41. Kapitel: Spaghettieis mit Pistaziengeschmack

Sonntag, 21. August 2022, 15:12 Uhr

Der Himmel hatte sich etwas zugezogen, als sie sich von Johannes und Elena verabschiedeten und auf die Straße traten. Doch ein Wolkenbruch stand nicht bevor, auch wenn Noah sich einen gewünscht hätte. „Das war wohl ein Satz mit X“, fasste er seufzend zusammen. „Soviel zu der Theorie, dass J.J. an dem Abend hinter Julius hergefahren ist und ihn im Internat vom Dach gestoßen hat.“

„Aber ich finde, es war trotzdem ein aufschlussreiches Gespräch“, meinte Nico mit leuchtenden Augen. „Was für ein Drama, wie von Homer geschrieben. Der Trojanische Krieg. Die schöne Helena, äh Elena, wird ihrem Mann geraubt oder verlässt ihn freiwillig, je nach Art der Betrachtung. In der Antike kommt der gehörnte Ehemann mit einem ganzen Heer an, inklusive Achilles und Patroclus, und belagert Troja. Heutzutage wird so ein Krieg eben mit anderen Waffen geführt. Da macht der gehörnte Ehemann den Nebenbuhler durch Rufmord fertig, indem er ihn der sexuellen Belästigung beschuldigen lässt lässt.“

„Ganz schön theatralisch ausgedrückt!“ Noah blickte Nico kritisch an: „Die schöne Elena … Gefällt sie dir?“

„Klar, wegen der werd ich jetzt hetero“, sagte Nico in erstaunlich trockenem Tonfall.

„Idiot“, antwortete Noah und knuffte Nico in die Seite.

„Selber Idiot, wenn du das von mir glaubst“, entgegnete Nico grinsend und ergriff Noahs Hand. Für einen Moment hielt Noah inne, schließlich standen sie auf dem Bürgersteig mitten in der Stadt. Warf ihnen die alte Dame im rosafarbenen Kostüm dort drüben nicht bereits einen missbilligenden Blick zu? Aber was hatte er eigentlich mit der zu tun? Wenn sich die alten Schweriner Damen bislang noch nicht an den Anblick zweier verliebter junger Männer gewöhnt hatten, wurde es vielleicht mal Zeit. Noah versuchte seine Nervosität hinter einem selbstbewusst aussehenden Lächeln zu verstecken und flocht seine Finger in Nicos. Wie als Antwort erstrahlte Nicos Gesicht in einem Lächeln: „Dann mal los zum Eiscafé.“

Kurz darauf blickte Noah über seinen Spaghettieisbecher zu seinem Freund, der sich gerade einen Löffel Pistazieneis in den Mund schob und dabei sehr zufrieden aussah. Auch er genoss die kühle Kombination aus Vanille und Erdbeergeschmack auf seiner Zunge. Wann hatte er zuletzt Eis gegessen? Trotz Ernährungsplan sollte er sich so etwas öfter gönnen, entschied er.

„Woran denkst du?“, fragte Nico.

„Hmm, eigentlich an zwei Dinge. Erstens, das Eis bei Luigi’s ist echt super“, meinte Noah und wurde dann ernster. „Zweitens, J.J. ist ein Arsch, auch wenn er wohl nicht für Julius‘ Tod verantwortlich ist.“

„Absolut“, stimmte Nico zu. „Er hat Amelie wie eine Schachfigur benutzt in seinem private Rachefeldzug gegen Johannes. Dafür wird er büßen und für das Doping sowieso.“

„Nur was Julius‘ Tod angeht, sind wir nicht schlauer als vorher. Alles wegen dieser blöden Zufälle. Dass J.J. seine Frau mit ihrem Neuen ausgerechnet an dem Abend vor den Meisterschaften erwischen muss, an dem Julius aus dem Doping aussteigen will!“, sagte Noah und nahm sich einen neuen Löffel Eis.

„Tja, es gibt blöde Zufälle im Leben. Und auch schöne Zufälle.“ Nico sah ihn herausfordernd an und grinste.

„Dass du ein paar Tage später ins Internat gewechselt bist, war definitiv einer der schöneren Zufälle“, stellte Noah fest.

Nico betrachtete währenddessen sein Pistazieneis. „Willst du auch mal probieren?“ Sogleich schob er ihm einen Löffel in den Mund. Ja, Pistazie war ganz lecker, doch für Noah konnte es nicht mit Spaghettieis mithalten.

Er dachte wieder an Julius. „Dann muss die Polizei eben herausfinden, was wirklich mit ihm passiert ist. Lass uns morgen hingehen und von den bisherigen Hinweisen erzählen, dem Abschiedsbrief und wie wir das mit dem Aussteigen verstehen. Die Polizei hat ganz andere Möglichkeiten, um alles aufzuklären – auch auf die Gefahr hin, dass der Täter gewarnt wird, wenn sie hier alle verhören.“

Nico nickte langsam. „Lass uns das morgen Nachmittag nach dem Training machen. Vielleicht fällt uns bis dahin noch etwas ein. Außerdem willst du bestimmt keine Schulstunde verpassen?“ Er zwinkerte ihm zu.

„Du kennst mich schon zu gut“, sagte Noah seufzend. „Aber du hast recht, so geben wir Amelie noch die Möglichkeit, morgen früh als erstes vom Doping zu erzählen. Es wird ganz schön was los sein im Internat, wenn das an die Öffentlichkeit kommt!“

„Ja, Doping im Elite-Sportinternat wird verdammt hohe Wellen schlagen“, pflichtete ihm Nico bei. „Da kommen harte Zeiten auf uns zu.“

„Das Internat wird einen Preis dafür zahlen müssen. Womöglich hängen außer J.J. noch mehr Leute mit drin. Mich würde echt interessieren, wie er es geschafft hat, dass bei den Dopingkontrollen nichts rauskommt. Hoffentlich klärt sich alles schnell auf und man lässt uns, die nichts damit zu tun haben, weiter unserem Sport nachgehen …“ Der Gedanke daran, dass die Leistungen aller Sportlerinnen und Sportler des Internats, auch seine, in den Zweifel gezogen werden könnten, ließ ihn erschaudern.

Auch Nicos Stimme klang ernst. „Man wird uns alle genau unter die Lupe nehmen. Doch das kann uns ungedopten, fairen Sportlern doch nur recht sein. Noah, du wirst weiter springen können, egal was sich im Lauf-Team ändert. Die Gerechtigkeit wird sich durchsetzen.“

Nico und sein Glaube an die Gerechtigkeit , dachte Noah. Aber seine Bedenken ließen tatsächlich etwas nach. „Ja, ich hoffe, dass alles gut wird. Ich will schließlich, dass die Wahrheit rauskommt über das Doping und über Julius‘ Tod. Gleichzeitig wünsche ich mir, dass mein Leben genauso bleibt, wie es jetzt in diesem Moment ist. Aber so ganz geht das wohl nicht.“

Er blickte auf sein Spaghettieis und sah aus den Augenwinkeln, wie Nico seinen Eisbecher anwinkelte, um noch an den letzten Rest zu kommen. Einen Moment sagte niemand etwas, dann erklang Nicos Stimme in hoffnungsvollem Ton: „Das wird schon. Noah, auch du kannst dich an neue Situationen anpassen. Wir werden schauen, wie sich alles entwickelt und … wir können das zusammen durchstehen.“ Bei diesen Worten empfand Noah das dringende Bedürfnis, noch näher an ihn zu rücken.

„Hey, willst du mal eine Kombination aus Pistazie und Spaghettieis schmecken?“, fragte Nico und zwinkerte ihn zu, während er sich einen Eislöffel in den Mund schob. Als er sich langsam zu ihm beugte, fuhren Noah zwei Gedanken durch den Kopf. Erstens, dass sich noch andere Leute im Eiscafé befanden und zweitens, dass ihm das eigentlich ziemlich egal war. So verschmolzen ihre Lippen miteinander und Noah spürte trotz der Kälte des Spaghettieises mit Pistaziengeschmack eine wohlige Wärme durch seine Adern rauschen.

***

Zurück im Internat beschlossen sie beide für den Rest des Nachmittags, etwas zu arbeiten. Während Nico über ein Textdokument gebeugt war, das nach Englisch-Hausaufgaben aussah, las Noah in seinem Buch zu den Problemen der höheren Mathematik. Jetzt, wo er sich bestärkt fühlte, neben dem Stabhochsprung ein Mathe-Studium zu verfolgen, war er motivierter denn je, sich mit den anspruchsvollen Sachverhalten auseinander zu setzen.

„Ziemlich tricky, diese Differentialgleichungen“, stellte er fest.

Nico sah mit einem belustigten Gesichtsausdruck zu ihm hinüber: „Es gibt ein mathematisches Problem, das Noah Bergmann nicht lösen kann?“

Noah musste lächeln: „Schon Einstein hat gesagt, beschwer dich nicht über deine Probleme mit der Mathematik – ich kann dir versichern, meine sind noch viel größer. So ist das eben in Mathe. Aber ich sehe es eher als Herausforderung an.“

Ja, eine Herausforderung. Er wünschte, er könnte auch außerhalb der Mathematik Probleme bloß als Herausforderungen sehen … Warum eigentlich nicht? „Weißt du was? Ich bin bereit für die nächste Herausforderung. Lass uns gleich beim Abendessen Hand und Hand in den Speisesaal gehen und schauen was passiert. Was meinst du? Sollen wir das machen?“

Nico sah ihn mit geöffnetem Mund an, ging dann zu ihm und umarmte ihn von hinten. „Ja, das machen wir.“

„Was meinst du, wie sie reagieren werden?“, fragte Noah. Nach der ersten Eingebung kamen doch wieder ein paar Bedenken. Luisa hatte zwar gesagt, er solle Nico einfach in der Schule so küssen, wie sie es mit Thor machte, doch war das wirklich so einfach? Vor fremden Leuten in der Eisdiele war es etwas anderes als vor sämtlichen Mitschülerinnen und Mitschülern, die ihn seit Jahren kannten.

„Sie werden vor Ehrfurcht im Boden versinken, dass es mir gelungen ist, so einen starken, schlauen, erfolgreichen, reflektierten und dazu noch umwerfend aussehenden Typen erobert zu haben“, sagte Nico mit säuselnder Stimme.

„Schleimer!“ Noah knuffte ihn in die Seiten, fühlte sich aber bestärkt. Bevor er es sich anders überlegen konnte, ergriff er Nicos Hand, und sie machten sich auf den Weg in den Speisesaal.

Dort herrschte um diese Uhrzeit ein reges Treiben. Solange niemand von ihnen Notiz zu nehmen schien, setzte Noah alles daran, sich ruhig und normal zu verhalten. Was gab es eigentlich zu essen? Vom Stand mit dem Alaska-Seelachs schritt er mit Nico an der Hand weiter zum asiatischen Glasnudel-Gemüsewok. Wurde da hinten getuschelt? Nun glaubte er seinen Namen zu hören; aus dem Augenwinkel sah er, wie jemand mit dem Kopf auf ihn deutete. Nico führte ihn von der Essensausgabe weiter in die Mitte des Speisesaals und nun spürte Noah einige Augen auf sich. Er drückte die Hand seines Freundes fester, merkte, wie er rot wurde, aber auch lächelte.

Plötzlich erhob sich ein Ruf über das Getuschel. Noah konnte nicht genau ausmachen, von wo er kam, vermutlich von einem der Sprinter oder der Speerwerfer, doch er fuhr ihm ins Mark: „Ey, seid ihr schwul oder was?“

Als Nico sich ihm in diesem Moment zuwandte, wusste Noah, was er zu tun hatte und was die beste Antwort auf diese Frage war. Er legte seine Arme in Nicos Nacken und küsste ihn, erst vorsichtig und dann inniger, was dieser mit mindestens genauso viel Eifer erwiderte. Im Speisesaal vor allen anderen!

Das Blut pochte Noah vor Aufregung in den Ohren und dennoch realisierte er, dass es still geworden war. Kurz darauf vernahm er auf einmal ein zaghaftes Klatschen. Und dann klatschte noch jemand, dann noch jemand, bis es sich zu einem kleinen Applaus steigerte. Als er sich von Nico löste, erblickte er an einem der hinteren Tische Luisa, die lächelnd in die Hände klatschte und ihm dabei zujubelte. Da war sie nicht die einzige. Natürlich gab es auch einige, die ihn mit offenem Mund anstarrten und Noah glaubte ein paar Pfiffe zu vernehmen, von denen er sich nicht sicher war, ob sie positiv oder negativ gemeint waren. Konnte er nicht auch irgendwo das Wort „Schwuchtel“ hören? Aber wenn schon, dann erstarb es im Applaus und Geplapper der Menge. Es war, als ob die Menge Noah Schutz gab, denn etwaige Idioten trauten sich in aller Öffentlichkeit nicht, sich darüber zu erheben.

„Ich glaube, ich nehme heute den Glasnudel-Gemüsewok“, sagte Nico schließlich und trat einen Schritt zur Seite. Auch wenn sich das ganze wohl innerhalb von ein bis zwei Minuten abgespielt hatte, kam es Noah wie eine Ewigkeit vor. Aber keine unangenehme Ewigkeit. Eher eine erleichternde Ewigkeit.

Als sie wenig später an den Tisch zu ihren Freunden traten, empfing sie Luisa gleich mit „Glückwunsch ihr beiden, wie cool war das denn?!“ Auch Nele und Felix gratulierten, wobei Noah auffiel, dass Nele es vermied, ihm in die Augen zu sehen.

„Wir können dann bald Triple Dates machen“, stellte Luisa überschwänglich fest und blickte in die Runde. „Jetzt erzählt mal von eurem Wochenende. Was habt ihr heute gemacht?“

Nele schwärmte von einem Picknick mit Felix am Seeufer; Luisa und Thor erzählten, wie sie am Abend vorher bis zum Sonnenuntergang mit dem Tretboot unterwegs waren. Noah berichtete ebenfalls von der Tretbootfahrt, und Nico erwähnte noch das gemeinsame Eisessen in Schwerin. „So könnte das Leben eigentlich weitergehen.“ Er strich Noah über die Hand.

Thor warf Noah einen skeptischen Blick zu und lächelte dann matt. „Wo ist eigentlich Aylin?“, fragte er.

„Ich glaube, die ist wieder mit ihrem mysteriösen Freund beschäftigt“, vermutete Luisa. „Ich bin echt gespannt, ob sie uns noch mal verrät, auf wen sie steht, wenn es nicht dieser Cousin aus Castrop-Rauxel ist.“

Noah lächelte, während er weiter sein Seelachs-Filet schnitt. Ja, eigentlich war bei seinen Freunden alles wie immer und das war wunderbar. Naja, fast alles. Er warf einen prüfenden Blick zu Thor. Aber auch der musste doch einsehen, wie glücklich er mit Nico war! Womöglich brauchte er einfach noch etwas Zeit, um sein Misstrauen zu überwinden. Zeit und gemeinsame Aktivitäten.

„Was haltet ihr davon, wenn wir gleich alle zusammen ein paar Runden Ligretto spielen?“, schlug Noah vor. „Es ist ja noch recht früh, und zum Lernen bleibt danach noch – “

„Als ob du uns dazu überreden müsstest!“, rief Felix aus, und die anderen stimmten ein.

Als sie nach dem Essen ihre Tabletts wegräumten, passte Nele Noah ab. „Noah, ich –“, begann sie und blickte nach unten. Sie wirkte beschämt, so als suchte sie nach den richtigen Worten.

Auch Noah war es unangenehm, doch sie mussten miteinander reden. Er öffnete den Mund und sagte: „Es tut –“ Sie hatte gleichzeitig mit „Es tut –“ begonnen. So vollendeten sie beide „Es tut mir leid“ und mussten lachen.

„Ich wusste gar nicht, dass du auf Jungs stehst. Ansonsten hätte ich nicht versucht dich …“ Sie schob sich eine Strähne hinters Ohr. „Das ist mir im Nachhinein so peinlich, ich muss dich voll genervt haben!“

„Nein, nein“, wiegelte Noah ab. „Kein Ding. Ich hätte dir einfach sagen sollen, was Sache ist.“

„Und dabei standest du die ganze Zeit auf Nico! Ihr seid übrigens voll das schöne Paar. Ich glaub, ich war echt blind. Felix sagt das auch. Er meint nämlich, er hätte schon seit dem ersten Tag ein Auge auf mich geworfen und ich hab’s nicht gecheckt … Als er mich auf der Latino Beach Party geküsst hat, war ich echt überrascht. Wir lernen uns jetzt kennen und schauen, ob das was wird. Alles ganz relaxed.“

„Ich freu mich für euch beide“, erklärte Noah und spürte wieder die Erleichterung. Es war erstaunlich, wie sich manche Probleme in Wohlgefallen auflösten.

„Echt? Und ich freue mich umso mehr auf Ligretto, wenn nichts mehr zwischen uns steht!“ Sie strahlte ihn an. „Dann kann ich dich mit gutem Gewissen abzocken, fast so wie beim FIFA-Spielen.“

„Das werden wir mal sehen!“

Wenig später saß Noah mit Nico, Luisa, Thor, Nele und Felix im Gemeinschaftsraum. Die bunten Spielkarten stapelten sich rasant übereinander, während alle gleichzeitig agierten und dabei jubelten, lachten oder sich ärgerten. Mal strich er Nico sanft über den Arm, mal zwickte er ihn in die Seite, wenn dieser ihm mit seiner Spielkarte zuvorgekommen war. Und all das inmitten seiner Freunde ohne sich verstecken zu müssen. Noah wurde wieder einmal bewusst, wieviel Glück er hatte. Und das nicht, weil er die zweite Runde gewann, sondern weil er von so wunderbaren Menschen umgeben war. So gelang es ihm an diesem Abend fast, die offenen Fragen um Julius‘ Tod zu verdrängen, die noch in seinem Kopf kreisten. Ebenso wie Thors bisweilen kritischen Blick, wenn er Nico küsste.