Montag, 22. August 2022, 13:47 Uhr
Noah wurde plötzlich von freudiger Aufregung gepackt. Julius hatte anscheinend einen USB-Stick irgendwo zwischen Matratze und Lattenrost seines Bettes versteckt! Noah erkannte den Stick wieder, er erinnerte sich daran, wie Star-Wars-Fan Julius ihn ab und zu in seinen Laptop gesteckt hatte. Noahs Gedanken rasten, während er das kleine silberne Gerät vorsichtig in seiner Hand hin- und herdrehte. Eigentlich hatte er sich ja vorgenommen, mehr über Nico herauszufinden, aber das würde nun warten müssen.
Ein versteckter USB-Stick! Ein USB-Stick, den bisher wohl niemand gefunden hatte, weder der Täter noch die Polizei noch Julius‘ Familie, als sie seine Sachen mitgenommen hatten. Es war einen Versuch wert. Noah dachte daran, was Sabine über Julius‘ Laptop erzählt hatte. Dieser hatte nicht viel preisgegeben, vermutlich sei vieles gelöscht worden. Es war gut möglich, dass der USB-Stick ebenfalls leer war und Noah sich ganz umsonst Hoffnungen machte. Aber vielleicht auch nicht. Er durfte nicht länger zögern.
Mit zitternden Händen steckte er den Stick in seinen Laptop. Bitte, bitte, lass ihn nicht passwortgeschützt sein!
Noah hatte Glück, und der Stick offenbarte direkt seinen Inhalt. Er sah verschiedene Ordner, die Titel wie „Schule“ oder „Fotos“ trugen. Aber Noahs Aufmerksamkeit richtete sich auf ein einzelnes Text-Dokument außerhalb der Ordner. Es trug den Namen „Bekanntmachung“ und – Noah stockte der Atem – war am 12.08.2022 um 20:49 gespeichert worden. Am Freitagabend, dem Abend von Julius‘ Tod.
Noahs Herz raste, und er spürte, wie in ihm der Schweiß ausbrach, als er das Dokument öffnete:
„Öffentliche Bekanntmachung
Hiermit möchten wir an die Öffentlichkeit gehen und darauf aufmerksam machen, dass im Sportinternat am Schweriner See Doping im Langstreckenlauf betrieben wird. Angeleitet durch unseren Trainer Jörg John nehmen wir drei Unterzeichner seit mehreren Monaten täglich Tabletten anaboler Steroide zur Steigerung unserer muskulären Ausdauer. Uns ist bewusst, was dieses Eingeständnis für unsere eigene sportliche Laufbahn und für den Ruf des ganzen Internats bedeutet. Dennoch halten wir es für unsere Pflicht, das Wort zu erheben und aus dem Teufelskreis auszubrechen, sowohl unserer Gesundheit zuliebe als auch aus Gründen der sportlichen Fairness. Es wäre nicht richtig, morgen bei den Deutschen Jugendmeisterschaften anzutreten und unsere ehrlichen Mitbewerber mit diesen unsauberen Mitteln zu betrügen. Wir bitten um Veröffentlichung dieses Briefes in den nationalen Medien.
Sportinternat am Schweriner See, Freitag, 12.08.2022
Julius Adam
Cem Özgün
Malte Vogt“
Noah starrte mit offenem Mund auf den Bildschirm. Dieser Brief war so formuliert, als hätten ihn die drei Langstreckenläufer gemeinsam verfasst. Aber mit der gemeinsamen Absicht konnte es nicht weit her gewesen sein. Schließlich war der Brief nie veröffentlicht worden. Stattdessen kam einer der drei kurz darauf zu Tode, während die anderen beiden beim Wettkampf am nächsten Tag Bestzeiten erzielten.
Es lief Noah kalt den Rücken hinunter. Seine Gedanken drifteten zu Malte, dem Goldmedaillengewinner aus reichem und wohl sehr forderndem Elternhaus, der bereits den ersten Werbevertrag in der Tasche hatte. Er dachte an Cem knapp hinter ihm, den Arbeitersohn mit dem Internatsstipendium. Vereint darin, dass sie alles auf den Sport gesetzt und nun verdammt viel zu verlieren hatten. Ganz anders als Julius. Aus dem Brief sprach eindeutig Julius‘ Stimme. Julius, der ein schlechtes Gewissen wegen des Dopings hatte und aussteigen wollte.
Noah musste an Amelie denken, deren Namen nicht auf dem Brief stand. Aber womöglich wussten ihre männlichen Teamkollegen nicht, dass auch sie die Tabletten bekam. Ihrer Schilderung nach hatte ihnen J.J. eingeschärft zu schweigen, da jeder sie nehmen, aber niemand darüber sprechen würde.
Musste Julius sterben, weil er darüber sprechen wollte? Hatte er herausgefunden, dass auch Malte und Cem gedopt waren und wollte sie davon überzeugen, mit ihm zusammen auszusteigen? Und stattdessen …
Der Gedanke, dass seine beiden Mitschüler für Julius‘ Tod verantwortlich sein könnten, erschütterte Noah. Das Motiv war klar. Aber wie sollte das abgelaufen sein? Ihm kam Maltes blaues Auge in den Sinn, das sich dieser bei einer Schlägerei im Irish Pub gegenüber vom Hotel in Hamburg zugezogen hatte. Mit irgendwelchen Nazis, wie Cem erzählt hatte. War es möglich, dass sie erst bei Julius im Internat waren und sich dann, um die Tat zu vergessen, im Irish Pub besoffen hatten? Aber das kam doch zeitlich überhaupt nicht hin, oder?
Noah konnte förmlich spüren, dass er der Wahrheit ganz nah war. Er schluckte. Er musste wissen, was genau mit Julius, Cem und Malte an dem Abend passiert war. Er musste außerdem wissen, was Nico eigentlich zu verbergen hatte. Er musste … Mist! Er musste zum Training. Die Uhr seines Laptops zeigte 13:58.
Ihm war überhaupt nicht nach Aufroller am Seil zumute. Doch schon wieder ein Training zu verpassen oder abzubrechen konnte er sich jetzt nicht leisten. Nicht ohne dass Martin sich ernsthafte Sorgen um ihn und seine Form machen würde. Er verstaute seinen Laptop sowie Julius‘ USB-Stick auf seinem Schreibtisch, packte seine Sportsachen und rannte los.
Auf dem Weg zur Sporthalle traf er Aylin. Sie war ebenfalls spät dran, doch das schien sie nicht weiter zu stören. „Noah!“, rief sie aufgeregt und umarmte ihn. „Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, euch zu gratulieren! Ich bin ja so stolz auf dich.“ Noah wusste gar nicht, wie ihm geschah und erst recht nicht, wovon sie eigentlich sprach.
„Dass du und Nico so tough und mutig seid, finde ich super! Man muss zu seiner Liebe stehen!“
Noah schluckte. Ach ja, Nico und er, da war was … „Äh danke, aber jetzt sollten wir uns beeilen, damit wir nicht zu spät zum Training kommen“, sagte er knapp und beschleunigte seine Schritte.
Doch Aylin war noch nicht fertig. „Das ist egal, denn es gibt Wichtigeres. Mensch, Noah, du bist mein Vorbild! Du und Nico, ihr habt vollkommen recht, man darf sich und seine Liebe nicht verstecken, nur weil es ein paar ignorante Idioten gibt, die festgefahrene Meinungen haben, wen man lieben darf und wen nicht. Und deshalb werde ich jetzt allen erzählen, mit wem ich nun seit anderthalb Jahren zusammen bin.“
Sie strahlte vor Freude und Energie, warf Noah einen geheimnisvollen Blick zu und verkündete dann mit hochtrabender Stimme: „Es ist … natürlich nicht mein Cousin Erek aus Castrop-Rauxel. Es ist Daniel. Daniel Wagenknecht!“
Noah blieb stehen. „ Der Daniel Wagenknecht?“
Aylin lachte: „Wie viele kennst du denn noch? Ja, klar, der Daniel Wagenknecht aus Stuttgart. Weißt du noch, die Siegesfeier nach dem Jugend-Cup in Frankfurt vor anderthalb Jahren? Da hat es Klick gemacht und seitdem führen wir eine heimliche Fernbeziehung. Hart, aber wir halten das durch. Wir telefonieren ständig, und genießen jede Minute zusammen, wenn wir vor und nach einem Wettkampf etwas Zeit für uns haben. Daniel ist einfach toll!“
Aylin war so von Stolz und Liebe erfüllt, dass Noah sich tatsächlich für sie und Daniel freute. Gleichzeitig versuchte er, diese neue Information zu verarbeiten. „Äh, Glückwunsch, das freut mich echt für euch. Und es ist total mutig von dir, dass du jetzt offen dazu stehst. Ich meine, deine Eltern werden nicht begeistert sein und auch dein Bruder sowie alle anderen Läufer … Ausgerechnet der große Konkurrent, der süddeutsche Erzfeind.“
Und gleichzeitig derjenige, mit dem sich Julius im Trainingscamp angefreundet und den er als ehrlich bezeichnet hat, fügte er in Gedanken hinzu. Aylin schien eine gute Wahl getroffen zu haben.
„Deswegen haben wir es ja geheim gehalten. Aber es ist mein Leben und nicht Cems! Und außerdem macht Cem auch, was er will. Wenn er und Malte mal wieder besoffen irgendwelche Frauen aufreißen, um den großen Macker zu markieren … Immerhin fallen sie damit ab und zu auf die Schnauze und holen sich ne ordentliche Abfuhr samt blauem Auge ab. So wie am Abend vor den Meisterschaften in Hamburg.“
„Wie? Was war am Abend vor den Meisterschaften in Hamburg?“ Noah glaubte, sich verhört zu haben.
„Ich weiß, ich hab gelogen“, seufzte Aylin. „Nein, ich war nicht den ganzen Abend allein auf meinem Zimmer. Sondern mit Daniel zusammen. Als wir ums Hotel herumgegangen sind, haben wir auf dem Parkplatz gesehen, wie Cem zu Malte in den BMW gestiegen ist. Ich denke, sie sind nach Sankt Pauli gefahren. Morgens hatten sie noch rumgetönt, sie wollten am Abend um die Häuser ziehen und Weiber auf der Reeperbahn aufreißen. So haben sie es genannt! Naja, und am nächsten Tag hatte Malte dieses blaue Auge und auch Cem hat ein paar Kratzer, wie ich später gesehen habe. Da schienen sie bei den Weibern auf der Reeperbahn nicht so toll angekommen zu sein, haha. Geschieht den beiden nur recht! Aber wenn ich mich aus Cems Frauengeschichten raushalte, dann soll er sich auch aus meinem Liebesleben raushalten.“
„Aber haben Malte und Cem nicht den Abend im Irish Pub gegenüber vom Hotel verbracht und sind dort in eine Schlägerei mit Nazis geraten?“, fragte Noah vorsichtig. „Das hat Cem doch erzählt.“
„Das haben sie sich wohl ausgedacht. Im Irish Pub waren sie auch später nicht. Da hab ich nämlich mit Daniel noch vorbeigeschaut, als wir sicher waren, dass dort niemand war, den wir kannten. Ist ne nette Bar. Wie auch immer, für Cem und Malte ist es natürlich besser, mit einer angeblich toughen Schlägerei mit Nazis herumzuprahlen als zuzugeben, dass sie sich ne Abfuhr bei irgendwelchen Frauen eingeholt haben“, mutmaßte Aylin. „Warum willst du das eigentlich so genau wissen?“
Noah spürte einen neuen Anflug von Energie, jetzt, wo sich alle Puzzleteile um Julius‘ Tod zusammenfügten. Das Training war ihm auf einmal egal. Sollte sich Martin doch Sorgen um ihn machen, sollte er ruhig aus noch einer weiteren Routine ausbrechen. In diesem Moment gab es Wichtigeres. Er musste Cem mit seinem Verdacht konfrontieren und zwar sofort. Er brauchte Gewissheit.
„Sag Martin, ich komme ein bisschen später zum Training“, sagte er zu der ziemlich verdutzt dreinblickenden Aylin, drückte ihr seine Sporttasche in die Hand und lief in die entgegengesetzte Richtung davon.