Sonntag, 21. August 2022, 11:26 Uhr
Thor schloss hinter Noah die Tür zu seinem Zimmer. Sein Blick war nur schwer zu deuten. Noah kannte den Halbnorweger als jemanden, der seine Gefühle selten stark nach außen zeigte, aber nun wirkte Thor ernster und nervöser als sonst. Irgendetwas musste ihn bedrücken.
Thor öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, nur um den Blick dann von Noah abzuwenden und den Mund wieder zu schließen. In Noah stieg die Unruhe. Was war es, was sein Teamkamerad sich nicht traute, ihm mitzuteilen?
„Thor, was ist los? Warum willst du mit mir reden?“, fragte Noah und bemühte sich, seine Stimme weich klingen zu lassen.
„Ich … es ist schwierig.“
„Ist was zwischen dir und Luisa? Habt ihr euch gezofft?“ Noah überlegte, ob er zwischen seinen Freunden vermitteln konnte, doch dafür musste er erst einmal wissen, was das Problem war.
„Das auch. Aber es geht nicht um Luisa … sondern um dich. Dich und Nico.“ Noah sah Thor überrascht und ungläubig an; gleichzeitig war er innerlich getroffen. Thor sollte ein Problem mit ihm und Nico haben? War er etwa homophob?
Als könne Thor seine Gedanken lesen – oder womöglich las er nur sein sich verfinsterndes Gesicht –, fügte er rasch hinzu: „Nicht, dass du denkst, dass es ist, weil du schwul bist, aber …“
„Aber?“, fragte Noah und zog skeptisch die Augenbraue hoch. Was würde jetzt kommen? Begannen so nicht viele Äußerungen, die dann doch homophob waren? Noah merkte, wie er instinktiv in eine defensive Haltung geriet und sich für den kommenden verbalen Schlag bereit machte.
„Nico und du … Geht das nicht etwas zu schnell?“ Das war nicht der Schlag, den Noah erwartet hatte. Aber statt Erleichterung verstärkte sich die Verwirrung.
„Wie meinst du das? Ja, es ist alles ganz frisch zwischen Nico und mir. Ja und? Wieso ist das ein Problem für dich?“ Noah bemühte sich beiläufig zu klingen, während er tief in sich drin ahnte, worauf Thor abzielen könnte.
„Noah, du... du bist verknallt. Das ist schön, aber … Mensch, du bist halt anders als sonst. Nicht der kopfgesteuerte Noah, den wir kennen.“ Es schien Thor nicht leicht zu fallen, die richtigen Worte zu finden; er sprach langsam und zögernd, traute sich aber nun, Noah ins Gesicht zu sehen. „Ich … mache mir Gedanken, dass du dich in irgendwas verrennst. Irgendwann kommt der große Crash und du bist total enttäuscht.“
Verschiedene Gefühle lieferten sich in Noah einen Kampf. Ja, sein Kumpel schien sich ernsthaft Sorgen um ihn zu machen, was ihn erstaunte und rührte. Außerdem trafen seine Worte, dass Noah nicht so rational war, bei seinen eigenen unterschwelligen Ängsten auf einen fruchtbaren Nährboden … Aber hatte er die Ängste vor dem Neuen, vor den großen Emotionen, vor dem Kontrollverlust nicht hinter sich gelassen? Er war doch stolz darauf, sich auf Nico eingelassen zu haben und wollte dazu stehen. Der große Crash, was für ein Unsinn! Und was bildete sich Thor überhaupt ein, sich so in sein Liebesleben einzumischen!
„Du musst dir keine Gedanken machen“, erklärte er Thor mit erstaunlich fester Stimme. „Es ist alles super mit Nico und mir, auch wenn es noch so frisch ist. Ich bin verknallt und es ist schnell gegangen, aber ich bin trotzdem noch ich.“
„Der Punkt ist, dass du Nico gar nicht richtig kennst. Er ist erst seit ein paar Tagen bei uns.“
„Wie meinst du das, ich kenne ihn gar nicht richtig? Klar sind es erst ein paar Tage, doch es zählt ja, was man in der Zeit macht …“ Noahs Gedanken schweiften ab zum Kuss im Regen, zur Tretbootfahrt, zum letzten Abend – und zu all den intensiven Gesprächen dabei. „Und dass man einander vertraut.“
„Kannst du ihm wirklich vertrauen, wenn du ihn erst so kurz kennst?“
Nun fühlte sich Noah wirklich angegriffen: „Willst du etwa auf die Philo-Stunde und Thomas Hobbes heraus? Gegenüber Menschen, die wir neu kennenlernen, sollten wir misstrauisch sein, weil sie uns übers Ohr hauen könnten? Wenn man so argumentiert, wird man bestimmt nicht enttäuscht, aber auch nicht glücklich.“
„Wow, Noah“, meinte Thor und betrachtete ihn. Er schien ein bisschen beeindruckt. Nach einem Moment fuhr er fort: „Nein, man muss nicht permanent misstrauisch sein wie Hobbes. Aber es schadet vielleicht nicht, genauer hinzusehen, wenn man sich kennenlernt. Gerade wenn es Dinge gibt, die nicht so ganz passen. Ich für meinen Teil weiß nicht, ob du Nico komplett vertrauen solltest. Findest du es nicht merkwürdig, dass jemand in der Abiturklasse auf ein Sportinternat wechselt? Hat er dir erzählt warum? Was ist denn an seiner alten Schule vorgefallen?“ Thor schien darauf gewartet zu haben, diese Fragen abzufeuern.
Noah hingegen zuckte irritiert mit den Schultern: „Das weiß ich nicht, weil wir bisher nicht darüber geredet haben. Aber Nico wird schon seine Gründe haben. Ich weiß nicht, was das mit unserer Beziehung zu tun haben soll.“
„Ich kann es jedenfalls nicht nachvollziehen, so kurz vor dem Abi ganz auf Sport zu setzen, wenn man zuletzt gar nicht an Wettkämpfen teilgenommen hat. Ich hab mal gegoogelt, wann sein Name zuletzt auf Teilnehmerlisten im Langstreckenlauf stand. Ist schon fast zwei Jahre her.“ – „Nico war lange verletzt. Achillessehne.“
„Mag sein. Aber findest du nicht, dass er sich manchmal komisch verhält? In der Nacht zu gestern, also Samstag, war ich nachts kurz wach. Viertel vor drei. Ich wollte auf mein Handy gucken und konnte es nicht finden. Ich bin dann in den Gemeinschaftsraum; da hatte ich es wohl vergessen. Und rate mal, wer in diesem Moment – voll bekleidet wohlbemerkt – durch den Gang zur Eingangstür geht, raus aus unserem Trakt und dann die Treppen hoch?“
Noah stockte. „Das soll Nico gewesen sein? Hast du ihn angesprochen?“
„Äh, nee, ich habe ihn nur von hinten gesehen. Aber weißt du, ob Nico schlafwandelt oder was er sonst für einen Grund haben könnte, nachts durchs Gebäude zu schleichen?“ Thor klang ernsthaft besorgt.
Noah konnte das immer noch nicht ganz glauben. „Und du hast das nicht nur geträumt?“
„Das hat Luisa auch gesagt, als ich ihr davon erzählt habe. Sie meint, ich würde mich in irgendwas hineinsteigern, und ich soll mich doch lieber für dich und Nico freuen, weil ihr so happy seid. Aber ich habe halt ein ungutes Gefühl.“
„Das musst du nicht“, erklärte Noah und war selbst überrascht, wie bestimmt er klang. „Ich bin mir sicher, es gibt eine logische Erklärung für alles, was du oder auch ich noch nicht über Nico wissen. Und wenn es dir so wichtig ist, frag ihn doch selbst.“
Er wandte sich zur Tür: „Ich muss auch gleich weg, Nico und ich fahren nach Schwerin.“
Auf dem Gang lehnte sich Noah kurz an die Wand und atmete einmal tief durch. Das war wohl der Preis dafür, dass er seine Beziehung öffentlich machte. Nicht alle würden applaudieren wie Luisa, doch von Thor hätte er mehr Unterstützung erwartet. Warum war er so skeptisch gegenüber Nico? Nur weil dieser mit dem Schulwechsel einen Neuanfang wagte und weil Thor glaubte, ihn nachts auf dem Gang gesehen zu haben. Na und? Plötzlich fiel Noah ein, wie Nico auch mitten in seiner ersten Nacht vom Gemeinschaftsraum zurück aufs Zimmer gekommen war. Aber es war doch nichts dabei, nachts kurz das Zimmer zu verlassen, um frische Luft zu schnappen. Jetzt durfte er nicht auch noch anfangen, Gespenster zu sehen! Vielleicht sollte er Nico fragen, ob er Schlafprobleme hatte. Er erinnerte sich daran, was dieser von luziden Träumen erzählt hatte. Aber dabei sollte man eigentlich sein Bett nicht verlassen, oder? Wie dem auch sei, letzte Nacht schien Nico jedenfalls sehr gut geschlafen zu haben. Noah spürte das Lächeln auf sein Gesicht zurückkehren. Er dachte daran, wie sie eng umschlungen eingeschlafen waren und wie die empfundene Intimität, Vertrautheit und Nähe das einzig Entscheidende waren.
Höchste Zeit, um zurück zu Nico zu kommen. Dieser kramte gerade in seinem Koffer, hatte aber den Autoschlüssel schon bereit gelegt. „Bist du soweit?“, fragte er Noah und lächelte auffordernd.
Wenig später saßen sie nebeneinander im Auto und Nico startete den Motor. Noahs Gedanken kehrten unwillkürlich zum Road Trip nach Greifswald zurück und er bedauerte, dass die Fahrt am See entlang nach Schwerin so viel kürzer sein würde.
Er betrachtete seinen Freund von der Seite und dachte wieder daran, was Thor gesagt hatte. Sollte er Nico danach fragen, was an seiner alten Schule passiert war und was den Schulwechsel kurz vor dem Abitur ausgelöst hatte? Aber warum sollte er sich mit unangenehmen Erfahrungen, über die Nico vielleicht nicht reden wollte, den Tag verderben? Dafür würde die kurze Fahrt sowieso nicht reichen und außerdem …
„Lass uns nochmal zusammenfassen, was wir uns eigentlich von Johannes erhoffen“, unterbrach Nico seine Gedanken.
„Ja, äh.“ Noah versuchte, sich zu sammeln. „Wenn J.J. Julius wirklich vom Dach gestoßen hat, weil dieser mit dem Doping aufhören wollte, dann könnte Johannes etwas wissen. Vielleicht wollte J.J. ihn mit Amelies Vorwürfen mundtot machen. Dann wäre Johannes eine tragische Figur in der ganzen Sache.“
„Tragische Figur? Noah, du hörst dich an wie bei einer Textanalyse für Deutsch!“, stellte Nico fest und musste kichern. Auch Noah kam nicht umhin zu schmunzeln.
„Ob er aber tatsächlich nur das unschuldige Opfer von Amelies Vorwürfen ist oder tiefer drinsteckt, wissen wir noch nicht“, sprach Nico weiter. Er setzte den Blinker und fuhr aus dem Kreisverkehr. Sie waren bereits in der Schweriner Nordstadt.
„Willst du dieses Mal nicht so weit draußen parken, dass wir durch die ganze Stadt laufen müssen?“ Noah blickte Nico herausfordernd an.
„Heute wird’s wohl nicht regnen, da fällt der Spaßfaktor weg“, sagte Nico grinsend. „Und mittlerweile küsst du mich ja sogar im Sonnenschein.“ Er nahm seine rechte Hand vom Lenkrad und legte sie auf Noahs Oberschenkel. Glücklich ließ Noah seine Hand darauf sinken. Dann sprach Nico weiter: „Hier kenne ich mich außerdem aus, und man findet sonntags problemlos einen Parkplatz. Meine Cousine wohnt in der Nähe. By the way, auf dem Weg von hier Richtung Innenstadt gibt es eine echt gute Eisdiele. Luigi’s, kennst du die?“
„Ja, da waren wir mal mit dem Stabhochsprung-Team.“ Er sah zu Nico und fragte: „Sollen wir … soll ich dich dahin einladen, wenn wir bei Johannes raus sind?“
„Ich wollte eigentlich dich einladen“, meinte Nico und schmunzelte.
„Wie du meinst. Hauptsache, ein Eisessen-Date.“