36. Kapitel: Lautsprecherdurchsage

Samstag, 20. August 2022, 17:04 Uhr

Wie erstarrt blickte Noah Luisa an, die mit amüsiertem Gesichtsausdruck ein paar Meter vor ihnen auf dem Bootssteg stand. Dann löste er sich instinktiv von Nico und trat einen Schritt zur Seite.

„Hi ihr beiden Turteltäubchen! Ihr müsst keinen Schreck kriegen“, sagte sie lächelnd.

Nico ergriff wieder Noahs Hand und antwortete: „Hallo Luisa!“ Der Händedruck von Nico tat gut, auch wenn Noah noch kein Wort rausbekam.

„Wart ihr mit dem Tretboot unterwegs? Thor hat mich losgeschickt, damit ich nachschaue, wie lange der Verleih geöffnet hat. Wie es scheint, könnt ihr mir auch was über romantische Tretboot-Dates erzählen …“ Sie strich sich grinsend eine Haarsträhne hinters Ohr.

„Äh, ja“, begann Noah. Er musste knallrot im Gesicht sein. Warum war das bloß so schwierig? Luisa war seine beste Freundin und sie schien nicht gerade ein Problem damit zu haben, die beiden küssend gesehen zu haben. „Es stimmt. Wir sind zusammen. Und, äh, Tretbootfahren ist toll!“

„Das ist wunderbar, ich freue mich für euch!“ Sie umarmte erst Noah überschwänglich und dann Nico. Die Erleichterung breitete sich sogleich in ihm aus. Ja, nun gab es jemanden in der Schule, der von ihrer Liebe wusste, was sie einerseits verletzlich machte. Doch es war auch schön, ihr Glück mit Luisa zu teilen.

Nico lächelte ebenfalls. Mit einen Blick auf Luisa sagte er zu Noah: „Ich … äh gehe schon mal vor. Dann könnt ihr zusammen nachschauen, wie lange der Bootsverleih geöffnet hat.“ Er drückte Noah einen schnellen Kuss auf den Mund und verschwand.

Noah sah ihm nach und verspürte eine gewisse Dankbarkeit. Er wusste, dass er mit seiner besten Freundin allein reden musste.

„Komm, wir setzen uns an den See“, sagte sie, zog ihre Riemchensandalen aus und ließ ihre Füße ins Wasser baumeln. Noah setzte sich neben sie.

Er wusste nicht, wie er anfangen sollte und war erleichtert, dass sie diesen Part übernahm. „Erinnerst du dich noch, wie wir am letzten Sonntag auch am See saßen und ich meinte, du solltest mal mit jemandem zusammen sein? Da hast du schnell gesagt, nee, geht nicht, doch nicht im Abi-Jahrgang mit dem ganzen Druck.“ Noah schaute nach vorne auf die kleinen Wellenbewegungen, mit denen das Wasser an den Steg platschte. Er musste schlucken. Luisa hatte recht. Seine Einstellung zu dem Thema hatte sich zum 180 Grad gedreht. Dennoch kam in diesem Moment die Unsicherheit, ob er alles schaffen würde, wieder hoch. Er spürte, wie Luisa ihn von der Seite anblickte: „Und nun hast du wohl doch auf meinen Rat gehört. Hey, auch du kannst deine Ansichten ändern und deine Komfortzone verlassen! Ich finde es super, dass du euch beiden eine Chance gibst.“

„Danke“, sagte Noah und richtete seinen Blick auf Luisa. Er merkte, wie sich seine Unsicherheit wieder zurückzog. Wie machte Luisa das bloß mit ihrer positiven Einstellung und ihrer großzügigen Art?

„Luisa, es … tut mir leid, dass ich dir bis jetzt noch nichts von Nico und mir gesagt habe. Das ist alles noch so … frisch.“

„Das kann ich mir vorstellen.“ Sie grinste. „Ja, das Kennenlernen der ersten Tage, das Kribbeln, wenn alles neu ist … Und was weißt du was, Noah? Verliebt sein steht dir voll gut!“

Noah strahlte. Er spürte, dass sie es ehrlich meinte und ihm nicht bloß schmeicheln wollte. In all dem Chaos der letzten Tage war Nico derjenige, der ihn erdete, der ihm Kraft und Entspannung gab und dabei all seine Gefühle erwiderte. Auf geistiger und körperlicher Ebene. Es war gut möglich, dass man Noah das ansehen konnte.

„Ich fand die Blicke, die ihr euch die letzten Tage zugeworfen habt, schon recht vielsagend. Und, naja, seit der Party gestern Abend war ich mir dann relativ sicher, dass da was zwischen euch läuft!“ Diese Aussage überraschte und beunruhigte Noah ein wenig. Ein kleiner Kloß formte sich in seinem Magen. Waren Nico und er so offensichtlich gewesen?

„Thor meinte, ich sehe Gespenster. Aber offensichtlich habe ich recht behalten. Das heißt, er muss das nächste Kino-Date bezahlen, yeah!“ Ihr triumphierendes Lächeln war wieder da.

„Meinst du, es hat noch jemand anderes mitbekommen?“, fragte Noah zögernd.

„Glaub nicht. Vielleicht kenne ich dich einfach zu gut.“ Sie planschte mit den Füßen im Wasser.

Dann wurde ihr Tonfall wieder ernster, und sie wirkte etwas verletzt. „Du hättest mir allerdings ruhig verraten können, dass du auf Jungs und nicht auf Mädels stehst. Ich hab bei dir nie gewusst wie du tickst, also ob du generell keine Lust auf eine Beziehung hattest oder einfach noch auf den richtigen Menschen warten wolltest. Aber wenn ich gewusst hätte, dass du auf Jungs abfährst … Mensch, dann hätte ich doch niemals Nele in ihren Annäherungsversuchen unterstützt.“

„Das mit Nele ist blöd gelaufen. Ich wollte nur nett zu ihr sein, aber sie scheint sich ernste Hoffnungen zu machen“, gab Noah mit einem Stich im Magen zu.

„Jetzt nicht mehr. Ich glaube, selbst ihr ist mittlerweile bewusst geworden, dass du kein Interesse an ihr hast. Auf der Party gestern hat sie sich dafür ausnehmend gut mit Felix verstanden.“ Luisa grinste. „Aber da wart Nico und du ja schon abgezischt.“

Noah lächelte erleichtert. Er musste allerdings noch etwas loswerden. „Luisa“, begann er und blickte nach unten auf die Hände in seinem Schoß. „Es tut mir nicht nur wegen Nele leid, sondern auch wegen dir. Dass ich dir nicht gesagt habe, dass ich schwul bin … Das war … Das war lange Zeit einfach nicht relevant. Ich war wirklich nicht an einer Beziehung interessiert, mit niemandem. Ich dachte, vielleicht irgendwann später mal, wenn ich jemanden kennenlerne und wenn es Realität wird.“

„Ich denke schon, dass es relevant ist. Das ist doch ein Teil von dir“, erwiderte Luisa. „Aber ich verstehe voll, was du meinst, dass du es erstmal erleben wolltest. Erstmal einen heißen Typ küssen, bevor du verkündest, dass du auf Typen stehst.“ Sie grinste.

Noah nickte. „Ja, der Punkt hätte sich erledigt. Allerdings habe ich keinen Plan , wie es weitergehen soll. Du weißt es jetzt und sicher bald immer mehr andere … Lange werden wir es nicht mehr geheim halten können, und eigentlich will ich das auch gar nicht mehr. Immer umschauen, ob uns jemand sieht, wenn wir uns küssen wollen, während du und Thor das offen vor allen machen könnt.“

„Könnt ihr doch auch.“

Noah starrte sie überrascht an. „Meinst du einfach so?“

„Ja, klar. Oder willst du am Montagmorgen erst eine Lautsprecherdurchsage machen?“ Sie kicherte über ihre eigene Bemerkung, formte dann die Hände zu einem Trichter um den Mund und sagte langsam mit verstellter, tiefer Stimme: „Hier sprich Noah Bergmann und ich verkünde hiermit, dass ich schwul bin!“ Das klang so komisch, dass nicht nur sie, sondern auch Noah herzhaft lachen mussten.

Aber Luisa war noch nicht fertig: „Als ich mit Thor zusammenkam, hab ich schließlich auch keine Lautsprecherdurchsage gemacht: Hier spricht Luisa Regner und ich verkünde hiermit, dass ich hetero bin!“

Als sie sich vom Lachen wieder beruhigt hatten, wollte Noah gerade etwas einwenden. Doch Luisa war schneller: „Hey, ich weiß, was du sagen willst, heteronormative Gesellschaft und der ganze Scheiß. Klar wird da irgendwie immer noch mit zweierlei Maß gemessen. Aber wir haben verdammt nochmal 2022.“

„Du meinst also, ich soll Nico einfach vor allen Leuten küssen und schauen, was passiert?“

„Zumindest was die Schule angeht. Deine Eltern kannst du ja ein bisschen darauf vorbereiten“, fügte Luisa lächelnd hinzu. Das hatte Noah sowieso vorgehabt.

Dennoch war die Vorstellung, dass sich die Blicke aller Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, Trainerinnen und Trainer auf Nico und ihn richteten, gewöhnungsbedürftig. „Ich … ich weiß halt nicht, was das für blöde Kommentare geben kann.“

„Noah, du bist tough. Und du hast Nico. Und – nicht zu vergessen – ihr habt Freunde, die euch unterstützen.“ Luisa nahm seine Hand und blickte ihn intensiv an. „Wenn ich mitbekomme, dass dir jemand blöd kommt, dann kann derjenige was erleben! Als Siebenkämpferin kann ich nämlich nicht nur verdammt schnell weglaufen oder weit springen, sondern mich auch mit schweren Geschossen verteidigen. Spitze Speere und harte Kugeln – wenn ich darin noch etwas sicherer geworden bin!“

Eine wohltuende Wärme breitete sich in Noah aus, als ihm wieder einmal bewusst wurde, was er an Luisa hatte. Wenn er in einen Krieg ziehen musste, dann würde er sie mitnehmen. Statt vieler Worte umarmte er sie einfach.

„Jetzt sieh aber zu, dass du zurück zu deinem Schatz kommst. Mit dem hast du übrigens einen guten Fang gemacht! Ich kenne ihn ja nicht so gut wie du, aber wie ich Nico bisher erlebt habe … Sagen wir es mal so, er könnte mir auch gefallen!“

„Luisa!“ Noah knuffte sie in die Seite. „Sonst erzähle ich das Thor!“

„Ach ja, da war was. Ich sollte Thor mal wegen der Tretboote Bescheid sagen. Sonst wird das hier heute nichts mehr.“ Sie fischte ihr Telefon aus der Tasche ihrer Hotpants, und Noah erhob sich langsam.