Sonntag, 21. August 2022, 08:38 Uhr
Etwas war anders als sonst, als Noah langsam die Augen öffnete. Es war so warm. Ob das von dem Sonnenstrahl kam, der durch den Spalt in den Vorhängen auf die Bettkante fiel? Aber ein Sonnenstrahl konnte ihn nicht so warm einhüllen, ein Sonnenstrahl hatte nicht so ein physisches Gewicht … Etwas verwirrt drehte Noah den Kopf und erblickte Nico, der auf der Seite halb über ihm lag. Sein rechtes Bein lag angewinkelt über Noahs Hüfte, seine Hand auf Noahs Bauch. Noah spürte, dass sie beide splitternackt waren, wenn auch teilweise von der Decke verhüllt. Waren sie tatsächlich eng umschlungen eingeschlafen? Die Erinnerung an den vergangenen Abend kam zurück, und Noah lächelte selig. Der Abend hatte Spuren hinterlassen; einerseits körperlich, was er spürte, als er vorsichtig versuchte, seinen Unterkörper zu bewegen. Aber vor allem gefühlsmäßig. Er schwelgte in den Glücksgefühlen und der Intimität, die er empfunden hatte, als er Nico ganz nah war. Er musste an den Ausdruck „verschmelzen“ denken und fand, dass dieser die Erfahrung perfekt beschrieb. Hätte er, der unabhängige und kontrollierte Noah, sich jemals vorstellen können, dass er ganz in einem anderen Menschen aufgehen wollte?
Aber da kannte er auch Nico noch nicht. Nico, für den er nun mehr empfand denn je und mit dem er sich durch diese Erfahrung, die sie geteilt hatten, noch mehr verbunden fühlte. Nico, der ihn im Schlaf umklammert hatte und dessen Unterkörper er noch halb auf seinem spürte.
Engte ihn das nicht ein? Ein bisschen schon, das musste er zugeben. Er war schließlich jemand, der immer die volle Kontrolle über sein eigenes Leben hatte. Nun gab es da jemanden, der ihm in jeder Hinsicht so nah war, dass er ihn sogar nachts in seiner Bewegungsfreiheit einschränkte. Doch anders als er gedacht hätte, störte ihn das nicht. Ganz im Gegenteil, er hatte wirklich gut geschlafen, so nah an Nico.
Er dachte darüber nach, wie gerne er dieses Gefühl für immer behalten würde. Oh ja! Aber ging das? Wie stark würde sein Leben sich ändern, wenn er regelmäßig abends Sex mit Nico hätte und in einem Bett mit ihm schlafen würde? War es möglich, der alte Noah zu bleiben, der kontrollierte, rationale Noah mit den sportlichen und schulischen Top-Leistungen, und gleichzeitig mit Nico diesen Höhenflug zu erleben?
Hmmm. Ein Detail daran stimmt nicht, merkte er. Es war schon jetzt nicht mehr der alte Noah. Ziemlich sicher hatte Nico, hatten Julius‘ Tod, das Doping im Langstreckenlauf und all die Erlebnisse der letzten Tage ihn bereits verändert. Vielleicht musste er zu einem neuen Gleichgewicht kommen, wie in der Chemie. Hieß es nicht immer, dass Veränderung, so sehr er sie normalerweise scheute, auch Teil des Erwachsenwerdens war?
Noah entschied, dass er in diesem Moment, an diesem Sonntagmorgen mit Nico zusammen im Bett, einfach nur glücklich war. Fasziniert betrachtete er seinen Freund, der auf der Seite neben ihm lag. Seine Augen waren teilweise unter den wuscheligen Haaren verdeckt, während sich sein Brustkorb in regelmäßigen Abständen leicht hob und senkte. Plötzlich zuckte seine Hand, die auf Noahs Bauch lag. Das kitzelte!
Auf Nicos Lippen lag im Schlaf ein leichtes Lächeln. Wovon er wohl träumte? Noah musste an das Lied von Aerosmith denken, das sie auf der Hinfahrt nach Greifswald gehört hatten. Nicht eins der Drogen-Lieder, sondern I don’t wanna miss a thing . Das Lied, in dem darum ging, jeden Moment mit dem geliebten Menschen zu genießen.
Noah hatte die Melodie wieder im Kopf und bewegte sich leicht dazu. Vielleicht war es diese Bewegung, die Nico erwachen ließ. Er öffnete die Augen, und als er in Noahs Gesicht blickte, schien er sehr zufrieden. Er räkelte sich, legte dann seinen Kopf auf Noahs Schulter und kuschelte sich an ihn. „Guten Morgen!“, flüsterte er.
Noah küsste ihn auf die Stirn und lächelte: „Gut geschlafen?“
„Und wie. Kein Wunder nach gestern Abend!“
Noah drückte ihn an sich und sie lagen ein paar Minuten eng umschlungen da. Nico strich ihm leicht über den Oberarm und meinte: „Sonntagmorgen im Bett … Hier könnte ich ewig bleiben.“
„Ich auch“, flüsterte Noah.
„Aber ich befürchte, gleich steht wieder Sport auf dem Programm. Und zwar Individualsport. Dabei hätte ich viel mehr Lust auf Sport zu zweit“, grinste Nico und zwickte Noah sanft in die Hüfte. „Hey“, rief Noah und revanchierte sich, indem er seinen Freund kitzelte. Bald war eine wilde Kitzelschlacht in vollem Gang.
Schließlich hatte Noah es geschafft, Nicos Hände unter sich festzuklammern. „Weißt du was? Wir stehen jetzt auf und gehen ins Trainings-Center für den Individualsport. Sonntags sollen wir uns bewusst nicht auspowern, sondern selbst entscheiden, was uns an Übungen guttut. Die Balance zwischen Regeneration und Routine, heißt es. Und anschließend …“ Er machte eine Pause und sah Nico herausfordernd an. „… hätte ich dann auch nichts gegen ein bisschen Matratzensport!“
„Klingt nach einem Plan für den Tag“, sagte Nico. „Oder hast du sonst noch was geplant?“
„Heute Nachmittag den Besuch bei Johannes in Schwerin“, fiel Noah ein und er spürte einen Knoten im Magen. An die Geschichte mit Julius, Johannes, Amelie und J.J. mochte er eigentlich gerade gar nicht denken, erst recht nicht nach den wunderbaren letzten 24 Stunden. Nico schien es ähnlich zu gehen, denn auch sein Gesicht verfinsterte sich. Gleichzeitig empfand Noah jedoch das Bedürfnis, an der Sache dranbleiben zu müssen. Irgendwie schuldete er es Julius und auch Amelie, dass die Wahrheit über die schrecklichen Vorkommnisse ans Licht kam.
***
Auch wenn es Noah nicht leicht fiel aufzustehen, war es wenig später ein gutes Gefühl, auf dem Crosstrainer zu laufen, durch die Glaswand den in der Sonne schimmernden See zu betrachten und Nico einige Meter neben sich zu wissen.
Nach dem Training schlenderten sie auf dem Weg zurück ins Hauptgebäude nebeneinanderher. Wenn Noah alleine gewesen wäre, hätte er vielleicht Kopfhörer aufgehabt und wäre in seiner eigenen Welt gewesen. Aber mit Nico war es anders, da wollte er ganz da sein und eigentlich wollte er auch nicht bloß neben ihm herschlendern … Entschlossen schob er sich näher an seinen Freund heran und ergriff seine Hand.
Nico sah ihn überrascht an. Er verlangsamte seinen Schritt, sah auf ihre zusammengeflochtenen Hände und blickte ihn mit einem fragenden Ausdruck an.
„Ja, ich bin verdammt gespannt, was passiert, wenn uns jetzt jemand sieht“, gab Noah zu. Er dachte an das Gespräch mit Luisa am Vorabend. „Da muss unsere Schule jetzt durch!“
Auf Nicos Gesicht zeigte sich ein Lächeln, das immer breiter wurde. Doch auf dem Weg zurück ins Zimmer sahen sie nur einen in sein Smartphone versunkenen Jungen aus der Mittelstufe und zwei Mädchen, die unter einem Baum im Schatten saßen und sich angeregt unterhielten. Niemand schenkte ihnen nähere Beachtung.
Zurück auf dem Zimmer zog Nico ihn an sich und küsste ihn: „Ich bin stolz auf dich. Und auf uns!“ Noah fühlte sich euphorisch. Er beugte sich nach unten, um sich die Turnschuhe auszuziehen. „Zu dumm, dass wir noch duschen müssen. Willst du zuerst oder –“
„Ist es nicht viel besser für die Umwelt, wenn wir Wasser sparen und zusammen duschen?“ Nico zwinkerte ihm schelmisch zu. Noah musste grinsen. Diese Dusche versprach sehr aufregend zu werden.
***
Als Noah einige Zeit später erschöpft und glücklich auf sein Bett sank, bezweifelte er zwar, dass die gemeinsame Dusche den Wasserverbrauch wirklich gesenkt hatte. Kein Zweifel bestand allerdings mehr daran, dass er von Nico nicht genug bekommen konnte. Er wollte ihn in seinem Leben haben, er wollte das ganze Schuljahr händchenhaltend mit ihm durchs Internat laufen, er wollte … Mist, er wollte sich eigentlich an diesem Wochenende bei seinen Eltern melden. Und eigentlich wäre es an der Zeit, ihnen zu sagen, dass er einen Freund hatte.
Er griff zum Telefon, während sich Nico noch im Bad fertig machte. Er zögerte. Vielleicht war ein Telefonat nicht ideal für das Coming-Out, doch er konnte einen Schritt in diese Richtung machen.
„Hallo Noah, wie schön, dass du dich meldest!“ Aus der Stimme seiner Mutter klangen Überraschung und Freude. „Wie geht’s, was machst du heute?“
„Ach, wir wollen nach Schwerin.“ Noah bemühte sich neutral zu klingen. Hoffentlich fragte sie nicht, was er genau in Schwerin vorhatte. Dann müsste er auf etwas wie „durch die Stadt bummeln und Eis essen“ ausweichen. Vielleicht konnten sie das ja tatsächlich machen, je nachdem wie lange der Besuch bei Johannes dauern würde.
Aber seine Mutter fragte nach etwas anderem: „Wir? Fährst du zusammen mit Luisa und deinen anderen Freunden?“ Sie schien sich wie immer Gedanken zu machen, ob er auch sozial eingebunden war.
„Äh, nee, mit Nico, meinem …“ Noah zögerte und blickte zu Nico, der gerade aus dem Bad kam, „Mitbewohner.“ Er sah einen Schatten über das Gesicht seines Freundes huschen, als er diese Worte aussprach. Er wollte ihn nicht verleugnen, aber es wäre wohl besser, seinen Eltern diese Neuigkeit nicht so abrupt beizubringen. Oder?
„Das hört sich ja nett an. Wie schön, dass ihr euch gut versteht, gerade nach … nach der tragischen Sache mit deinem alten Mitbewohner. Wie kommst du denn damit klar?“
Noah seufzte. „Es geht schon. Ich denke noch darüber nach, aber der Alltag aus Schule und Sport lenkt mich ab. Und Nico hilft mir auch, das Ganze zu verarbeiten.“ Er bemühte sich, das Thema zu wechseln: „Mama, ich habe überlegt, ob ich bald mal wieder nach Hause fahre. Ich will euch in Ruhe was erzählen. Wie wäre es nächstes Wochenende?“
„Wirklich? Das … das ist toll! Wir freuen uns. Ich frage mal schnell deinen Vater …“ Kurz darauf war sie wieder da. „Also am Samstag sind wir mit Nierups verabredet, aber du kannst mitkommen oder wir können das verschieben.“
Noah überlegte kurz mit dem Kalender im Kopf: „Nein, passt. Ich hab Samstag ohnehin einen Trainingswettkampf und könnte erst am Abend. Ich würde dann bis Sonntagabend bleiben.“
„Klar, dann machen wir das so. Mit welchem Zug willst du kommen? Du könntest den IC– “
Noah sah, dass Nico den Kopf schüttelte. „Mama, wir müssen noch nicht alles so genau planen. Lass uns das später besprechen, okay?“
Nachdem er aufgelegt hatte, meinte Nico: „Ich könnte dich fahren. Vorausgesetzt, dass du mich deinen Eltern direkt vorstellen willst.“
Noah sah ihn an und überlegte: „Ich weiß nicht. Ich meine, vielleicht sollte ich ihnen erstmal sagen, dass ich schwul bin, bevor ich mit meinem Freund auftauche … Andererseits … Ach, was soll’s!“ Er sah, wie Nico lächelte. „Aber heute geht’s erstmal nach Schwerin. Wir haben noch ein bisschen Zeit; ich besorge uns mal Proviant aus dem Kühlschrank.“
Er lief zum Gemeinschaftsraum, wo er Thor alleine an der PlayStation traf.
„Moin Thor, wie geht‘s?“, fragte er und öffnete die Kühlschranktür.
„Noah,“ sagte Thor und drehte sich zu ihm um. Er pausierte das Spiel.
„Lass dich nicht stören“, meinte Noah, während er den Inhalt des Kühlschranks sondierte.
Thor räusperte sich. „Noah … ich … können wir kurz reden?“ Er wirkte unsicher und nervös, was Noah wunderte.
„Äh ja, schieß los“, meinte er und trat vom Kühlschrank weg. Thor stand auf und schien zu lauschen. Auf dem Gang waren Schritte zu hören.
„Nicht hier“, sagte Thor. „Können wir in mein Zimmer gehen? Felix ist nicht da.“ Er wandte sich zur Tür, und Noah folgte ihm verwirrt.