45. Kapitel: Surreal

Montag, 22. August 2022, 14:35 Uhr

Vorsichtig und verwirrt öffnete er die Augen. Wo war er, und wie spät war es? Träumte er oder erwachte er gerade aus einem Traum? Es war hell, zu hell. Irgendwie war noch alles verschwommen. Er sah Farben, blau, weiß und grün. Und wieder blau. Irgendwie surreal. Endlich schaffte er es, den Blick zu fokussieren. Da waren blaue Augen. Blaue Augen, die er kannte. Nicos blaue Augen. Er saß über Noah gebeugt, trug die Sportkleidung in den Farben des Internats und blickte ihn sorgenvoll an. Seine Stirn war in Falten gelegt, doch auf seinen Lippen zeigte sich ein leichtes Lächeln, als Noah die Welt um sich herum langsam deutlicher wahrnahm. „Noah! Welcome back!“, sagte er mit sanfter Stimme, in der eine Menge Erleichterung mitschwang.

Noah fühlte sich noch immer benebelt. Wo war er? Der Untergrund, auf dem er lag, fühlte sich fest an, aber gleichzeitig weich. War das Gras? Warum fühlte sich sein Körper so schwer an? Er war nass, pitschnass! Erst dann merkte er, wie ruckartig sein Atem ging. Er hustete mehrmals tief und versuchte, sich aufzusetzen. „Ganz ruhig“, sagte Nico, strich ihm über den Rücken und stützte ihn.

„Auuu!“ Noah spürte wieder den stechenden Schmerz im linken Handgelenk, als er versuchte, es zu belasten. Stimmt, da war was. Vorsichtig fühlte er nach, was ihm sonst noch wehtat und versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, was zuletzt passiert war. Cem, Malte, das Wasser des Sees, die Angst, das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, in die Dunkelheit zu fallen … und die Polizei. Er sah keine Polizei. „Wo … wo ist die Polizei?“, fragte er verwirrt.

Nico sah ihm intensiv in die Augen. „ Ich bin die Polizei. Also mehr oder weniger. Ich studiere im dritten Jahr an der Polizeihochschule und bin in Absprache mit meinen Kollegen hier verdeckt tätig gewesen. Noah, ich muss dir das alles in Ruhe erklären. Es … es tut mir so leid, dass ich dir das nicht schon früher gesagt hab. Nicht früher sagen konnte.“

Noah starrte ihn an. Er schluckte. Das war gerade zu viel. Das konnte nicht sein. Das war alles nicht wahr. Das war total surreal. Vollkommen verrückt. Groteskerweise musste er daran denken, was Nico einmal über luzide Träume erzählt hatte. Vielleicht erlebte Noah das alles gar nicht wirklich, sondern träumte nur. Wie konnte man das noch mal herausfinden? Wenn eine Situation keinen Sinn ergab, so wie diese, war das ein Hinweis darauf, dass er träumte. Aber … „Auuu!“ Sein Handgelenk tat wirklich weh. Und zwar nicht im Traum, sondern in der Realität.

Nico war angehender Polizist. Ein Polizeistudent, der die ganze letzte Woche mit der Polizei zusammengearbeitet und Hinweise gesucht hatte. Auch wenn er das alles noch nicht ganz glauben konnte, ergaben plötzlich ein paar Dinge Sinn. Noah erinnerte sich daran, wie er mit Nico ohnehin über sein gelogenes Alter und sein vor zwei Jahren bestandenes Abitur reden wollte. Aber bevor er den Gedanken mit all seinen Implikationen in Ruhe zu Ende denken, geschweige denn aussprechen konnte, sagte Nico: „Meine Kollegen sind gleich da. Ich hab ihnen durchgegeben, in welche Richtung Malte und Cem versuchen am See entlang abzuhauen. Die werden sie bestimmt bald haben. Der Krankenwagen muss ebenfalls jeden Moment hier sein. Jetzt wird alles gut.“

Alles gut? Noah versuchte ein Lächeln, aber es gelang ihm nicht. Ihn durchströmten so viele unterschiedliche Gefühle, dass er heillos überfordert war. Er zitterte am ganzen Körper und spürte, wie Nico seinen Arm um ihn legte. Etwas in ihm entspannte sich, während sich etwas anderes in ihm gegen Nicos Umarmung sträubte.

„Du musst jetzt nichts sagen“, meinte Nico. „Hauptsache, dir ist nichts Schlimmes passiert.“

Noahs Gedanken streiften zurück zu dem Moment unter Wasser. Malte, Cem, die Gewalt, die Todesangst. „Danke“, brachte er schließlich hervor. „Malte und Cem … Wenn du nicht … Ich weiß nicht, was die beiden noch mit mir gemacht hätten.“

„Das war ganz schön waghalsig von dir, es alleine mit Malte und Cem aufzunehmen. Einer gegen zwei, so etwas sollte man eigentlich nie machen. Das lernen wir gleich am ersten Tag auf der Polizeihochschule.“

Noah war bewusst, dass er beinahe einen hohen Preis für seine Tollkühnheit bezahlt hätte. Wie war es eigentlich möglich gewesen, dass er, der kontrollierte Noah, so impulsiv gehandelt und es sich in dem Moment so richtig angefühlt hatte? Er überlegte. „Ich … ich war so sauer und … wollte einfach Gewissheit haben, was mit Julius passiert ist. Nachdem ich den USB-Stick gefunden hatte und das Alibi von Cem und Malte dank Aylin zusammengefallen war –“

„Welcher USB-Stick?“

„Liegt auf meinem Schreibtisch. Der USB-Stick mit dem Star Wars Logo“, erklärte Noah schnell, denn in diesem Moment hielt ein paar Meter entfernt ein Krankenwagen, aus dem eine Ärztin und zwei Sanitäter ausstiegen.

Während die Ärztin Noah in die Pupillen leuchtete und die Sanitäter seinen Blutdruck maßen, berichtete Nico kurz, was passiert war. „Er war kurz ohnmächtig, aber anscheinend nur einige Sekunden. Das Wasser, was er geschluckt hat, scheint auch wieder raus zu sein.“

Noah fügte hinzu: „Aber mein linkes Handgelenk tut sauweh. Ich hoffe, da ist nichts gebrochen. Ich bin Leistungs-sportler!“

„Das werden wir im Krankenhaus röntgen. Ansonsten sieht es aus, als ob Sie großes Glück gehabt haben! Bleiben Sie erstmal ruhig sitzen. Wir helfen Ihnen dann zum Krankenwagen“, meinte die Ärztin.

Noah nickte. Nun erblickte er in der Ferne auch ein Polizeiauto. Er warf Nico einen fragenden Blick zu, woraufhin dieser sagte: „Ich muss meinen Kollegen erklären, was hier los ist, das wird ein bisschen dauern. Deine Aussage kannst du morgen machen. Wenn ich fertig bin, komme ich bei dir im Krankenhaus vorbei, okay?“

Nico lächelte zum Abschied und deutete einen Kuss in seine Richtung an. Aber Noah konnte diesen nicht erwidern. Emotional war er komplett überfordert; zu viel war in den letzten Stunden passiert. Nico hatte ihn gerettet, aber ihn von Anfang an belogen. War er wirklich an Noah als Mensch interessiert gewesen oder wollte er sich nur sein Vertrauen erschleichen, um an wichtige Informationen für die Ermittlungen zu kommen?

Noah fühlte sich benutzt. Beschmutzt. Der Mensch, dem er sich so geöffnet hatte, dem er vertraut hatte, den er über jeden Zweifel hinaus verteidigt hatte – er dachte an Thors Warnung –, dieser Mensch hatte ihm die ganze Zeit etwas vorgemacht. Wie unbeschwert hatte Noah ihn noch an diesem Morgen nach dem Aufstehen geküsst! War das wirklich am selben Tag gewesen? Zu dieser unschuldigen Leichtigkeit würde er nie mehr zurückfinden.

Noah musste nachdenken und seine Gedanken ordnen. Er war tatsächlich froh, dass ihn niemand ins Schweriner Krankenhaus begleitete, insbesondere Nico nicht. So konnte er alleine seinen Gedanken nachhängen und versuchen, etwas Ordnung hineinzubringen. Dazu hatte er viel Zeit in den folgenden Stunden, bei der Fahrt im Krankenwagen, dem Warten in der Notaufnahme, den verschiedenen Untersuchungen, dem Warten aufs Röntgen… Die Stunden zogen sich und schienen doch an Noahs Gedankenkarussell vorbeizurasen.

„Ich habe eine gute Nachricht. Ihr Handgelenk ist nur verstaucht“, vernahm er irgendwann die Stimme eines Arztes. In diesem Moment rollte eine ungeahnte Welle der Erleichterung durch Noah. Der Arzt erklärte zwar mit einem matten Lächeln, dass eine Verstauchung manchmal schmerzhafter als ein Bruch sein konnte, doch die Trainingspause würde viel kürzer sein. Die Schmerztabletten, die er bekam, zeigten bald Wirkung.

Auch ansonsten waren die Mediziner mit Noahs Zustand sehr zufrieden. Zwei Rippen war leicht geprellt. Vor allem aber schienen der Sauerstoffmangel unter Wasser und die kurze Ohnmacht keine Schäden hinterlassen zu haben, was wohl auch auf Noahs gute Kondition zurückzuführen war. Dennoch sollte er zur Beobachtung eine Nacht im Krankenhaus bleiben.

Noah fand das gar nicht schlimm. Hier würde er sicher mehr Ruhe haben als im Trubel des Internats. Vor seinem inneren Auge sah er bereits, wie ihn dort alle Welt mit Fragen bestürmte. Ja, im Internat würde sich einiges ändern, wenn die Umstände um Julius‘ Tod und das Doping im Langstreckenlauf an die Öffentlichkeit gelangen würden. Das könnte Auswirkungen auf die Sportkarrieren einiger Mitschülerinnen und Mitschüler haben, und wie es sein weiteres Leben beeinflussen würde, wusste er auch noch nicht. Dennoch hatte er in dieser Hinsicht ein gutes Gefühl. Das alles war es einfach wert gewesen.

Je mehr er darüber nachdachte, umso mehr erfüllte es ihn mit Stolz und Befriedigung, dass er zur Aufklärung von Julius‘ Tod beigetragen hatte. Er selbst hatte eine aktive Rolle dabei gespielt und sich für die Wahrheit eingesetzt. Dass er dafür aus seiner strikten Schul- und Trainingsroutine ausgebrochen war, fühlte sich befreiend an. So etwas hätte er sich vor gut einer Woche nie vorstellen können.

Julius würde nicht mehr lebendig werden, doch alle Welt würde wissen, wie mutig er gewesen war, sich gegen seinen Trainer und seine Teamkollegen zu erheben, um aus dem Doping auszusteigen. Alle Welt würde wissen, dass Julius sich nicht das Leben genommen hatte, weil er depressiv war. Einige Leute würden ihren Job verlieren und manche mussten mit Anklagen und Haftstrafen rechnen. J.J. würde sich wegen Doping und Nötigung vor Gericht verantworten, Malte und Cem wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung. Dafür was sie Julius angetan hatten – und was sie versucht hatten, Noah anzutun. Vermutlich würde Maltes Vater den besten Anwalt bezahlen, um seinen Sohn da rauszuholen. Womöglich würde er gar versuchen, die Sache allein Cem in die Schuhe zu schieben. Doch wenn Noah erst einmal seine Aussage darüber machte, was am See vorgefallen war, würde das Malte nicht mehr viel nützen. Es war immer noch alles surreal, doch es erfüllte Noah mit Genugtuung.

Schwieriger lag die Sache mit Nico … Nico, der in ihm die stärksten Gefühle auslöste, die er je erlebt hatte, und der dennoch die ganze Zeit ein falsches Spiel mit ihm gespielt hatte. Allein der Gedanke an ihn zerriss Noah innerlich. Vor seinem inneren Auge lief ein Film ab: der erste Kuss im Regen vor Blumenparadies Kröger in Greifswald, die Tretbootfahrt am Samstag und sein erstes Mal am Abend danach. Er konnte, er wollte nicht glauben, dass Nicos Gefühle genauso vorgespielt und gelogen waren wie sein Geburtsdatum. Und dennoch war es Nico die ganze Zeit um seine Arbeit gegangen und darum, den Fall aufzuklären. Er hatte ihn benutzt. Was war tatsächlich echt gewesen, was war nur gespielt? Wann hatte er es mit Nico, dem Polizeistudenten, zu tun und wann mit Nico, dem Menschen? Was für ein Mensch war Nico eigentlich? Er wusste es nicht. Soviel zum Thema Ideale und Ehrlichkeit.

Noah strich über sein bandagiertes Handgelenk, zog die Decke seines Krankenhausbettes hoch und seufzte. Hatte Nico nicht gesagt, dass er später vorbeikommen wollte? Wie spät war es überhaupt? Er kramte sein Handy hervor, um die Uhrzeit zu checken. Der Bildschirm blieb schwarz. Mist! Nach Luisas Nachricht und dem Anrufversuch während des verpassten Mittagessens hatte er es ja ausgeschaltet und seitdem nicht darauf geschaut. Er stellte erfreut fest, dass es noch funktionierte, obwohl er es den ganzen Nachmittag in seiner Hosentasche dabei gehabt hatte, auch während des Kampfes mit Malte und Cem. Dutzende verpasste Anrufe und Nachrichten von Luisa, Aylin, Thor, Trainer Martin, dem Sekretariat der Schule, natürlich von seinen Eltern … und von Nico. Dieser hatte bereits zur Mittagszeit zwei Mal versucht, Noah anzurufen. Wäre der Nachmittag anders verlaufen und hätte er Cem und Malte womöglich nicht allein konfrontiert, wenn er sein Telefon angehabt hätte? Egal. Was jetzt zählte, war Nicos neueste Nachricht von vor zwanzig Minuten: „Fahre jetzt zu dir ins Krankenhaus.“

Nico würde bald da sein. Und Noah ahnte, dass das folgende Gespräch für sie beide sehr unangenehm werden würde.