteren Brüdern klar?“, fragte er Nico.

„Ooooch“, machte Nico in einer Mischung aus Seufzen und Lächeln. „Jetzt wo wir erwachsen sind, ziemlich gut. Früher gab es oft genug Hauen und Stechen. Als Jüngster wollte ich natürlich genau das, was sie auch hatten. Erst die Pokémon-Karten und das lange Aufbleiben, dann das Handy … Ich erinnere mich, dass Tim, mein ältester Bruder, mir einmal angedroht hat, mich mit seinem Zauberkasten in eine Kröte zu verwandeln. Keine Ahnung, wie alt ich damals war, doch ich habe ihm geglaubt!“

„Echt?“ Noah sah ihn belustigt an. Er wollte mehr über Nico erfahren, alles in sich aufsaugen. Gerade diese Kindheitserinnerungen, die zeigten, dass auch er nicht immer so relaxt und selbstsicher gewesen war.

„Ja, echt!“ Nico lachte ebenfalls. „Aber ich hab gelernt, mich durchzusetzen. Und auch sonst hab ich superviel von den beiden gelernt. Durch ihre Freunde hatte ich Umgang mit Älteren, was ich damals voll cool fand. In Berlin auf dem Kiez unterwegs zu sein, der erste Joint … Einige Erfahrungen, die ich gerne gemacht habe, andere, die vielleicht nicht hätten sein müssen.“

In diesem Moment vibrierte Nicos Telefon. Er warf einen Blick auf den Namen des Anrufers und sein Gesicht wurde ernster. „Sorry, Leute, da muss ich kurz drangehen!“ Er entfernte sich vom Strand und trat in den kleinen Wald, der sich ganz in der Nähe erstreckte.

Noah blickte ihm noch nach, als Luisa ihn anstupste: „Ganz schön busy, dein neuer Mitbewohner. Aber er bringt frischen Wind hier rein. Ich mag ihn.“

„Äh, ja, wir verstehen uns echt gut.“ Noah lächelte. Eigentlich war das doch eine gute Vorlage, um seiner besten Freundin zu eröffnen, wie gut er sich wirklich mit Nico verstand. Während er noch darüber nachdachte, ob er etwas sagen sollte, verstummte plötzlich die Musik. „Mist, ist die Verbindung zu den Boxen wieder abgekackt?!“, entfuhr es Luisa. „Wir haben das doch vorhin beim Aufbauen gecheckt.“ Sie sprang auf und Thor folgte ihr.

Noah leerte seine Bierflasche und schaute dann einige Minuten gelangweilt auf sein Telefon. Er hatte keine Lust sich der wachsenden Gruppe anzuschließen, die gerade versuchte, die Musik wieder ans Laufen zu bekommen. Eigentlich hatte er genug von der Party. Er beschloss, Nico zu suchen.

Einige Minuten lang schlenderte er zwischen den Bäumen des Waldstücks umher, bis er Nico auf einem Baumstamm sitzend telefonieren sah. Als dieser Noah erblickte, sagte er schnell ins Telefon: „Ich halt dich auf dem Laufenden! Bis dann!“

„Wichtiges Telefonat?“

„Ja, meine Cousine“, erklärte Nico und packte das Smartphone in die Hosentasche.

„Deine Cousine?“ Noah war überrascht.

„Ja, wir sind recht close. Der weibliche Einfluss gegenüber meinen älteren Brüdern sozusagen. Jetzt wollte sie wissen, wie es mir nach der ersten Woche hier so geht. Sie wohnt schließlich in Schwerin und kennt die Gegend gut“, erklärte Nico. Dann trat er einen Schritt auf Noah zu und nahm seine Hände. „Und weißt du was, mir geht es gerade sehr gut.“

„Hast du ihr von mir erzählt?“, fragte Noah und zog ihn näher an sich heran.

„Nicht alles“, sagte Nico lächelnd. „Sollte ich?“

„Vielleicht. Das erinnert mich daran, dass ich am Wochenende meine Mutter anrufen sollte. Die will auch wissen, wie es mir geht. Und … ich überlege, ob ich mich erst vor meinen Eltern outen soll und dann vor der Schule. Vielleicht ist das einfacher.“

„Kann sein.“ Nico legte seine Hände in Noahs Nacken. „Du bestimmst selbst über dein Outing, wann und vor wem. Aber wenn du soweit bist, finde ich das natürlich super.“

Ihre Lippen trafen sich und Noah genoss die Wärme und Zärtlichkeit des Kusses. Als Nico sich von ihm löste, meinte er schelmisch: „Allerdings finde ich es noch besser, wenn du nicht das ganze Wochenende mit deinen Eltern telefonierst. Wir könnten auch andere Dinge unternehmen …“

„Das sollte sich einrichten lassen.“ Noah begann, Nico gegen den nächsten Baumstamm zu drücken. Aber gerade als der Kuss inniger wurde, hörte er ein knackendes Geräusch. Was war das? Er fuhr zusammen und trat einen Schritt von Nico weg, der ebenfalls wie erstarrt dreinblickte.

Sie lauschten. In der Ferne war wieder die Latino-Musik zu hören, aber Noah hatte den Eindruck, irgendwo in der Nähe knackende Äste ausmachen zu können. War das ein Tier oder schlich hier jemand rum? Oder täuschte er sich und es war nur der Wind gewesen?

„Lass uns zurück zur Party gehen“, schlug Nico schließlich vor. Mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu: „Oder lieber gleich zur privaten Party auf unserem Zimmer?“