34. Kapitel: Ohne Wecker

Samstag, 20. August 2022, 08:23 Uhr

Mit einem Ruck wachte Noah auf. Etwas desorientiert öffnete er die Augen. Wie spät war es? Würde gleich der Refrain von Whatever it Takes ertönen oder hatte er noch ein paar Minuten?

Erst dann wurde ihm bewusst, dass es Samstag war und kein Wecker klingeln würde. Was für ein Gefühl! Glücklich kuschelte er sich wieder in seine Bettdecke. Sogleich kam die Erinnerung an den Abend zuvor zurück, und ein seliges Lächeln überzog sein ganzes Gesicht. Er dachte an die Party – also die Party, die Nico und er zu zweit auf dem Zimmer gefeiert hatten. Er dachte daran, wie sie sich gegenseitig mit Händen, Lippen und ganz viel Körperkontakt erforscht hatten. Erst langsam und dann immer begieriger. Noah konnte Nicos Küsse auf seiner Haut förmlich spüren und merkte, wie die Erregung schon beim Gedanken daran zurückkam. Ebenso hatte er es genossen, Nicos Körper besser kennen zu lernen. Seine anfängliche Unsicherheit hatte sich gelegt, als er gespürt hatte, welche lustvollen Reaktionen er Nico entlocken konnte, indem er an seinen Brustwarzen saugte und dann sein Glied in die Hand oder in den Mund nahm. Es gab noch so vieles zu entdecken, so viel Neues zu erleben, und Noah konnte es kaum erwarten. Sie hatten das ganze Wochenende Zeit dafür!

Sein Gesicht strahlte vor Vorfreude beim Gedanken daran; andererseits war da wieder die Unsicherheit. Wie weit wollte er wirklich gehen auf diesem für ihn neuen Terrain? Ab wann gab es keinen Weg zurück mehr – doch wollte er überhaupt wieder zurück?

Erst mal aufstehen und mit dem Training den Tag beginnen, entschied Noah und erhob sich. Er blickte auf sein Handy: Halb neun. Zeitlich stand es ihnen an diesem Tag frei, wann sie ins Trainings-Center gingen, doch Noah wollte seine morgendliche Routine nicht zu sehr aus dem Ruder laufen lassen.

Als er an Nico vorbei ins Bad lief, schlug dieser die Augen auf und lächelte ihn an. Noah beugte sich zu ihm herunter, um ihm einen schnellen Kuss auf die Lippen zu geben, woraufhin Nico mit morgendlich rauer Stimme fragte: „Kommst du zu mir ins Bett?“

„Nachher gerne“, zwinkerte Noah ihm zu. „Nachdem ich mit dem Crosstrainer und der Hantelbank fertig bin.“

Nico stöhnte. „Schon verstanden. Ich steh gleich auf und komme nach.“

Kaum war Noah in Trainingskleidung aus dem Haupteingang des Internats getreten, kam Aylin auf ihn zugestürmt. Ihre langen schwarzen Haare flogen im leichten Wind und ihre Augen leuchteten aufgeregt. Im Hintergrund hörte er noch ein davonfahrendes Auto.

„Noah, du wirst es nicht glauben!“ Ihre Stimme klang empört und fassungslos.

„Moin Aylin. Was ist denn los?“

„Amelie sagt, sie hat sich geirrt! Sie war vorhin bei der Schulleitung und hat ihre Anschuldigung gegen Johannes zurückgezogen. Jetzt ist sie von ihren Eltern abgeholt worden; die sind gerade aus Australien zurück. Sie sagt, es tut ihr alles total leid und sie würde mir das später in Ruhe erklären. Aber was ist das für eine Story! Geirrt! Man irrt sich doch nicht über sexuelle Belästigung!“ Die Worte sprudelten nur so aus Aylin hervor.

Noah spürte die Erleichterung darüber, dass Amelie gehandelt hatte. Dennoch versuchte er, sich Aylin gegenüber nicht zu viel anmerken zu lassen. „Das ist ja … unglaublich“, stimmte er ihr zu. „Hat sie gesagt, warum sie sich geirrt hat? Wollte sie Johannes absichtlich schaden? Oder hat irgendjemand sie unter Druck gesetzt?“

„Das ist es ja, was ich nicht verstehe“, sagte Aylin. „Du hast doch gestern Nachmittag mit ihr geredet. Kannst du dir vorstellen, warum sie das getan hat?“

Noahs Erleichterung wich sogleich einem Anflug von Ernüchterung. Also hatte Amelie J.J. noch nicht belastet, und vom Doping war weiterhin nichts bekannt. Womöglich würde sie das erstmal mit ihren Eltern und einem Anwalt besprechen. Bis sie komplett auspackte, sollte er sein Versprechen halten und nichts sagen. Oder?

„Also, so richtig verstehe ich die Zusammenhänge auch nicht“, brachte Noah hervor, was zu einem großen Teil der Wahrheit entsprach. „Da müssen wir wohl abwarten, bis Amelie alles in Ruhe erzählt. Aber so fertig wie sie zuletzt war, werden ihr die Tage bei ihren Eltern guttun.“

„Hmmm“, machte Aylin und legte die Stirn in Falten. Ihre Neugier war noch nicht gestillt. „Kommst du gleich mit zum Training?“

Da wollte Noah zwar hin, doch er musste Aylins Fragen entkommen. Außerdem hatte er das dringende Bedürfnis, mit Nico zu reden. „Geh schon mal vor“, rief er Aylin zu und drehte sich um. „Ich muss nochmal nach oben und meine Wasserflasche holen.“

Nico war gerade aufgestanden und hatte seinen Laptop aufgeklappt. „Schon fertig? Das war aber ein schnelles Training heute!“ Überraschung war in seinen blauen Augen zu lesen, als er sich zu Noah drehte. Noah erzählte kurz, was Aylin ihm berichtet hatte. Nico nickte und stimmte zu, über das Doping noch Stillschweigen zu bewahren.

„Aber Anfang kommender Woche sollten wir schon zur Polizei gehen, von unserem Verdacht wegen Julius‘ Tod erzählen und der Vermutung, dass J.J. etwas damit zu tun hat“, meinte Noah. Er machte eine Pause, ordnete seine Gedanken. „Ich überlege, ob wir bis dahin noch was tun können.“

Nico stand auf und ging zu ihm. „Wir sollten uns in dieser Sache schon sicher sein, bevor wir zur Polizei gehen. Wenn Julius aussteigen wollte, hatte J.J. ein Motiv. Aber hatte er überhaupt die Gelegenheit dazu? Ist er Julius von Hamburg aus zum Internat nachgefahren? Zu blöd, dass er jetzt übers Wochenende verschwunden ist.“

„Vielleicht wissen die anderen Läufer noch etwas“, überlegte Noah. „Wir könnten Cem und Malte fragen, ob sie Julius – oder J.J. – nach dem Abschlusstraining noch gesehen haben.“ Er blickte auf seine Uhr. „Wenn wir Glück haben, treffen wir sie gleich im Trainings-Center.“

Nico stimmte zu. „Probieren wir es aus. Ich nehme Malte, du Cem, einverstanden?“

***

Als Noah das Trainings-Center erreichte, konnte er Cem nicht entdecken, doch irgendwann erschien dieser und stieg aufs Laufband. Noah behielt ihn im Auge und hoffte nach dem Training auf eine Gelegenheit, ihn alleine anzusprechen. Er war froh, dass Nico währenddessen Malte übernehmen wollte. Cem war ihm im Vergleich dazu lieber. Er wusste, wie gerne Aylins Bruder den großen Macker markierte, aber eigentlich sehnte er sich wohl vor allem nach Anerkennung, ob von seinen Eltern oder von Malte. Schließlich stand Cem trotz guter Laufleistungen meistens im Schatten sowohl von Daniel Wagenknecht als auch von Malte, der ihm dazu oft genug den Reichtum seiner Eltern unter die Nase rieb.

Als Cem seine Dehnübungen machte, hängte Noah noch weitere Sit-ups an sein Trainingsprogramm, um gleichzeitig mit ihm fertig zu werden. Da! Cem wischte sich den Schweiß von der Stirn, griff nach seiner Wasserflasche und verließ das Trainings-Center.

Noah ging ihm nach und bemühte sich, entspannt zu wirken. „Moin Cem!“, rief er. „Wie läuft‘s bei euch im Lauf-Team?“

„Noah! Ey, was meinst du?“ Cem blieb stehen und kniff die dunklen Augen zusammen.

„Die Sache mit Julius ist bei euch bestimmt noch ein Thema. Er war ja mein Mitbewohner und ich denke ständig daran, was er für Probleme hatte, von denen er mir nichts erzählt hat.“ Noah versuchte es wieder über die persönliche Schiene. Vielleicht konnte er über Julius das Thema zu J.J. und dem Abend vor seinem Tod lenken.

„Ist schon krass mit Julius. Dass er mit dem Druck nicht klar gekommen ist und das getan hat. Es sagen alle, er hat sich wieder geritzt“, meinte Cem und ging langsam weiter.

„Hat er dir als Teamkollege vielleicht mal erzählt, was ihn genau belastet hat?“, bohrte Noah nach.

„Ey, nee, so dicke waren wir nicht. Leistungsdruck halt, denk ich. Was interessiert dich das eigentlich so?“

„Ich möchte gerne wissen, warum das für Julius so schlimm war. Schließlich bestimmt der Erfolgsdruck unser aller Leben. Und wenn man unter großem Druck steht, ist man womöglich versucht … nachzuhelfen.“

„Nachzuhelfen? Wie meinst du das?“ In Cems Gesicht war die Überraschung abzulesen.

Noah haderte kurz mit sich, konnte aber dann der Versuchung nicht widerstehen. Natürlich würde er Amelie raushalten, aber er war auf Cems Reaktion gespannt. So senkte Noah seine Stimme ein wenig und sagte: „Zum Beispiel mit Tabletten, Spritzen oder Tropfen. Könntest du dir vorstellen, dass Julius gedopt war?“

„Doping? Was laberst du da?“ Cems Gesicht wirkte erstarrt. „Das … das kann ich mir nicht vorstellen. Das wird doch getestet, das wär doch aufgefallen.“

„Ja, das stimmt natürlich“, räumte Noah schnell ein.

Cem sah sich um, so als wollte er sicher sein, dass sie niemand belauschte: „Wie kommst du überhaupt auf so was? Es geht hier um uns und unser Internat! Alter, da solltest du verdammt aufpassen, was du für Gerüchte in die Welt setzt. Am Ende glaubt das noch jemand.“

Noah zuckte zusammen und bemühte sich, zurückzurudern: „Du hast recht, das war nur eine spontane Überlegung wegen des Leistungsdrucks. Hast du vielleicht mitbekommen, ob J.J. Julius am Freitag vor den Meisterschaften besonders unter Druck gesetzt hat?“

Cem schien nachzudenken. Es dauerte einen Moment, bevor er antwortete: „Kann schon sein. Wir hatten Abschlusstraining und dann die Einzelgespräche mit J.J. Jetzt, wo du es sagst … Ey, das kann schon sein. Ich glaub, da sind ein paar harte Worte gefallen zwischen J.J. und Julius.“

Noah hörte interessiert zu. „Kannst du dich an Details erinnern?“

„Nee, war zu weit weg, hab ein bisschen gechillt mit Malte. So lange, bis wir dran waren.“

„Hast du Julius später an dem Abend nochmal gesehen? Irgendwann muss er ja zurück ins Internat gefahren sein. Oder hast du J.J. gesehen?“, fragte Noah.

Cem schüttelte den Kopf. Er beugte sich nach unten, um den Schnürsenkel seiner Sneakers neu zu knoten. „Nee. Weder Julius noch J.J. Den Rest des Abends bin ich mit Malte um die Häuser gezogen. Wir wollten feiern. Ey, Hamburg ist ne geile Stadt!“

Noah lächelte kurz. „Das ist meine Heimatstadt, ich weiß. Wo wart ihr denn so?“

„Vor allem in dem Irish Pub da schräg gegenüber vom Hotel. Erst war es voll gechillt, aber dann sind so’n paar Assis aufgekreuzt und haben uns blöd angemacht. Irgendwelche Nazis.“

„Nazis?“ Noah zog die Stirn in Falten. „Und dann habt ihr euch mit denen gekloppt? Malte und du?“

„Ey, wir wollten, dass die uns in Ruhe lassen, aber die Ärsche haben nicht locker gelassen. Da mussten wir uns verteidigen. Draußen vor dem Pub. Malte hat ein bisschen was einstecken müssen, ich auch ein paar Kratzer. Aber glaub mir, die Nazis sahen anschließend schlimmer aus!“ Jetzt legte sich ein stolzes Lächeln über Cems Gesicht.

Noah merkte, wie er erschauderte. Was da für Worte und Faustschläge genau gefallen waren, wollte er gar nicht wissen, und es war auch nicht seine Sache. Ein Gedanke kam ihm allerdings noch: „Sag mal, war Johannes zufällig auch in eure Schlägerei im Irish Pub verwickelt?“

Cem sah ihn erstaunt an. „Johannes, der Physio? Nee. Wie kommste denn da drauf?“

Zum Glück klingelte in dem Moment Cems Handy und ein seufzendes „Mein Schwesterchen“, entfuhr seinem Mund. Noah nutze die Gelegenheit, um sich schnell zu verabschieden.

Auf dem Weg zurück ins Zimmer überlegte er, ob er an der Stelle ansetzen konnte. Was hatte Johannes an dem Abend das blaue Auge eingebracht? Hatte das womöglich etwas damit zu tun, dass J.J. so sauer auf ihn war? Die Kontaktdaten der Physios waren doch für alle im Internat verfügbar und Johannes sollte noch auf der Liste stehen …

Noah duschte und kam gerade aus dem Bad, als Nico in durchgeschwitzter Sportkleidung in der Tür stand. „Du hast schon geduscht!“, rief dieser gespielt empört aus. „Hättest du mal auf mich gewartet …“ Er beugte sich vor und gab Noah einen Kuss auf die Lippen.

„Ich wollte bereit sein, um mich gleich wieder neben dich ins Bett zu legen. Wie vorhin versprochen“, grinste Noah. Ein Kribbeln ging durch seinen ganzen Körper, als Nico ihm durch die nassen Haare fuhr.

Da surrte Noahs Handy. „Ist das wieder deine Mutter?“, fragte Nico belustigt.

Noah blickte kurz drauf und las die Nachricht. „Nein, das ist Johannes. Ich habe ihn vorhin angeschrieben. Wir können morgen bei ihm in Schwerin vorbeikommen. Womöglich erfahren wir dann mehr über die Zusammenhänge mit J.J. und warum dieser Amelie gegen ihn eingesetzt hat.“

„Gute Idee“, meinte Nico anerkennend.

Noah berichtete noch kurz, was Cem erzählt hatte. „Hast du aus Malte was rausgekriegt?“, fragte er.

„Malte ist dieses Wochenende bei seinen Eltern auf dem Landsitz. Das ist alles, was ich rausgekriegt habe.“ Nico betonte dabei das Wort Landsitz . Er blickte erst ein bisschen betrübt drein, aber dann fuhr wieder ein Lächeln über sein Gesicht. „Wenn der sich ein schönes Wochenende macht, sollten wir das auch. Bis wir morgen mit Johannes reden, können wir uns anderen Dingen widmen …“ Er zog Noah an sich.

Noah legte seine Arme um ihn und sog seinen Duft ein. Der Schweiß nach dem Training, der sich mit Nicos typischem Geruch vermischt hatte, wirkte betörend. Noah wusste nicht, ob er wollte, dass Nico überhaupt erst duschte, bevor er sich an ihn presste. Er küsste ihn und schob dann seine Hände unter sein Trainings-Trikot.