Samstag, 20. August 2022, 11:17 Uhr
Wenig später lagen sie nebeneinander auf Nicos Bett. Noah kuschelte sich an ihn und strich ihm eine der blonden Haarsträhnen aus der Stirn. Hätte er sich noch vor einer Woche vorstellen können, dass er einmal den Samstagvormittag so verbringen würde? Küssend und knutschend mit seinem … Freund? War das das richtige Wort?
Der Gedanke löste eine innere Wärme aus; gleichzeitig meldete sich eine unterschwellige Unsicherheit. Wollte Nico mit ihm zusammen sein? Wollte Noah das überhaupt selbst?
„Worüber denkst du nach?“ Nico drehte ihm den Kopf zu und blickte ihn aus seinen blauen Augen an. „Hast du wieder ein schwieriges mathematisches Problem zu lösen?“
Noah lächelte. „Nein, im Moment denke ich tatsächlich nicht an mathematische Gleichungen. Die Mathematik hat ihre Ästhetik, aber es gibt noch andere schöne Dinge im Leben. Von mir aus könnten wir … könnten wir das gerne regelmäßig machen. Das ganze Schuljahr lang.“
„Das wünsche ich mir auch“, sagte Nico leise. Noah stockte einen Moment. Es kam ihm vor, als habe da ein gewisser Zweifel in der Stimme seines Mitbewohners mitgeschwungen. Vielleicht bezweifelte Nico, ob er selbst wirklich dazu bereit war. Das war durchaus ein berechtigter Punkt. Doch als Nico ihn daraufhin küsste, verschwand Noahs Skepsis. Ja, es war ihm definitiv ernst mit Nico und er hoffte, dass es Nico ebenfalls so ging.
„Aber sollten wir bei dem geilen Wetter wirklich den ganzen Tag hier auf dem Zimmer verbringen?“, meinte Nico irgendwann mit Blick zum Fenster, durch das der strahlend blaue Himmel zu sehen war. „Wir schuften schon unter der Woche gefühlt nur im Klassenraum und Trainings-Center. Wie wäre es mit ein bisschen chillen in der Sonne?“
Noah setzte sich auf. „Klingt gut, sofern wir einen Platz finden, wo es nicht so viele Leute gibt.“
„Du bist hier in der Gegend der Experte.“
„Also, der Schweriner See ist über 60 Quadratkilometer groß, der Viertgrößte in Deutschland. Platz gibt’s da genug“, meinte Noah und hatte sogleich eine Idee. „Sollen wir uns ein Tretboot mieten und rausfahren?“
„Tretboot? Wie auf dem Berliner Wannsee?“ Nico sah ihn mit großen Augen an.
„Wie auf der Hamburger Außenalster. Wobei es da mittlerweile mehr Stand-Up Paddler gibt. Stand-Up Paddling ist übrigens sehr gut für den Gleichgewichtssinn, sagen die Fitnesstrainer. Aber ich denke, Tretboot zu zweit ist vielleicht …“ Er zögerte. „… romantischer.“ Er wurde rot, kaum, dass er das Wort ausgesprochen hatte.
„Du bist süß“, sagte Nico grinsend. Er strahlte über das ganze Gesicht. „Und ohne ein bisschen Romantik wäre das Leben verdammt eintönig.“ Nun musste auch Noah lächeln.
So standen sie auf und begannen ein paar Sachen für die Tretbootfahrt zusammenzupacken: Sonnenbrillen, Sonnen-creme, Proviant, Handys, Kopfhörer … „Sag bloß, du nimmst dein Mathebuch nicht mit?“, rief Nico neckend. „Das bleibt heute hier“, antwortete Noah bestimmt.
Eine halbe Stunde später hatte Noah sie zum Tretbootverleih ein wenig entfernt vom Internat geführt. Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel und ließ die kleinen Wogen des Sees glänzen. An der Bootsanlegestelle war noch eine Familie vor ihnen, die sich ebenfalls ein Tretboot auslieh. Zudem entdeckten sie ein paar Stand-Up Paddler, doch auf der großen Fläche des Sees würden sich alle gut verteilen.
Nico machte ihr grünes Tretboot los und stieg hinein. Es schaukelte, als Noah sich neben ihn setze, fast so wie die Schmetterlinge in seinem Bauch herumwirbelten. Los ging’s! Schnell fanden sie einen Rhythmus, in dem sie ohne große Anstrengung vorankamen. So konnte Noah sowohl die Umgebung genießen als auch Nicos Nähe. Der sah wieder umwerfend gut aus, fand Noah, wie er da saß mit seiner Sonnenbrille, dem schwarzen T-Shirt und den Shorts, weiße Reste der Sonnencreme auf der linken Wange, eine Hand am Bootsrand, die andere auf Noahs.
„Ist das ein Kormoran?“, fragte Noah und deutete auf einen dunklen Vogel mit spitzem Schnabel, der vor ihnen durch die Lüfte kreiste.
„Keine Ahnung. Bist du hier nicht derjenige, der die 15 Punkte in Bio hat?“ Nico schob seine Sonnenbrille hoch und zwinkerte ihm zu.
„Haha. Zum Glück geht es in Bio nicht schwerpunktmäßig um Wasservögel“, sagte Noah. „Und ich weiß, was ich alles nicht weiß … Lass uns da drüben entlangfahren, da kommen wir an der Insel vorbei.“
Nachdem sie die Richtung des Bootes angepasst hatten, kam Noah zurück zu seinem vorherigen Gedanken: „Ich finde sowieso, man muss ehrlich sein. Was man weiß und was man kann. Deshalb trifft mich die Sache mit dem Doping hier im Internat so. Es ist einfach Betrug. So verdammt unehrlich! Man trichtert uns Tag für Tag den Wert von harter Arbeit ein. Hartes Training, Selbstüberwindung, alles aus sich selbst rausholen. Da widerspricht es allen moralischen Ansprüchen, wenn jemand auf so unehrliche Weise nachhilft.“ Noah spürte das Bedürfnis, seine Gedanken zum Thema auszudrücken, auch wenn dadurch die Wut auf J.J. zurückkam.
„Ich finde es vor allem ungerecht“, erwiderte Nico. „Wer dopt, verschafft sich einen unfairen Vorteil gegenüber allen, die das nicht tun. Vermutlich haben die bevorstehenden Meisterschaften Julius dazu gebracht, dass er aussteigen wollte. Die Regeln gegen Doping sollen schließlich Gerechtigkeit sicherstellen, gleiche Voraussetzungen für alle.“
„Wobei gleiche Voraussetzungen für alle sowieso nie gelten“, entgegnete Noah.
„Wie meinst du das?“ Nico sah ihn interessiert an.
„Naja, jeder von uns bringt andere Talente und körperliche Voraussetzungen mit. Ich habe von Natur aus ein stärkeres mathematisches Verständnis als die meisten und auch einen passenden Körperbau für Stabhochsprung. Jemand mit langen Beinen hat im Weitsprung automatisch Vorteile; von Natur aus haben manche auch einen höheren Testosteronspiegel als andere. Das ist einfach so. Wenn man ganz ehrlich ist, dann ist es total ungerecht, dass alle gegeneinander antreten. Es gibt zwar unterschiedliche Wettkämpfe zwischen Männern und Frauen, doch wo passen Transgender und intersexuelle Athleten rein? Ist es gerecht, die Kugelstoßweite zweier Menschen zu vergleichen, wenn der eine von Natur aus stämmig und der andere zierlich ist?“
„Aber Noah, genau das sind die Regeln unseres Sportsystems. Sie sind sicher nicht perfekt und ich verstehe, was du meinst … Hast du denn eine Alternative?“, fragte Nico.
„Ich meine nur, dass das mit der Gerechtigkeit ohnehin nicht so gegeben ist, wie oft behauptet wird“, gab Noah zu. „In einer perfekten Welt sollte sich jeder Sportler nur an sich selbst und dem eigenen Potential messen. Gar nicht an den Mitbewerbern. Ich versuche das in gewisser Weise. Ich bin dann mit mir zufrieden, wenn ich gut springe und mich steigere. Wer noch alles im Wettbewerb mitspringt und wie gut derjenige springt, darüber habe ich sowieso keine Kontrolle. Aber trotzdem schauen am Ende alle wieder nur auf das relative Abschneiden im Vergleich zu den anderen. Die Karriere wird an den Medaillen gemessen. Wirklich gerecht wäre es nur, wenn derjenige Gold bekommt, der sich in Bezug auf seine individuellen Möglichkeiten am besten entwickelt hat.“
„Du bist ein Idealist, Noah Bergmann.“
„Ich weiß, ich weiß, sowas lässt sich nicht umsetzen.“ Noah winkte ab und musste über seine utopischen Ideen lachen. „Dennoch finde es total wichtig, dass man sich darüber klar wird. Mit der Gerechtigkeit im Sport ist es eben nicht so weit her, wie oft behauptet wird. Es gibt so viele Dinge, die vom Glück abhängen und total ungerecht sind. Mir ist deshalb Ehrlichkeit wichtiger als Gerechtigkeit.“
„Hmmm, ich sehe das ein bisschen anders“, meinte Nico. Er schien nachzudenken und seine Worte genau zu wählen, bevor er sagte: „Natürlich hängt im Sport – wie auch im Leben allgemein – einiges von Glück und Zufall ab. Und ja, es passieren ungerechte Dinge. Aber gerade deshalb muss man sich für die Gerechtigkeit einsetzen. Sicherstellen, dass sich alle an die bestehenden Regeln halten und diese weiter verbessern. Nichts ist perfekt, aber wenn man die Welt ein bisschen besser und gerechter machen kann, sollte man das tun.“
„Und du nennst mich einen Idealisten? Du bist genauso einer!“
„Sind wir eben beide Idealisten“, meinte Nico und grinste. „Hey, man braucht doch Ideale, Träume, Ziele … Wer, wenn nicht unsere Generation? Wir können das machen, was wir wollen. Die Wege gehen, die wir uns aussuchen.“
Noah nickte langsam und strich über Nicos Hand. Er lehnte sich zurück und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Dann sah er auf die kleinen Wellen, die sich im Fahrwasser ihres Bootes bildeten. Es stimmte, sie waren jung und hatten das ganze Leben vor sich. Und wenn es nach ihm ging, könnte es viele Tage wie diesen geben, mit dem Tretboot auf dem See. Mit Nico zusammen. Aber leider bestand das Leben nicht nur aus Tretbootfahrten, sondern umfasste auch schwierige Entscheidungen darüber, was man eigentlich wollte.
Nach einer Weile drehte sich Nico ihm zu. Als könne er seine Gedanken lesen, sagte er: „By the way, wenn du so idealistisch und enthusiastisch über Mathe und Stabhochsprung bist, solltest du auch nicht auf eins von beiden verzichten. Du sagst, es belastet dich total, dass du dich entscheiden musst. Dann tu’s doch einfach nicht. Beziehungsweise entscheide dich bewusst für beides.“
Noah sah ihn überrascht an. „Das würde ich ja gerne. Aber … das wäre sicher nicht leicht umzusetzen …“
„Noah, seit wann machst du das was leicht ist?“ Nicos Blick war dabei so ernst, dass Noah grinsen musste. „Natürlich wäre es nicht leicht, Stabhochsprung auf Profi-Niveau zu betreiben und gleichzeitig ein Mathestudium durchzuziehen. Natürlich geht nicht in Vollzeit und nicht mit all den tollen Forschungsgruppen und Lehrstuhljobs, die dir der Wozniak in Aussicht gestellt hat. Da musst du schon Kompromisse machen und Vorlesungen sausen lassen, wenn du grad für L.A. 2028 trainierst. Aber dann dauert es eben länger mit dem Studium. So what? Du hast die Disziplin und die Begeisterung dafür. Ich habe noch nie jemanden erlebt, der so zielstrebig und schlau und sexy und …“
„Hey!“ unterbrach Noah ihn und wurde rot. „Letzteres hilft mir nicht unbedingt, wenn es um meine Zukunftspläne geht.“
„Sexy zu sein hilft immer“, flüsterte Nico und beugte sich zu ihm rüber, um ihn auf die Wange zu küssen. „Außerdem könnte ich die Aufzählung noch lange fortsetzen. Zum Beispiel mit süß. Wenn du rot wirst, bist du besonders süß.“
Jetzt musste Noah doch lächeln. Nico sprach weiter: „Zurück zum Thema. Es heißt doch immer, live your dreams. Und wenn es dein Traum ist, beides zu machen, Stabhochsprung und Mathe, dann gib alles dafür, dass es irgendwie klappt!“
Ein Energieschub strömte durch Noah. „So hat mir das noch niemand gesagt“, gab er langsam zu.
„Hast du denn schon mit vielen Leuten offen über dein Entscheidungsproblem geredet und darüber, was du wirklich willst?“
Noah zögerte und schüttelte dann den Kopf. „Siehste mal“, meinte Nico grinsend. „Ist doch nicht so schlecht, dass ich ins Internat gewechselt bin. Und ist auch nicht schlecht, wenn man sich mal traut, sich jemandem zu öffnen.“
Als Antwort nahm Noah die Hand seines Freundes und drückte sie ganz fest.
„Apropos, ich –“, begann Nico nach einer kurzen Pause.
„Aaah, was war das?!“ Noah zuckte zusammen, als das Boot plötzlich einen Ruck machte. Mehrere große langgezogene Fische glitten nahe unter der Wasseroberfläche vorbei.
„Ein Fischschwarm direkt unter uns?“, fragte Nico mit erstauntem Gesicht.
„Naja, es soll hier Hechte, Barsche und noch einiges mehr an Fischen geben. Aber normalerweise halten sie einen Sicherheitsabstand ein... Die sollten lieber nicht unter die Räder kommen“, meinte Noah. „Lass uns mal wenden.“
Er spürte, wie Nico ihn noch immer ansah und hatte das Gefühl, die Augen fixierten ihn durch seine Sonnenbrille. „Was ist?“, fragte Noah.
Nico lächelte wieder. „Du bekommst einen Sonnenbrand. Wir sollten uns mal nachcremen. Und ich hätte gleich Lust auf ein bisschen Musik hören. Nicht mehr treten, sondern uns einfach treiben lassen.“
Genau das machten sie. Sie ließen sich auf den leichten Wellen des Sees treiben, teilten Limo, Erdnüsse und Obst, genossen die Sonnenstrahlen und hörten Musik. Neben den Imagine Dragons und den Red Hot Chili Peppers waren auch ein paar Sommerhits der letzten Jahre dabei, die einfach zur entspannten Stimmung passten. Nico sang den Refrain von Watermelon Sugar High , während Noah sich eine Weintraube aus der Plastikbox in den Mund schob und den leichten Wind in seinem Haar spürte. Die ganze Welt war in diesem Moment perfekt. Wie war es möglich, so glücklich zu sein?
Sie blieben bis zum frühen Abend auf dem See. Die Sonne warf schon lange Schatten, als Noah wieder auf den Bootssteg kletterte, während Nico das Tretboot vertäute. Als er fertig war, legte er seine Hände um Noah. „Danke für den schönen Ausflug“, flüsterte er und küsste ihn sanft. Noah erwiderte den Kuss mit tausend Schmetterlingen im Bauch. Er legte eine Hand in Nicos Nacken und zog ihn näher an sich.
Als sie sich nach dem Kuss umdrehten, um in Richtung Internat zu laufen, hörte Noah ein Räuspern und eine wohlbekannte Stimme in triumphierendem Ton: „Hab ich’s mir doch gedacht!“