Sonntag, 21. August 2022, 13:30 Uhr
Das vierstöckige Mehrfamilienhaus war in einem grünlichen Farbton gehalten, der an einigen Stellen verblichen war. Vor einigen Jahren musste es einmal gut ausgesehen haben, doch an der Instandhaltung wurde anscheinend gespart.
Auch Johannes war schon einmal in einer besseren Verfassung gewesen. Das war Noahs erster Eindruck, als der Physiotherapeut ihnen die Wohnungstür öffnete. Die Ereignisse der letzten Tage hatten Spuren hinterlassen. Unter seinen sonst offen und freundlich dreinblickenden blauen Augen lagen dunkle Ringe; auch die Blessuren um seine Nase waren noch zu erkennen. Er schien ermattet. Dennoch wirkte er nicht ungepflegt. Die schwarzen Haare waren wie üblich nach oben gegelt, und er war rasiert.
„Hallo ihr beiden!“ Hinter Johannes trat plötzlich eine hochgewachsene junge Frau im Minikleid hervor. Ihre perfekt gewellten blonden Haare rahmten ihr Gesicht ein. Noah machte überrascht einen Schritt zurück. Er hatte sie schon häufiger im Internat oder bei Wettkämpfen gesehen, aber da war sie nicht die Begleitung von Johannes gewesen.
„Wir kennen uns vom Sehen“, sagte sie mit samtiger Stimme und reichte Noah die Hand. „Ich bin Elena. Noch Elena John, aber bald schon Elena Freitag.“ Sie warf Johannes einen verliebten Blick zu.
Noah blieb der Mund offen stehen. J.J.s junge Frau war drauf und dran Johannes zu heiraten? Normalerweise interessierte Noah sich herzlich wenig für das Liebesleben des Lauftrainers, doch nun lagen die Dinge anders.
Sie traten in eine kleine, vollgestopfte Wohnung, die ziemlich chaotisch wirkte. Ein halb gepackter Koffer lag offen an der Wand; Umzugskartons stapelten sich im Flur. Johannes führte sie ins Wohnzimmer, wo Elena einige Unterlagen und Bücher vom durchgesessenen, braunen Sofa räumte. Als sich Noah und Nico setzten, erklärte Johannes entschuldigend: „Sorry für die Unordnung. Die letzten Tage und Wochen … Ich wollte ohnehin ausziehen, mit Elena zusammenzuziehen. Aber jetzt überlegen wir, ob wir uns wirklich etwas in Schwerin nehmen oder lieber ganz weit weg gehen. Ein Neuanfang, irgendwo dort, wo mich niemand kennt. Hier hab ich alles verloren. Mein Ruf ist ruiniert, und das obwohl ich niemandem was getan habe.“ Aus seiner Stimme sprach Bitterkeit.
Nico schien in dieser Situation wieder einmal leichter die richtigen Worte zu finden: „Das tut uns sehr leid. Ich glaube, niemand von uns kann sich vorstellen, was du durchgemacht hast.“
Noah fügte hinzu: „Ich konnte es kaum glauben, als ich von … von diesen Vorwürfen gehört habe. Für mich warst du immer ein sehr guter Physio und absolut professionell.“ In diesem Moment wünschte er sich, er hätte stärker zu Johannes gehalten. Andererseits hatte es lange keinen Grund gegeben, Amelies Beschuldigungen anzuzweifeln.
Johannes erklärte: „Ich dachte wirklich, ich bin in einem Albtraum gefangen und kann nicht aufwachen. Irgendwie dauert er immer noch an.“
„Auch wenn Amelie nun die Vorwürfe zurückgezogen hat“, warf Noah ein.
„Aber das heißt ja nicht einfach alles auf Anfang. Meinen Namen kriege ich nicht so schnell reingewaschen“, erwiderte Johannes resigniert. „Das Gerede wird bleiben. Keine Ahnung, ob ich überhaupt ins Internat zurück will. Die Suspendierung ist zwar aufgehoben. Aber es war so eine Scheißerfahrung, wie viele angebliche Freunde und Kollegen plötzlich nichts mehr von mir wissen wollten. Zum Glück hat Elena immer zu mir gehalten.“
Elena trat hinter Johannes und umarmte ihn. „Es war mir gleich klar, dass es nie um dieses Mädchen ging. Es ging immer nur einzig und allein um J.J.“ Ihre Stimme war nun nicht mehr samtig, sondern ebenfalls bitter.
„Er hat gesagt, er macht mich fertig. Aber das war im Suff, er war ja total außer sich an dem Abend. Ich hätte nie gedacht, dass er das in die Tat umsetzt – bis ein paar Tage später dieses Mädel mit ihren Lügengeschichten gekommen ist.“
Noah horchte auf, und Nico fragte: „An welchem Abend? Was ist da genau passiert?“
„Es war an dem Abend in Hamburg, am Abend vor den Meisterschaften. J.J. hat Elena und mich im Hotel zusammen erwischt und ist total ausgerastet“, erzählte Johannes.
Elena ergänzte sogleich: „Ich hatte es J.J. eigentlich schonend beibringen wollen. Aber er hatte ja gar keine Zeit mehr für mich und sich gar nicht mehr für mich interessiert. Nur noch für den Sport. Die Wettkämpfe, seine Erfolge als Trainer mit seinen Nachwuchs-Superstars, das ist seine Welt. Wie ich mich dabei fühle, seine Vorzeige-Ehefrau zu sein, ist ihm sowas von egal. Hauptsache, er kann einen auf toller Hengst machen.“
„Vielleicht wäre es etwas anders gelaufen, wenn wir mit ihm in Ruhe geredet hätten und er uns nicht auf dem Hotelzimmer –“, begann Johannes, mehr an Elena als an die beiden Besucher gewandt, doch sie fiel ihm ins Wort: „Mit J.J. kann man doch nicht mehr reden! Er wollte nicht einsehen, dass unsere Ehe am Ende ist. Ja, es war scheiße für uns alle, dass er uns in flagranti erwischt hat, aber es hat Tatsachen geschaffen. Tatsachen, die nicht in J.J.s verstrahlte Ego-Welt passen!“
Noah betrachtete Elena gleichermaßen eingeschüchtert und beeindruckt. Beeindruckt, da sie sich von J.J. nichts mehr sagen ließ. Andererseits lag ihm die Frage auf der Zunge, warum sie ihren Noch-Ehemann vor gar nicht so langer Zeit eigentlich geheiratet hatte – hatten sein Erfolg, das Geld und der Glamour einmal attraktiver geklungen als jetzt? Doch er wagte nicht nachzubohren, schließlich wirkte Elena recht aufbrausend, und er wollte sie nicht gegen sich aufbringen. Erst recht nicht, wenn sie so offen über den Abend von Julius‘ Tod redete. So fragte Noah stattdessen: „Wie hat denn J.J. reagiert, als er euch zusammen gesehen hat? Hat er euch gedroht?“
„Er ist auf mich losgegangen und hat mir voll eine ins Gesicht verpasst und dabei rumgebrüllt. Ich war so verdattert, dass ich mich viel zu spät gewehrt habe“, gab Johannes zu. „Mich hat er als“ – Elena sprach das Wort langsam und betont aus – „ Sch-lam-pe bezeichnet. Ich lasse mich von niemandem als Schlampe bezeichnen und erst recht nicht von meinem Noch-Ehemann!“
Elenas Augen funkelten vor Zorn, gleichzeitig schien es ihr eine wirkliche Freude zu bereiten, diese Geschichte zu erzählen und über J.J. herzuziehen. In den Klatschspalten der Presse würde sie sicher auf offene Ohren stoßen, wenn sie über ihre Ehe auspacken würde.
„J.J. ist also wütend und gewalttätig geworden“, fasste Nico zusammen. „Wie stark hat er euch dabei verletzt?“
„Auf die Nase hat er mich voll getroffen, das hat echt stark geblutet. Zum Glück nicht gebrochen. Auch der Rest meines Gesichts sah nicht toll aus. Aber Elena hat er nicht angerührt, das hätte ich niemals zugelassen. Seine Wut hat sich am meisten gegen mich gewandt. Gerade als er dann wiederkam.“
„Wiederkam?“
„Ja, nachdem er total ausgetickt war, lief er aus dem Zimmer“, erklärte Elena. „Da konnten wir uns erstmal ein bisschen sammeln. Aber ich hab geahnt, dass es noch nicht vorbei war. Eine Stunde später oder so kam er wieder. Er musste an der Hotelbar gewesen sein, eine Vodkaflasche in der Hand. Er pöbelte und schlug er weiter rum, aber wir konnten uns besser wehren.“
„Er brüllte, er wolle mich fertigmachen und ich würde es noch bereuen“, sagte Johannes. „Eigentlich hat er mehr gelallt als gebrüllt. Da war er schon total durch, obwohl es noch gar nicht so spät am Abend war. Vielleicht 8 Uhr oder so.“
„Hmmm“, machte Noah. „Hat J.J. währenddessen zufällig Julius erwähnt?“
Er blickte in erstaunte Gesichter. „Julius?“, wiederholte Johannes stirnrunzelnd.
„Julius Adam, mein früherer Mitbewohner“, erklärte Noah. Er musste wohl vom Anfang beginnen. „Ich versuche, seinen Tod besser zu verstehen, da er ja am gleichen Abend zurück ins Internat gefahren und dann vom Dach –“ Er stockte. „gesprungen ist.“
„Tragische Sache, da hab ich von gehört“, sagte Elena. „Dass sich jetzt sogar jemand aus J.J.s Laufteam das Leben nimmt, zeigt ja, was er für ein Tyrann sein kann!“
„Habt ihr mitgekommen, ob J.J. und Julius nochmal miteinander Kontakt hatten an dem Abend? Vielleicht vor oder nach dem... Vorfall auf dem Hotelzimmer?“, setzte Nico an.
Johannes schien nachzudenken. „Ich kann mir schon vorstellen, dass J.J. im Abschlusstraining seinen Leuten ordentlich was eingetrichtert hat. Am nächsten Tag waren schließlich Meisterschaften. Aber danach … Nachdem er uns erwischt hat, war es wohl eher seine gescheiterte Ehe, die ihn beschäftigt hat. So wie der ausgerastet ist und sich in den Suff geflüchtet hat!“
„Ihr habt ihn also zuletzt gesehen, als er am Abend auf dem Zimmer gedroht hat, er würde dich fertigmachen?“, fasste Noah zusammen.
„Ja … wobei, nein.“ Elena widersprach sich schnell. „Ich bin mitten in der Nacht nochmal zur Rezeption, um neue Eisbeutel für Johannes‘ Gesicht zu holen. Da saß J.J. immer noch an der Hotelbar und war sowas von sternhagelvoll. Als er mich gesehen hat, wollte er zu mir laufen und wäre fast umgekippt. Ein absolut erbärmlicher Anblick! Ich will nicht wissen, wie er in der Nacht überhaupt noch ins Bett gekommen ist!“