46. Kapitel: Verdammt verarscht

Montag, 22. August 2022, 19:10 Uhr

Wenige Minuten später klopfte es an die Tür des Krankenhauszimmers. Nicos Augen waren tiefblau wie immer und er lächelte leicht, als er Noah erblickte, aber nicht so verschmitzt wie sonst, sondern vorsichtiger. Unsicherer. Einerseits war Noah ebenfalls versucht zu lächeln. Er wollte in Nicos Umarmung versinken und wünschte sich nichts mehr, als dass alles so werden würde wie in den letzten Tagen. Aber da war eine Stimme in ihm, die ihn daran erinnerte, dass das nicht ging und dass alles nur eine Illusion gewesen war. Sein Freund war nicht derjenige, der er vorgegeben hatte zu sein.

Nico blieb stehen. Für einen Moment sagte niemand etwas.

„Wie geht es dir?“, fragte Nico schließlich. Er zog sich einen Stuhl neben das Bett. Noah spürte seinen Blick auf sich, erwiderte ihn aber nicht. „Was macht das Handgelenk? Und die Nachwirkungen der Ohnmacht?“

„Halb so schlimm. Handgelenk ist nur verstaucht“, sagte Noah knapp und bemühte sich um einen neutralen Tonfall.

„Gott sei Dank“, sagte Nico mit spürbarer Erleichterung. Sein Lächeln wurde größer, bevor sich seine Gesichtszüge wieder anspannten. „Ich hätte es mir nie verziehen, wenn dir etwas passiert wäre.“

„Das wäre wohl nicht so gut für deinen Job.“ Noah merkte, wie seine Bemerkung ziemlich zynisch rüberkam. Aber die Enttäuschung über Nicos Verrat war einfach zu groß. Das Gefühl, verletzt und benutzt worden zu sein, brodelte in ihm.

„Mensch, Noah, es geht hier nicht um meinen Job! … Nicht nur.“ Nicos Stimme klang ernst und verzweifelt.

„Natürlich geht es um deinen Job! Du bist angehender Polizist und warst nur hier, um die Sache mit Julius aufzuklären. Über mich hast du die Informationen bekommen, die du brauchtest. Kein Wunder, dass du so begeistert warst, mich zu Julius‘ Schwester nach Greifswald zu fahren und all meinen Gedankengängen und Theorien zuzuhören! Oder willst du das etwa leugnen, Nico Schwarz, geboren am 12. September 2001, von einer Mutter, die während des echten Nine Eleven in den Wehen lag?“

Das saß. Es fühlte sich für Noah befreiend an, seiner Wut Ausdruck zu verleihen. Das brauchte er, auch wenn es ihm selbst wehtat zu sehen, wie er Nico mit seinen Worten verletzte. Dieser sank auf seinem Stuhl zusammen und richtete den Blick nach unten.

Dann nickte Nico langsam. „Ja, Noah.“ Sein Gesicht zeigte so einen ernsten und traurigen Ausdruck, wie Noah ihn noch nie gesehen hatte. „Ja, du hast recht. Du hast recht damit, was du sagst. Das war alles … das war scheiße von mir. Ich hätte mir auf die Zunge beißen können, nachdem mir das von meiner Mom und Nine Eleven so rausgerutscht war .“

„Es wäre dir wohl lieber gewesen, ich hätte es nie herausgefunden?“ Noahs Wut war durch Nicos Äußerung noch weiter angefacht.

„Nein! Nein, so war das doch nicht gemeint, Mist, ich meine, ich …“ – Nico wirkte nun verzweifelt und schien nach Worten zu suchen, aber Noah unterbrach ihn gleich wieder: „Du wolltest mich weiterhin für dumm verkaufen!“

„Nein, natürlich nicht. Noah, ich wollte dich nie für dumm verkaufen! Das... das ist alles so blöd gelaufen. Ich wollte nicht, dass du es so erfährst. Ich meine, ich … hab’s verbockt. Ich hätte es dir eher sagen sollen.“

Das stimmt , dachte Noah, aber er schwieg. Etwas sträubte sich in ihm dagegen, Nico recht zu geben. Dieser versuchte, sich zu erklären: „Das war eine verdammt schwierige Situation. Weißt du, wenn man verdeckt im Einsatz ist, darf man nicht erzählen, was man macht, zum eigenen Schutz und zum Schutz wichtiger Zeugen.“

„Wichtige Zeugen? Gehört es denn auch dazu, dass man mit wichtigen Zeugen ins Bett geht? Vielleicht werden sie dann gesprächiger? Ist das also die Strategie, die man verfolgt, wenn man undercover Informationen sammelt?“ In diesem Moment war Noah alles egal. Er wusste, er war unfair zu Nico. Er wusste, dass er Nico weh tat. Aber dann sollte dieser verdammt nochmal sehen, wie verletzt und ausgenutzt er sich selbst fühlte!

„Das glaubst du jetzt nicht im Ernst!“ Nico starrte ihn an. „Du glaubst jetzt nicht im Ernst, dass ich nur Informationen von dir bekommen wollte und gar nicht …“ Er brach ab.

„Ich weiß gerade gar nicht mehr, was ich glauben soll. Ich fühle mich verdammt verarscht.“

„Noah, beruhige dich. Ich … ich habe einen Fehler gemacht. Das weiß ich jetzt“, gab Nico mit ernster Stimme zu. „Spätestens, als es mit uns enger wurde, hätte ich es dir eigentlich sagen sollen, auch wenn es eine Grauzone ist. Ich wusste, wie wichtig dir absolute Ehrlichkeit ist und wie schwer es für dich ist, dich für jemanden zu öffnen. Ich glaube, gerade deshalb hab ich mich auch nicht getraut. Für einen Moment war es ganz still. Dann fügte Nico mit leiser Stimme hinzu: „Ich wollte einfach die wunderschöne Zeit mit dir weiter genießen.“

Nicos Eingeständnis schaffte es tatsächlich, Noahs Wut etwas zu zügeln. Die Verwirrung und Enttäuschung verbanden sich nun mit einer tiefen Traurigkeit. Noah suchte nach Worten. „Ich … kann das alles überhaupt nicht mehr einordnen. Alles, was wir hatten, sehe ich nun in einem anderen Licht und ich weiß nicht mehr, was echt war und was nicht. Ich weiß nicht, wer du wirklich bist.“

Nicos Gesichtsausdruck zeigte seine ganze Niedergeschlagenheit. Es schien, es müsse er Noahs Worte sacken lassen. Dann nickt er langsam.

„Also gut, Noah“. Er setzte sich auf. „Ich bin Nico und komme aus Berlin. Fast alles, was ich dir über mich erzählt habe, ist wahr. Meine Mutter kommt wirklich aus Westberlin und mein Vater aus dem Ostteil, ich habe wirklich zwei ältere Brüder und eine Oma, die sich noch immer wünscht, ich würde ein Mädchen daten. Langstreckenlauf habe ich wirklich jahrelang betrieben, wenn auch jetzt nicht mehr kompetitiv. The Song of Achilles ist wirklich mein Lieblingsbuch, ich liebe wirklich die Weiten Nordamerikas, die Red Hot Chili Peppers und Futo Maki Sushi. Und mir ist Gerechtigkeit wirklich wichtig, weshalb ich mich entschieden habe, nach dem Abi vor gut zwei Jahren zur Polizei zu gehen. Ich absolviere gerade in Berlin das Studium zum Polizeikommissar und habe jetzt mit dem dritten Studienjahr begonnen.“

Noah hörte aufmerksam zu. Bei der Erwähnung der Red Hot Chili Peppers und von Sushi spürte er einen Stich in der Magengegend, die schmerzhafte Erinnerung an schöne und unbeschwerte Zeiten. Nico sprach weiter: „Neben dem Studium an der Polizeihochschule haben wir immer wieder praktische Einheiten in den verschiedenen Abteilungen, wie zuletzt in der Berliner Abteilung für Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz und das Anti-Doping-Gesetz. Da hatte ich erstmalig mit Doping zu tun und von Vorwürfen gegen Sportler aus dem Internat gehört, die aber nie bewiesen werden konnten. Tja, und als ich über Caro von Julius‘ Tod erfahren habe –“

„Caro?“

„Meine Cousine. Ich glaube, ich habe erwähnt, dass ich eine Cousine in Schwerin habe. Auch wenn ich wohl nicht dazu gesagt habe, dass du sie schon getroffen hast. Carolin Priebnitz, Polizeikommissarin.“

Noah machte große Augen und dachte an die eifrige blonde Kommissarin, die ihm zu Hause bei seinen Eltern die Nachricht von Julius‘ Tod überbracht hatte.

„Jedenfalls wollte Caros Kollege den Fall schon als klaren Selbstmord zu den Akten legen. Aber Caro und mir kam es in Zusammenhang mit dem nie bewiesenen Doping im Internat verdächtig vor. Ich weiß noch, wie ich im Scherz gesagt habe, ich wünschte, ich könnte in diesem Lauf-Team mitlaufen, da würde man bestimmt mehr erfahren, als wenn man in Polizeiuniform im Internat aufkreuzt. Und Caro meinte dann, warum eigentlich nicht. So entstand der Plan, dass ich mich ins Internat einschleusen sollte, um Informationen zu sammeln. Mein Chef war zunächst skeptisch, da ich noch kein fertig ausgebildeter Polizist bin, sah aber dann ein, dass es eine einmalige Gelegenheit war. Es war Schuljahresbeginn; Caro meinte, ich würde problemlos für zwei Jahre jünger durchgehen, und ich habe früher wirklich viel Langlauf gemacht. Dass ich von der Form her etwas hintendran bin und mein Name auf keiner aktuellen Wettkampfliste mehr steht, habe ich mit einer imaginären Verletzung erklärt. Du kannst dir denken, welches Buch mich auf die Achillessehne gebracht hat.“ Ein Lächeln schlich sich kurz auf Nicos Gesicht. Dann fügte er hinzu: „Das war der Plan. Ein paar Tage undercover Beweise sammeln, aufklären, was im Sportinternat schief läuft, und dann ist alles vorbei. Tja, ich war gerade dabei, meinen Koffer auszupacken, als du ins Zimmer kamst, schweißnass vom Training, und mich so ansahst und ich dachte nur … Wow. Plötzlich war alles anders. Den Plan konnte ich in die Tonne treten.“

Widerwillig musste Noah schmunzeln. Dann wurde ihm wieder bewusst, dass jetzt der Teil kam, der am meisten weh tun würde. „Und dann wurde ich plötzlich Teil deines Polizeispiels?“

„Noah, du warst nie Teil eines Spiels“, sagte Nico langsam. „Ganz im Gegenteil. Was ich für dich empfunden habe, war vom ersten Moment an echt. Kein Fake, ganz sicher nicht. Kann bloß sein, dass ich am Anfang meine große Klappe etwas mehr habe raushängen lassen als sonst. Wahrscheinlich wollte ich dir – und auch mir selbst – weismachen, ich hätte die ganze Situation unter Kontrolle. So unmöglich das auch war. Immerhin habe ich es geschafft, zwischendurch und auch nachts der Doping-Sache nachzugehen und die Proben sicherzustellen. Weißt du, Ulrike Florenzi, die doch so feine und gut vernetzte Ärztin, hat sie verfälscht und ausgetauscht, so dass man die Steroide nicht nachweisen konnte. Wenn sie schon selber nie Olympia-Gold hatte, wollte sie sich wohl in ihrem Internat eine Generation von Sportlerinnen und Sportlern heranzüchten, deren Erfolg sie beeinflussen konnte. J.J. und sie ergänzten sich dabei super in ihrer Zusammenarbeit. Dafür mussten sie noch nicht mal eine Affäre miteinander haben, wie ich zuerst dachte. Aber was Julius anging, so haben sich meine Ermittlungen und das zwischen uns mehr und mehr überlappt, schließlich warst du derjenige, der die Hinweise für die Fälschung des Abschiedsbriefes gefunden hat.“

Nico seufzte und vergrub kurz das Gesicht in den Händen, bevor er weitersprach. „Ja, vielleicht war es falsch, dich in die Suche nach dem Täter zu involvieren. Ich gebe zu, ich wollte von deinen Insider-Informationen profitieren. Und auch von deinen genialen deduktiven Fähigkeiten. Aber in erster Linie hatte ich das Gefühl, dass das Brainstorming über Julius‘ Tod dir selbst helfen würde. Du warst so ... verwirrt und verzweifelt an dem einen Abend! Ich war wohl ganz schön naiv zu glauben, ich könnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Und das ganze endete jetzt damit, dass du dich deswegen selbst in Gefahr begeben hast!“

Noah überlegte. „Immerhin verstehe ich jetzt, warum du es immer wieder hinausgezögert hast, zur Polizei zu gehen, als ich das vorgeschlagen habe. Mann, ich komme mir im Nachhinein ganz schön blöd vor!“

„Sobald wir zur Polizei gegangen wären, wäre natürlich alles rausgekommen. Und mir wäre es am liebsten gewesen, meine Zeit im Internat hätte noch ewig gedauert. Sowohl um den Fall endgültig zu lösen als auch wegen uns. Das letzte Wochenende … Ich habe mir nichts mehr gewünscht, als dass es nie enden würde. Gleichzeitig wusste ich, dass unsere Zeit begrenzt sein würde, und deshalb hab ich nichts gesagt. Ich war mehrmals kurz davor, zum Beispiel beim Tretbootfahren auf dem See. Aber dann … hab ich mich nicht getraut. Ich bin eben ein Feigling.“

Nicos Stimme wurde brüchig. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht; trotzdem hatte Noah die Träne gesehen, die ihm aus den nassen Augen lief. Er schluckte.

„Ich … ich hab gedacht, du bist sauer auf mich, wenn es ich sage und das macht den tollen Tag kaputt. Stattdessen … hab ich alles kaputt gemacht, weil ich nichts gesagt habe. Du bist jetzt umso mehr enttäuscht.“

„Ja … ich bin verdammt enttäuscht“, brachte Noah mit stockender Stimme hervor, dann ließ auch er seinen Tränen freien Lauf. Es tat gut, einmal hemmungslos seine Gefühle rauszulassen, all die Enttäuschung, Wut und Trauer über das, was passiert war.

Bisher hatte Nico ihn nicht berührt, aber nun näherte sich seine Hand vorsichtig Noahs Unterarm. „Darf ich?“, fragte er schluchzend.

Noah nickte und beugte sich nach vorne. Nico umarmte ihn, unsicher und zurückhaltend, als warte er noch auf ein Zeichen von Noah. Sie saßen für ein paar Augenblicke da, hielten sich und weinten gemeinsam. In gewisser Weise war das ein reinigendes Gefühl.

Doch dann fragte Nico zaghaft: „Weißt du … das, was ich mir am allermeisten wünschen würde, ist, dass wir wieder dahin zurück könnten, wie es gestern war. Meinst du … meinst du, das geht nochmal?“

Als ob Noah sich das nicht auch wünschen würde! Aber so einfach war es nicht.

Er zögerte und sah dann nach unten. Er konnte Nico nicht in die Augen sehen, als er langsam den Kopf schüttelte: „Nein, das kann ich nicht. Ich … ich muss nachdenken. Ich kann nicht so tun, als ob das alles nicht geschehen wäre. Ich kann nicht mit jemandem zusammen sein, der mich belügt. Ich kann das nicht. Es … es tut mir leid. Ich brauche Abstand.“

Es zerbrach ihm fast das Herz, diese Worte auszusprechen, und er schaute weiterhin auf seine Bettdecke. Mit stockender und leiser Stimme, so dass Noah es kaum vernehmen konnte, sprach Nico die Worte: „Ich … geh dann mal. Mach es gut!“

Noah hörte, wie sich seine Schritte entfernten und kurz darauf die Tür geöffnet und geschlossen wurde. Im nächsten Moment liefen die Tränen unkontrolliert seine Wangen hinab.