44. Kapitel: Unter Wasser

Montag, 22. August 2022, 14:09 Uhr

Nico hatte am Morgen erwähnt, dass bei den Langstreckenläufern an diesem Nachmittag ein Outdoor-Lauf am See anstand. Ja, Nico … In Noah zog sich beim Gedanken an ihn etwas zusammen. Kurz überlegte er, ob er Nico von den neuen Entwicklungen in Sachen Julius erzählen sollte. Sie hatten schließlich in den letzten Tagen alles zusammen gemacht. Seit Nico ihn nach der Erkenntnis über den falschen Abschiedsbrief emotional aufgebaut und ihm Mut gemacht hatte, hatten sie immer zusammen überlegt und gemeinsam versucht, das Rätsel um Julius‘ Tod zu lösen.

Doch nun war es Nico, der für Noah ein großes Rätsel darstellte. Nico, der bereits das Abitur hatte und der ihn von Anfang an angelogen hatte. Noah spürte wieder die unermessliche Enttäuschung und Wut in sich. Er wusste nicht, ob er ihm noch vertrauen konnte. Nein, er würde erst einmal seinen Verdacht bezüglich Malte und Cem bestätigen und dann zur Polizei gehen. Anschließend konnte er Nico immer noch zur Rede stellen.

Die Sonne schien und die Wasservögel schwammen auf dem Schweriner See. Gleichzeitig war es mit etwas mehr als 20 Grad nicht zu heiß, ideales Wetter für den Outdoor-Lauf. Bald hatte er die Läufer entdeckt, die teils einzeln und teils in kleinen Grüppchen den Weg entlang kamen.

Noah nahm sich vor, Cem abzupassen. Mit ihm würde er vermutlich besser reden können als mit Malte. Cem schien ihm weniger abgebrüht, mochte er noch so ein Aufschneider sein.

Da war er! Noah erkannte mit großer Erleichterung, dass Cem alleine lief. Dennoch schlug sein Herz bis zum Hals und er spürte, wie ihm zugleich heiß und kalt wurde. Es ging um nichts weniger als darum, den Menschen, der wohl zumindest eine Mitschuld an Julius‘ Tod trug, mit seiner Tat zu konfrontieren. Tatsächlich sagte eine leise Stimme in Noahs Kopf, dass das eine ziemliche Schnapsidee war. Total unüberlegt. Etwas, was er besser nicht tun sollte. Aber da war ein Drang, eine Kraft, die stärker war als die kleine Stimme. Und so schien diese emotionale statt rationale Handlung Noah in dem Moment das einzig richtige. Er stellte sich Cem in den Weg und hielt ihn auf: „Cem, wir müssen kurz reden!“

„Ey, spinnst du, ich hab Training!“ Cem wollte an ihm vorbei laufen, doch Noah ließ nicht locker und sagte mit leisen, aber deutlichen Worten: „Ich eigentlich auch. Aber ich weiß, was ihr mit Julius gemacht habt!“

Cem wurde kreidebleich und trat mit Noah zusammen einen Schritt zur Seite hinter die Büsche, die den Weg vom Ufer trennten. „Was meinst du?“

„Julius wollte am Freitagabend vor den Meisterschaften mit dem Doping an die Öffentlichkeit gehen. Mit Malte und dir. Ihr solltet das zu dritt machen. Dazu ist es aber nie gekommen. Was ist stattdessen passiert? Was habt ihr mit ihm angestellt?“ Noah war selbst erstaunt, wie kraftvoll und selbstsicher seine Stimme klang. War es die Wut, die ihn antrieb? Der Wunsch nach Wahrheit, der Sinn für Gerechtigkeit?

Cem schien von Noahs Worten überrumpelt. Hatte er gerade noch angestrengt beim Laufen geatmet, schien ihm nun die Luft wegzubleiben. Seine Augen weiteten sich. Nach einem Moment des Schocks stieß er hervor: „Ey, wir haben versucht, ihn zur Vernunft zu bringen, aber wir wollten doch nicht, dass er dabei stirbt!“

„Zur Vernunft zu bringen? Indem ihr ihn vom Dach stoßt?“ Noah konnte seine Wut kaum verbergen. Dennoch nahm er mit Genugtuung zur Kenntnis, dass Cem die Tat nicht leugnete und sich nicht rausreden wollte. Er konnte sehen, wie Cem der Schweiß über das Gesicht lief, was wohl nicht nur auf das Lauftraining zurückzuführen war. „Was ist genau passiert?“

„Ey, wir hatten Abschlusstraining in Hamburg und die Einzelgespräche. Danach fing Julius plötzlich an zu labern, wie falsch es wäre, da am nächsten Tag zu laufen und gedopt gegen andere anzutreten, bla bla bla. Er meinte zu Malte und mir, wir müssten zusammen gegen J.J. vorgehen und zusammen aussteigen. Das sagte er. Dann hätten wir noch ne Chance später woanders wieder Sport zu machen, wenn wir sauber wären. So’n Quatsch! Wir haben jetzt die Chance das Ding zu rocken und international Medaillen abzuräumen. Das kann der uns doch nicht einfach wegnehmen! Das hat Malte ihm klar gesagt. Aber Julius ist hart geblieben und ins Internat gefahren, um diesen verfickten Brief für die Presse zu schreiben. Wir sind später hinterher. Und dann saß Julius mit seinem Laptop oben auf diesem Scheiß-Dach.“

Klar, dachte sich Noah. Julius fühlte sich auf dem Dach frei und konnte am besten nachdenken. Allerdings hatte er zu diesem Zeitpunkt schon eine Version seines Briefes auf dem USB-Stick gespeichert und sicher versteckt.

„Und dann habt ihr ihn vom Dach gestoßen?“

„Ey, wie gesagt, das wollten wir nicht!“ Cems Stimme bebte jetzt vor Verzweiflung. „Aber dieser Idiot wollte nicht auf uns hören! Das ist dann voll eskaliert. Malte hat ihn rechts gepackt, ich links, Julius hat versucht, um sich zu schlagen und Malte hat im Gesicht voll was abgekommen, ich auch ein paar Kratzer… Dann haben wir ihn fester gepackt. Wir wollten ihn nur nahe an den Abgrund ziehen, echt! Er sollte’n bisschen Schiss kriegen und die ganze Sache abblasen. Mehr wollten wir nicht. Aber dann ist er abgerutscht und … Scheiße eben.“

„Scheiße eben.“ Noah wiederholte Cems Worte in höhnischem Tonfall. „Mann, Julius ist tot! Und was macht ihr, anstatt dazu zu stehen, was passiert ist? Das Dokument vom Laptop löschen und einen Abschiedsbrief fälschen! Ihr habt Julius als depressiv dargestellt. Dabei musste er sterben, weil er mutig war und sich für seine Ideale eingesetzt hat!“ Noah wusste nicht, wann er zuletzt so wütend war. Vielleicht in seinem ganzen Leben noch nicht.

Cem war ganz still geworden und nickte nur noch matt. „Das war … das war alles ne Kurzschlussreaktion. Der Schock, als Julius tot da unten lag … Malte hatte die Idee mit dem Abschiedsbrief. Er meinte, wenn wir bei der Geschichte bleiben, dass Julius sich wieder geritzt hat und voll depri war, dann kann uns keiner was. All der Scheiß-Druck, ey, das macht ja Sinn, dann fragt keiner weiter nach. So hab ich schnell den Abschiedsbrief getippt, die Unterschrift versucht hinzumalen, und wir sind mit seiner Zimmerkarte rein. Ohne groß nachzudenken. Brief ablegen, Tabletten suchen, damit kein Beweis mehr da ist, meinte Malte. Und dann zurück nach Hamburg. Ich … ich stand irgendwie die ganze Zeit neben mir.“

Noah starrte Cem an, der betreten seine Sneakers betrachtete: „Kein Wunder, dass du Schiss bekommen hast, als ich in Chemie beiläufig sagte, du hast genau so eine unleserliche Schrift wie Julius! Und ich hab noch gedacht, dir geht sein Tod wirklich nahe!“

„Tut er doch auch! Wir wollten nicht, dass der stirbt! Aber was hätten wir denn machen sollen?“

„Ihn nicht vom Dach stoßen! Und anschließend keine Lügen über Julius verbreiten im Versuch, euren eigenen Arsch zu retten.“ Noah war überrascht davon, wie eindringlich er klingen konnte. „Cem, ihr müsst zur Polizei –“

„Was müssen wir?“, unterbrach ihn eine scharfe Stimme.

Noah erschrak, als Malte mit hochrotem Kopf und angespannten Gesichtszügen auf ihn und Cem zutrat. Dass er nun auch dabei war, änderte die Situationsdynamik komplett.

„Was hast du da gesagt, du Schwuchtel?“, fuhr Malte ihn an und packte Noah an der Schulter.

Die Panik, die Noah ergriff, wurde durch dieses Wort verstärkt, das ihn tief in seinem Inneren traf. Gleichzeitig löste sie etwas in ihm aus. Plötzlich kamen ihm Nicos Worte in den Sinn. „ Arschlöcher, die auf dich neidisch sind und dich ärgern wollen, werden immer eine Möglichkeit dafür finden. Entweder sie nennen dich Streber, Besserwisser oder eben Schwuchtel.“ Hätte er sich nicht geoutet, müsste er sich nun von Malte nicht als Schwuchtel bezeichnen lassen, aber dann hätte dieser bestimmt ein anderes Wort gefunden. „ Je selbstbewusster du wirst, desto weniger trifft dich das dumme Geschwätz.“ Selbstbewusstsein, gutes Stichwort. Das musste er jetzt zeigen!

Mit neuer Kraft riss er sich von Malte los, sah ihm ins Gesicht und sagte mit ebenso fester Stimme wie vorhin bei Cem: „Ich weiß, dass ihr gedopt seid und ich weiß, dass ihr Julius vom Dach gestoßen habt, um zu verhindern, dass er auspackt. Soviel Mumm wie er hattet ihr nicht. Mag sein, dass ihr ihn nicht töten wolltet. Aber ihr müsst euch der Polizei stellen. Die Wahrheit wird sowieso ans Licht kommen.“

Er atmete tief durch. Er hatte alles gesagt, was er sagen wollte. Vielleicht war es jetzt eine gute Idee, sich aus dem Staub zu machen.

Aber Malte ließ ihn nicht. „Was quatschst du da für dummes Zeug? Glaubst du, ich lass mir von dir meine Sportkarriere kaputt machen? Ich stehe kurz vor dem internationalen Durchbruch, bin Jugendmeister und hab meinen ersten Werbevertrag. Weißt du Superhirn, der immer alles weiß, eigentlich, worauf ich alles verzichtet habe? Wie hart das mit meinem Alten war? Bis der eingesehen hat, dass es sich wirklich lohnt, auf den Sport zu setzen anstatt, dass ich in die Firma einsteige? Natürlich muss sich das auszahlen, da muss ich schon gewinnen. Dafür rackere ich mich jeden Tag ab, dafür tue ich mir das alles an! Und jetzt kommt so’n Lahmarsch wie Julius oder so ein … so ein Schwanzlutscher wie du daher und plötzlich soll alles für’n Arsch sein? Du wirst schön deinen Mund halten, sonst …“

„Sonst was? Sonst stoßt ihr mich auch vom Dach?“, konnte sich Noah nicht verkneifen, wusste aber im gleichen Moment, dass er das besser nicht hätte sagen sollen. Denn augenblicklich rammte Malte ihm die Faust in den Magen. Ein dumpfer Schmerz durchfuhr seinen ganzen Körper und er verlor das Gleichgewicht, versuchte sich zu fangen und sich abzustützen, aber es gelang ihm nicht. Er musste weg von hier und zwar so schnell wie möglich!

Noah richtete sich mühsam auf und hörte wie Malte Cem, der bisher passiv daneben gestanden hatte, etwas zuraunte, das wie eine Drohung klang. Cem musste sich wohl entscheiden. Aber Noahs Hoffnung, er würde sich auf seine Seite schlagen und ihn entkommen lassen, wurde enttäuscht. Gerade als Noah einen Schritt Richtung Weg gemacht hatte, spürte er wie Cem seinen Arm ergriff und ihn zurückhielt. Malte packte ihn an der Schulter, und einen Moment später fand Noah sich auf den Boden gedrückt wieder. „Auuu!“ Noahs linkes Handgelenk knackte, und ihn durchzuckte ein stechender Schmerz. Scheiße! Hoffentlich war da nichts gebrochen. Es tat höllisch weh. „Du Arsch! Damit kommt ihr nicht durch!“, brachte er noch hervor, dann versagte ihm die Stimme und der Angstschweiß brach aus. Angst vor weiteren Verletzungen, Angst davor, was noch kommen würde.

Das Gewicht seiner Angreifer lastete schwer auf ihm, während er weitere Schläge auf sich einprasseln spürte. Was konnte er tun? Noahs Gehirn ratterte fieberhaft und suchte eine Lösung, aber es gab keine. Er war ihnen komplett ausgeliefert.

Zwei gegen Einen war ein aussichtsloser Kampf. Er schaffte es gerade mal, Malte mit seinen Füßen einen Tritt zu versetzen, mehr ging nicht. Dieser stöhnte kurz auf, sagte aber sogleich: „Weißt du was, Schwuchtel, wir geben dir mal einen kleinen Vorgeschmack darauf, was wir mit dir machen können, wenn du deine Klappe nicht hältst!“

Noah nahm alle seine Kraft zusammen und versuchte sich aus den Fesseln seiner beiden Angreifer herauszuwinden, doch es war unmöglich. Sein Handgelenk schmerzte und sein Brustkorb war wie taub durch die Nachwirkungen der Schläge. Als Malte und Cem ihn brutal nach oben rissen und noch einen Schritt weiterzogen, erkannte Noah mit Entsetzen, dass sie mittlerweile direkt am Ufer des Sees waren.

Nein!!! Seine Angst steigerte sich zur Panik, als ihm bewusst wurde, was sie vorhatten. Er riss den Mund auf, um nach Hilfe zu rufen, doch es kam kein einziges Wort raus. Er war wie gelähmt, gelähmt vor Todesangst.

Nicht der See! Doch sein innerliches Flehen half nichts. Er spürte, wie er nach unten gedrückt wurde. Plötzlich schlug das Wasser mit voller Wucht über seinem Kopf zusammen, kalt, hart, erbarmungslos. Instinktiv wollte er mit den Händen rudern, aber diese wurden festgehalten. Was konnte er tun? Was zum Teufel konnte er tun? Nichts außer sich darauf zu konzentrieren, die Luft anzuhalten. Einundzwanzig, zweiund-zwanzig … Wie viele Sekunden war er jetzt schon unter Wasser? Die Panik stieg ins Bodenlose und hatte Noahs ganzen Körper ergriffen. Nie in seinem Leben hatte er eine solche Todesangst erlebt. Der Tod. Er wollte nicht sterben! Vergeblich versuchte er sich einzureden, dass Malte und Cem ihn nicht töten, sondern ihm nur Angst machen wollten. Gleichzeitig musste er an Julius denken. Hatte Julius das gleiche empfunden wie er jetzt, als sie ihn auf dem Dach an den Abgrund gezerrt hatten?

Endlich spürte Noah, wie sein Körper aus dem Wasser gerissen wurde. Er japste erleichtert nach Luft. Maltes höhnisches „Na, willste nochmal, du Schwuchtel?!“, drang an sein Ohr. Er musste die Gelegenheit nutzen; er musste um Hilfe schreien. Aber wie konnte er schreien, während er noch weiter nach Luft keuchte? Voller Panik presste er ein „Hilfe!“ heraus, was allerdings erst seinen Mund verließ, als sein Kopf wieder auf die Wasseroberfläche traf. Nein!

Jetzt hatte er auch noch Wasser geschluckt. Er musste auftauchen, er musste nach oben, er musste husten, er konnte nicht, er bekam keine Luft mehr, alles schien sich um ihn zu drehen, er konnte einfach nicht mehr… Es war, als würde er in ein schwarzes Loch fallen.

Im gleichen Moment spürte er wieder eine Bewegung, irgendetwas zog ihn nach oben. Wie durch einen Nebel hindurch hörte er das Wort „Polizei“. Dann sackte er endgültig weg und glitt hinab in die Dunkelheit.