47. Kapitel: Erwachsen werden

Dienstag, 23. August 2022, 06:00 Uhr

Noah hatte wenig und unruhig geschlafen, als er um 6 Uhr von Geräuschen auf dem Krankenhausflur geweckt wurde. Betten und Frühstückswagen wurden hin- und hergerollt; knallende Türen und ständig wiederkehrende Schritte waren zu hören, und bald trat die Stationsschwester zu ihm ins Zimmer. Hoffentlich sehe ich nicht zu krank aus , dachte er sich. Unentwegt hatte er an sich und Nico gedacht und daran, wie er ihn am Abend weggeschickt hatte. Es tat unendlich weh, er hatte viel geweint und es wurde nicht besser, sooft er auch Nothing Left to Say und Bad Liar von den Imagine Dragons hörte. Lügen, Lügen, Lügen. Das Vorgaukeln einer heilen Welt. So sehr er sich wünschte, Nico wieder zu küssen und mit ihm zusammen zu sein, so wusste er, dass es nicht ging. Er konnte zu dieser Unbeschwertheit nie mehr zurückkehren.

Lustlos biss Noah in die Scheibe Knäckebrot, die er zum Frühstück bekommen hatte. Er holte sein Handy hervor, aber der Bildschirm blieb schwarz. Mist, der Akku war mittlerweile leer. Ob er gleich noch eine Runde dösen könnte, bevor die Ärztin kommen und ihn vor der Entlassung abschließend untersuchen würde?

Was war eigentlich für ein Wochentag? Dienstag. Eigentlich würde erst Englisch und dann eine Doppelstunde Mathe auf dem Stundenplan stehen. Integralrechnung, logisch und eindeutig, genau seine Welt. Bloß dass der Gedanke an die logarithmische Integration nun mit Nico assoziiert war, die flirtenden Blicke während der Erklärungen und die magischen Dinge, die anschließend passiert waren … Noah sank deprimiert zurück auf sein Kissen.

Wahrscheinlich war er tatsächlich noch einmal eingeschlafen, denn er wachte dadurch auf, dass die Tür aufgerissen wurde und seine Eltern ins Zimmer gestürmt kamen. „Noah! Um Himmel willen, was ist mit deiner Hand passiert? Wie geht es dir? Wir haben uns solche Sorgen gemacht!”, rief seine Mutter völlig aufgelöst und umarmte ihn.

„Ach, geht schon“, meinte Noah und bemühte sich zu lächeln, was ihm im Moment der Überraschung schwerfiel. „Mama, Papa, was macht ihr überhaupt hier? Müsst ihr nicht arbeiten?“

„Erst gehst du nicht an dein Telefon, und dann müssen wir vom Internat erfahren, dass du im Krankenhaus liegst!“ Seiner Mutter war die Aufregung immer noch ins Gesicht geschrieben.

„Sie haben zwar gleich dazu gesagt, dass es wohl nichts Besorgniserregendes ist. Aber deine Mutter bestand darauf, dass wir uns heute früh frei nehmen und sofort nach Schwerin fahren. Und bei dieser Schlagzeile war das wohl die richtige Entscheidung.“ Sein Vater holte mit besorgtem Blick die Tageszeitung hervor. In großen Lettern las Noah: „Doping, Gewalt und Totschlag – Was läuft da im Lauf-Team des Elite-Sportinternats?“

Noah starrte auf die Titelseite. Auf Fotos waren das Internat vor dem Hintergrund des Sees, die Langstreckenläufer im Wettkampf sowie Julius‘ matt lächelndes Gesicht zu sehen. Die Schlagzeile war aufsehenerregend, wenn auch den Ereignissen angemessen. Darüber sollte er, der seinen Teil zur Aufklärung beigetragen hatte, sich nun nicht beschweren.

Er atmete tief durch und sagte dann, nicht ohne Stolz: „Ja, das stimmt. Mein ehemaliger Mitbewohner Julius hat sich nicht selbst das Leben genommen, sondern wurde vom Dach gestoßen, weil er aus dem Doping der Läufer aussteigen wollte. Bevor ihr nachfragt – keine Angst, ich hab mit Doping nie was zu tun gehabt. Aber ich habe meinen Teil dazu beigetragen, dass die Wahrheit ans Licht gekommen ist. Und bei der Konfrontation mit den Tätern musste ich halt ein paar Federn lassen.“ Er deutete auf sein Handgelenk und grinste.

Ja, er musste zugeben, dass er es genoss, wie seine Eltern mit großen Augen seiner Erzählung folgten. Ein paar Details ließ er aus oder schwächte er ab. Seine Mutter musste nicht unbedingt wissen, dass er wirklich so lange von Cem und Malte unter Wasser gedrückt worden war. Außerdem ging seine Eltern die Sache zwischen ihm und Nico nichts an. Er erwähnte, dass sein neuer Mitbewohner in Wirklichkeit ein Polizeistudent war und fügte hinzu, dass er „sehr nett“ sei, wandte dabei aber gleichzeitig seinen Kopf ab, um sich nicht zu verraten.

„Das ist wirklich unglaublich!“, sagte seine Mutter schließlich. „Und verdammt gefährlich! Du alleine mit diesen beiden … Verbrechern – da hätte wer weiß was passieren können! Gut, dass dieser angehende Polizist rechtzeitig eingegriffen hat.“

Sein Vater fügte hinzu: „Das ist wohl gerade nochmal gut gegangen. Aber Gefahr hin oder her, ich muss sagen, dass ich von dir beeindruckt bin, Noah.“ Er lächelte, und Noah lächelte zurück.

Seine Mutter beeilte sich zu sagen: „Ja, ich bin auch stolz auf dich. Wir sind immer stolz auf dich, und wenn du dich für eine gute Sache einsetzt und der Polizei hilfst, ehrt dich das. Es ist nur … Als deine Mutter kann ich es einfach nicht gutheißen, wenn du dich in Gefahr begibst. Bisher warst du immer so beherrscht und kontrolliert.“

„Miriam, Leben bedeutet Risiko. Ich finde es gut, wenn Noah nun erwachsen wird, aus seinem starren Trainings-Tagesrhythmus ausbricht und etwas vom Leben hat. Aber das muss beim nächsten Mal nicht unbedingt eine Konfrontation mit zwei Gewalttätern sein!“ Noah fand seinen Vater in diesem Moment richtig cool. Ja, er stellte fest, dass sich seine Eltern doch sehr gut ergänzten, selbst wenn sie unterschiedlicher Meinung sein mochten. Er war inzwischen richtig froh, dass sie gekommen waren.

Seine Mutter sah ihn intensiv an und fragte dann: „Noah, waren es denn die Ereignisse mit dem Doping, von denen du uns unbedingt erzählen wolltest? Es hörte sich am Sonntag am Telefon sehr aufregend und wichtig an, kein Wunder bei der Sache!“

Noah zögerte und blickte nach unten auf seine Bettdecke, in der sich ein Faden aus dem Stoff gelöst hatte. Wann, wenn nicht jetzt? „Äh, nein, da ging es eigentlich um etwas anderes.“

Der Kloß in Noahs Hals wuchs und wuchs. Es fühlte sich an, als würde er seinen ganzen Körper einnehmen. Würde der Kloß weggehen, wenn die Worte einmal raus waren? Noah atmete tief durch, sah erst seine Mutter und dann seinen Vater an. „Mama, Papa, es wird Zeit, dass ich euch sage … dass ich … schwul bin.“

Für einen Moment war es ganz still im Raum, man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Der Kloß zog sich langsam zurück, während Noah die Reaktionen seiner Eltern beobachtete. Das Gesicht seines Vaters zeigte Erstaunen; die Augen weiteten sich und der Mund öffnete sich, aber nach einem Moment wurden seine Züge milder. Auf den Lippen seiner Mutter lag sogar ein leichtes Lächeln.

Sein Vater sagte schließlich: „Das kommt überraschend. Aber wenn es so ist, dann ist es so. Noah, du bist unser Sohn und im Endeffekt ist es ganz egal, du Frauen oder Männer magst.“

„Weißt du, Noah“, begann seine Mutter. „Ich hatte bisher eher angenommen, dass du … wie sagt man … asexuell bist. Du hast nie erwähnt, dass du dich für jemanden interessierst, die ganze Pubertät hindurch nicht. Dann eben nicht, habe ich mir gedacht. Hauptsache, du bist glücklich, ob alleine oder mit jemandem zusammen.“

Sie ergriff seine Hand, während sein Vater ihm gleichzeitig auf die Schulter klopfte und sagte: „Danke, dass du es uns gesagt hast. So ein Coming-Out ist wohl nie leicht für alle Beteiligten, aber es gehört zum Erwachsenwerden dazu, dass man weiß, wer man ist und was man will.“

„Danke“, sagte Noah erleichtert. Er spürte, wie er über das ganze Gesicht strahlte. Vieles in seinem Leben hatte sich geändert. Er selbst hatte sich geändert. Aber es gab immer noch einige Fixpunkte, auf die er sich verlassen konnte, wie die Unterstützung seiner Eltern.

„Jetzt haben wir uns einen Kaffee verdient“, meinte sein Vater schließlich mit einem zufriedenen Lächeln. „Wir sind doch vorhin an diesem Automaten vorbeigekommen, oder?“ Er verließ das Zimmer.

Die Mutter rückte noch näher an Noah heran und sah ihn aufmunternd an. „Sag mal Noah, gibt es denn einen besonderen Grund, weshalb du uns gerade jetzt erzählst, dass du schwul bist? Du weißt es vermutlich nicht erst seit gestern.“

Noah seufzte. „Nein, ich weiß es schon lange, aber es war immer … irrelevant.“

Ihr Gesicht erstrahlte: „Und wenn es plötzlich relevant ist, heißt das, dass du jemanden kennen gelernt hast, den du magst und der dich glücklich macht?“

Noah wandte den Blick ab. Jetzt kam der wirklich harte Teil. Der Kloß, den er zuvor gespürt hatte, war nichts im Vergleich dazu. „Ja … äh … nein … Das ist eigentlich schon wieder vorbei.“

„Ach Noah“, sagte seine Mutter mit emotionaler Stimme. „Das tut mir so leid für dich. Es ist … es war dein Mitbewohner, der angehende Polizist, nicht wahr?“

Noah drehte den Kopf und starrte sie überrascht an. „Woher – ?“, begann er.

Sie versuchte, ein triumphierendes Lächeln zu verstecken. „Ich bin zwar kein Mathe-Genie wie du, aber ich kann eins und eins zusammenzählen.“

Nun musste auch Noah kurz lächeln, obwohl es ihn innerlich auffraß, an Nico zu denken. „Es war … wunderbar mit ihm. Solange es eine Illusion war. Solange er mir den Mitschüler vorspielte. Dabei war er nur im Internat, um Informationen zu sammeln und den Fall aufzuklären. Und ich hatte gedacht …“ Er merkte, wie seine Stimme bebte und sich die Tränen wieder hervordrängten. „Mama, das tut einfach scheiße weh!“

Als nächstes fand er sich in der Umarmung seiner Mutter wieder, fast wie damals, als er sich als kleiner Junge auf dem Spielplatz wehgetan hatte. Sie strich ihm über den Rücken. „Liebeskummer tut scheiße weh, das weiß ich selbst. Beim ersten Mal besonders. Ich weiß noch, wie es bei mir damals war… Als deine Mutter habe ich natürlich den Instinkt, dich von jedem Schmerz fernzuhalten, aber ich weiß, dass es zum Leben dazu gehört. Was hat dein Vater gerade gesagt? Leben ist Risiko. Liebe ist auch Risiko, weil wir uns verletzbar machen, wenn wir lieben.“

Noah nickte. Die Tränen liefen weiter, aber die Worte seiner Mutter trafen einen Nerv.

„Ich bin gerade an einer englischen Übersetzung, wo das Sprichwort zitiert wird: It’s better to have loved and lost than never to have loved at all.

Ja, das hatte Noah auch schon mal gehört. Doch momentan ertrug er den Gedanken an all die schönen Erlebnisse und glücklichen Augenblicke zusammen mit Nico nicht. Noch nicht. Vielleicht später einmal.

Seine Mutter redete mit sanfter Stimme weiter: „So sehr das alles jetzt wehtut und so sehr es mir wehtut, dich leiden zu sehen … so bin ich stolz auf dich, dass du starke Gefühle erlebst und erwachsen wirst. Auch wenn es ein schwacher Trost ist: Es wird besser werden. Entweder bist du mit der Zeit über ihn hinweg und wirst dich neu verlieben. Oder aber es ist bei euch doch noch nicht alles verlo–“

In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Krankenhauszimmer, und Noah wischte sich schnell die Tränen vom Gesicht. Aber sein Vater, der eine Papphalterung mit Kaffeebechern balancierte, war nicht alleine. Noah erkannte Polizeikommissar Brückner und dahinter seine junge Kollegin Polizeikommissarin Priebnitz. Nicos Cousine, rief er sich in Erinnerung. Er meinte, eine Ähnlichkeit zu erkennen – oder was das einfach nur, weil er Nico so vermisste?

Die beiden Polizisten traten an Noahs Krankenbett. „Guten Morgen Herr Bergmann“, sagte Kommissar Brückner und reichte ihm die Hand. „Wie geht es Ihnen? Wenn Sie sich gut genug fühlen, würden wir gerne Ihre Aussage zu den Geschehnissen des gestrigen Tages aufnehmen. Malte Vogt und Cem Özgün konnten schnell gefasst werden und sitzen in Untersuchungshaft. Auch wenn wir vom Kollegen Schwarz schon einiges über die Vorfälle wissen, benötigen wir Ihre Aussage zur Bestätigung.“

„Ja, okay“, sagte Noah. Früher oder später hätte das sowieso angestanden, und mit den Polizisten über Julius, Malte und Cem zu reden war einfacher, als alleine im Zimmer seinen Gedanken um Nico nachzuhängen.

Seine Eltern verabschiedeten sich und nahmen ihre Kaffeebecher mit; sein Vater musste ohnehin ins Architekturbüro und für seine Mutter stand die Deadline einer Übersetzung an. Noah sah ihnen nach. Sie hatten ihm an diesem Morgen mehrmals gesagt, wie stolz sie auf ihn waren, und das hatte diesmal nichts mit irgendwelchen schulischen und sportlichen Leistungen zu tun. Er war erleichtert und ebenso stolz auf sie, dass sie ihn weiterhin akzeptierten und unterstützten.

Dann wandte er sich den beiden Polizisten zu und begann zu erzählen.