37. Kapitel: Prickelnd

Samstag, 20. August 2022, 17:45 Uhr

Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, blickte Noah seiner besten Freundin nach, wie sie auf dem Bootssteg saß und mit Thor telefonierte.

Er fühlte sich so leicht und gleichzeitig voller Energie. Wie wunderbar war es, eine Freundin wie Luisa zu haben, aus deren Mund alles so einfach klang. Ihr Optimismus hatte es geschafft, sich über seine Unsicherheiten und Bedenken zu legen, so dass er sich richtig darauf freute, mit Nico auch in aller Öffentlichkeit zusammen zu sein. Es würde ein großer Schritt sein, doch Noah war stolz auf seinen Freund, der in ihm diese unglaublichen Gefühle auslöste. Und er war auch ein bisschen stolz auf sich selbst, dass er sich getraut hatte, Nico in sein Leben zu lassen und bald vor aller Welt zu ihm zu stehen.

Doch bevor sie in den kommenden Tagen vor allen anderen Händchen halten würden, stand erstmal ein Abend zu zweit an. Was könnten sie alles machen in den kommenden Stunden allein auf ihrem Zimmer? In Noahs Bauch fing es an zu kribbeln. Er spürte die wohlige Aufregung, bei der sich die Vorfreude mit der Erinnerung an die letzten Tage vermischte. Er konnte Nicos Hände an seinem Schritt und Nicos Zunge auf seiner Haut förmlich fühlen; er dachte daran, wie diese seine Brustwarzen umkreist hatte, erst links, dann rechts. Und er erinnerte sich daran, wie er gleichzeitig Nicos Körper erforscht hatte, wie er Nico mit seiner Hand und seinem Mund zum Höhepunkt der Lust gebracht hatte.

Er hielt inne und blieb auf dem Uferweg zum Internat stehen. All das wollte er an diesem Abend wieder mit Nico erleben, doch dieses Mal war er bereit für noch mehr. Dieses Mal wollte er Nico noch näher sein, ganz in ihm versinken oder ihn in sich spüren. Ein Lächeln der Entschlossenheit zog sich über sein Gesicht. Vielleicht war es das Gespräch mit Luisa gewesen. Womöglich war es die Aussicht darauf, seine Liebe zu Nico öffentlich zu machen, die ihn anspornte, diese Liebe ganz auszukosten und körperlich zu erleben.

Doch kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, legte sich ein Schatten über seine Vorfreude: Das war unbekanntes Terrain, weit weg von seiner Komfortzone und außerhalb seiner Kontrolle. Was, wenn sich seine theoretischen Kenntnisse, die er sich im Internet angeeignet hatte, in der Praxis als nutzlos erwiesen? Was, wenn es ganz schlimm, schmerzhaft und peinlich werden würde? Wollte er das wirklich? Wollte er sich Nico wirklich ganz hingeben?

Es war ein Risiko. Aber es war auch ein Risiko gewesen, Nico zu küssen, damals vor Blumenparadies Kröger im Regen. Es war ein Risiko gewesen, sich Nico zu öffnen. Und hatte er es bereut? Ging er nicht auch jedes Mal beim Stabhochsprung ein Risiko ein? Aber das war etwas anderes; den Bewegungsablauf kannte und kontrollierte er. Wogegen hier …

Doch, er wollte es. Weg mit den Ängsten, weg mit den Zweifeln! Wenn das mal so einfach wäre … Gleichzeitig kam ihm eine Idee, wie er womöglich die ganze Sache initiieren und ein bisschen die Kontrolle behalten könnte. Er wollte Nico zeigen, wie sehr er es wollte, wie sehr er ihn wollte. Er blieb stehen und blickte auf seine Uhr. Zehn vor sechs, da hatte der kleine Laden an der Straße noch geöffnet. Er hatte von seinen Mitschülerinnen und Mitschülern nebenbei gehört, dass er dort fündig werden würde. Entschlossen lief er los.

Wenig später nahm er mit zittrigen Händen die Packung Kondome aus dem Regal und fand das Gleitgel eine Etage tiefer. Es war eine kleine hellblaue Tube mit der Aufschrift „Prickelnd“ . In Noah prickelte es ebenfalls vor Aufregung.

Als er an der Kasse seine Einkäufe auf den Ladentisch legte, schaute er betreten nach unten auf seine Sneakers. Die Kassiererin jedoch wirkte ziemlich desinteressiert und blickte direkt wieder auf das Spiel auf ihrem Handy, kaum dass sie die Waren gescannt hatte. Was ist denn auch dabei, versuchte Noah sich selbst zu sagen. Wenn Luisa Nachschub für einen romantischen Abend mit Thor kaufte, war das sicher kein großes Ding. Aber es ging hier um sein erstes Mal und außerdem war er nun mal nicht Luisa, so sehr er sich manchmal gerne von ihrer Unbeschwertheit anstecken lassen würde.

Mit der Papiertüte in der Hand machte sich Noah auf den Weg zum Internat. Der Einkauf hatte ihn trotz allem in seinem Entschluss bestärkt, an diesem Abend mit Nico Neuland zu betreten. Was würde dieser wohl sagen, wenn Noah ihm den Inhalt der Tüte präsentieren würde?

Aufregung, Neugier, Lust und Unruhe vermischten sich tief in Noah zu einem brodelnden inneren Vulkan, als er die Tür zu seinem Zimmer öffnete. Nico saß am Schreibtisch vor seinem Laptop und schloss das Dokument rasch, bevor er sich zu Noah umdrehte. „Da bist du ja! In der Zeit hab ich es sogar geschafft, meine Geo-Hausaufgaben zu machen. Aber ich kann mir vorstellen, dass du viel mit Luisa zu besprechen hattest. Wie war’s?“

„Alles gut. Sie freut sich für uns und meint, ich habe mit dir einen guten Fang gemacht.“

Nico grinste. „Einen guten Fang? Meinst du auch, dass du mit mir einen guten Fang gemacht hast?“ Er kam langsam auf Noah zu.

„Ja, es fühlt sich sehr so an“, meinte Noah und schlang seine Arme um ihn. Er schmiegte sich an ihn und spürte die raue Haut seines Kinns; dann begann er ihn zärtlich zu küssen. Er sog Nicos Duft ein, das leichte Kräuter-Aroma des Duschgels, den männlichen Geruch, dazu einen schwachen Nachgeschmack von Kaugummi im Mund.

Als Nico nach dem Kuss die Position wechselte, streifte Noahs Blick durch das Zimmer und er erstarrte plötzlich. Auf Nicos Nachttisch lag wie immer The Song of Achilles , und auf dem Buch standen eine kleine Pappschachtel und eine hellblaue Tube – genau die gleichen, die Noah auch bei sich hatte! Die Papiertüte, die zerknittert dahinter lag, deutete darauf hin, dass Nico im gleichen Laden wie er eingekauft hatte. Wie verrückt war das denn?!

Das Erstaunen wohl ihm wohl ins Gesicht geschrieben, denn Nico fragte: „Noah, was ist?“ Er folgte Noahs Blick und schien sich auf einmal ertappt zu fühlen: „Äh, nein, wir müssen nicht, natürlich nicht … Also, nicht dass du denkst, ich will dich zu etwas drängen, ich dachte nur, wenn wir irgendwann mal wollen … Also, dann wäre es gut, vorbereitet zu sein!“

Noah genoss es seinen Erklärungen zuzuhören, in denen – ganz uncharakteristisch für seinen Freund – etwas Nervosität und peinliche Berührtheit mitschwangen. Er drückte Nico einen Kuss auf die Wange und flüsterte: „Willst du denn? Ich will nämlich! Und hätte hier auch noch was.“

Er holte den Inhalt seiner Einkaufstüte hervor, woraufhin beide schallend lachen mussten. „Dann können wir ja heute Nacht einiges verbrauchen!“, meinte Nico schließlich mit einem schelmischen Grinsen.

„Aber können, sagst du, nicht müssen?“, fragte Noah vorsichtig. Das flaue Gefühl war zurückgekehrt, so als ob Nicos scherzhaft gemeinter Kommentar unterbewusst Druck erzeugt hätte.

Das schien auch Nico zu bemerken, denn seine Gesichtszüge wurden sanfter, er legte seine Hände in Noahs Nacken und zog ihn zu sich: „Wir müssen überhaupt nichts. Wenn wir beide Lust haben, schauen wir mal, wohin uns die Reise führt. Und wenn einer nicht mehr will, drehen wir eben um. Einfach treiben lassen. Der Weg ist das Ziel, weißt du noch?“

Noah lächelte und nickte. Das war so schön ausgedrückt! Er blickte Nico an und erklärte: „Ich will es, und ich bin total aufgeregt, aber es ist eben … das erste Mal.“

„Und du glaubst, ich bin nicht nervös, nur weil es nicht mein erstes Mal ist?“, erwiderte Nico leise. „Es ist für uns beide zusammen etwas Neues und ich kann es kaum erwarten. Andererseits merke ich schon die Verantwortung. Ich meine, das ist dein erstes Mal und da soll es wirklich schön werden. Und gleichzeitig heißt es doch No Pressure.

So hatte Noah das noch gar nicht gesehen. Er war also nicht der einzige, der sich Gedanken machte, vielleicht zu viele Gedanken. In gewisser Weise beruhigte ihn das.

Mit einer neu gewonnenen Bestimmtheit trat er von Nico weg, ging zum Fenster und schloss die Vorhänge. Dann sagte er mit einem vielsagenden Lächeln: „Okay, anscheinend haben wir da beide schon ein bisschen drüber nachgedacht und ich würd mal sagen, das reicht jetzt mit dem Nachdenken, mit dem Kopf und der Nervosität.“

Er schob sich an Nico und zwar so, dass ihre Hüften dicht an dicht standen und er Nicos halbhartes Glied durch die Jeans spüren konnte. Nico legte seine Arme um ihn und fragte: „Noah Bergmann will nicht mehr nachdenken?“

„Momentan nicht. Wir können ja ein chemisches Experiment machen und mal schauen, was im Körper alles für Prozesse ablaufen können“, meinte er noch und begann dann, Nico zu küssen. Erst vorsichtig, dann mit immer steigender Intensität, Lust und Begierde, während er seine Hand unter Nicos T-Shirt schob und gleichzeitig dessen Hand an seinem Po spürte. Und während des körperlichen Feuerwerks der darauffolgenden Stunden spielten Noahs rationale Gedanken tatsächlich nur eine sehr leise Hintergrundmusik.