49. Kapitel: Vergangenheit

Donnerstag, 25. August 2022, 18:55 Uhr

Noah stocherte in seinem Obstsalat. Er hatte keinen Appetit auf den Nachtisch, dabei hatte er auch vom Hühnchen mit Reis nicht viel gegessen. Es war komisch in diesen Tagen; nichts fühlte sich richtig an, und auf nichts hatte Noah wirklich Lust. Mit einem Ohr versuchte er zuzuhören, worüber Luisa, Thor, Nele und Felix redeten, doch es fiel ihm unendlich schwer. Vermutlich wieder über diese Fernseh-Show mit den tanzenden Prominenten.

Auch bei der Ansprache von Schulleiter Hagedorn vor zwei Tagen, bei der dieser schwermütig seinen Rücktritt erklärte, hatte Noah nur mit einem Ohr zugehört. Hagedorn beteuerte, nichts von dem Dopingkomplott durch J.J. und Doktor Florenzi gewusst zu haben, wollte aber dennoch den Weg frei machen für eine, wie er sagte, „unbelastete Zukunft“. Ein paar Dinge sollten sich ändern, man würde sich jedoch bemühen, den Schulalltag – und für alle Nicht-Läufer auch den Trainingsalltag – so beizubehalten wie bisher. Das war eine Erleichterung für Noah.

Seit dem Vormittag ging er wieder in den Unterricht und hatte gehofft, dass ihm die Rückkehr in die Routine guttun würde. Tatsächlich hatte er es geschafft, in Chemie die Reaktion des Experiments zu erklären und auch bei der Faust-Analyse in Deutsch hatte er ein bisschen mitgearbeitet. Das Gefühl, in der Schule weiterhin gut mitzukommen, beruhigte ihn ein wenig. Aber es genügte nicht. Es änderte nicht viel daran, dass Noah in seinem Innersten eine tiefe Traurigkeit empfand. Selbst die Mathematik, seine sichere Welt der Logik und klaren Regeln ohne Gefühle und Unwägbarkeiten, konnte ihn nicht mehr wie früher ablenken. Stattdessen erinnerte sie ihn an die Nachhilfestunden mit Nico.

Immer wenn er an Nico dachte, zog sich in ihm wieder etwas zusammen. Er trauerte den gemeinsamen Tagen hinterher, all den Gefühlen, die sie geteilt hatten. Und er trauerte der Vorstellung hinterher, es würde so weitergehen, Noah und Nico, zwei verliebte Schüler im Sportinternat. Nur dass Nico nie wirklich ein Schüler im Sportinternat gewesen war und ihn getäuscht und angelogen hatte. Mit dem Abstand der letzten Tage hatte Noah zwar mehr Verständnis für Nicos Verhalten und seine Beweggründe entwickelt. Doch das half ihm nicht wirklich, mit der Situation umzugehen. Er wusste einfach nicht, wie es weitergehen sollte.

Es war wie ein mathematisches Problem, bei dem ihm komplett der Lösungsansatz fehlte.

„Erde an Noah!“

„Äh, was?“ Er sah Luisa überrascht an. Mist, was hatte sie gesagt? Sprach sie schon lange zu ihm?

„Ich habe dich gefragt, ob du gleich bei einer Partie Ligretto dabei bist.“ Sie lächelte ihn vorsichtig und zugleich aufmunternd an.

„Nee, danke, bin nicht in der Stimmung“, erwiderte Noah matt.

„Oder vielleicht ein Film? Eine Komödie? Irgendetwas anderes, was dich ablenkt?“, versuchte es Luisa weiter.

Noah schüttelte nur den Kopf und seufzte. Er hatte keine Lust auf irgendeinen Film mit glücklichen Menschen, wenn sein eigenes Glück doch vor ein paar Tagen zerbrochen war.

„Was machst du stattdessen heute Abend?“, fragte sie. „Und sag nicht wieder Lernen; die Hausaufgaben hast du sicher längst alle fertig.“

Noah sah hinab auf seinen Obstsalat. Was würde er schon machen? Wahrscheinlich das gleiche wie die letzten Tage. The Song of Achilles zum dritten Mal lesen, mit Achilles und Patroclus mitfiebern, leiden und weinen. Und dann weiter weinen und sich im Bett rumwälzen beim Versuch, in einen traumlosen Schlaf zu fallen.

Er blickte zu Luisa, die ihn ernst ansah. „Ab nächsten Montag darf ich wieder trainieren, solange das Handgelenk nicht belastet wird. Doktor Bartels hat mich heute nochmal untersucht und es sieht gut aus. Der Nachfolger der Florenzi scheint echt okay zu sein. Wenn ich wieder in den normalen Rhythmus komme, dann geht’s mir auch besser.“ Er bemühte sich, mehr Zuversicht in seine Worte zu legen, als er besaß.

Währenddessen war Thor aufgestanden, und auch Nele und Felix nahmen ihre Tabletts. Luisa deutete an, dass sie nachkommen würde und blieb Noah gegenüber sitzen.

Als sie zu zweit waren, spürte Noah sofort, wie sie ihn mit ihren Augen förmlich durchbohrte: „Noah, das glaubst du doch selbst nicht. Du weißt, dass sich dein Problem nicht in Luft auflösen wird, wenn du morgens wieder auf dem Crosstrainer stehst.“

Er wollte gerade etwas erwidern, da vibrierte sein Handy. Nico! Das war zumindest sein erster Gedanke. Der zweite Gedanke war, dass er Nico um die Funkstille gebeten und dieser sie bislang respektiert hatte. Es konnte nicht Nico sein. Stattdessen kam die Nachricht von seiner Mutter. Erstaunlicherweise wollte sie nicht wissen, wie es ihm ging –vielleicht konnte sie sich das denken. Nein, sie fragte, ob er am Wochenende wie ursprünglich geplant nach Hamburg kommen wollte. So könnte er ein bisschen Abstand von den Geschehnissen im Internat bekommen.

Noah überlegte. „Meinst du, ich soll nach Hamburg fahren?“

Luisa sah ihn ernst an: „Das ist vermutlich besser, als alleine auf deinem Zimmer zu sitzen und Trübsal zu blasen. Aber davonlaufen hilft auf die Dauer auch nicht.“

Er blickte wortlos hinab auf seine Salatschüssel. Da spürte er, wie sie ihre Hand auf seine legte. „Hey, ich verstehe, dass du einiges zu verarbeiten hast. Aber überleg doch mal, wie das alles für Nico sein muss. Stell dir mal vor, du bist als Polizeistudent das erste Mal auf Spurensuche und verliebst dich Hals über Kopf! Du musst mit deinen Kollegen den Fall lösen, willst aber eigentlich nur die ganze Zeit mit deinem Schwarm zusammen sein und bist unsicher, ob du ihm die Wahrheit über dich sagen darfst oder sollst … Und als am Ende alles rauskommt, will er mit dir nichts mehr zu tun haben. Glaubst du, Nico geht es gerade gut?“

Was für eine Frage. Der Gedanke wie Nico sich jetzt fühlen mochte, zerriss ihn fast. „Ich glaub, ihm geht’s gerade ziemlich scheiße. Nicht anders als mir. Aber … so ist es eben. Er ist der derjenige, der mich belogen hat, selbst dann als wir miteinander geschlafen haben, was sicherlich alle beruflichen Grenzen überschreitet.“

Luisa nickte. „Nico ist zu weit gegangen, Berufliches und Privates zu vermischen. Das war ein Fehler und das weiß er. Er ist eben nicht perfekt. Aber weißt du was, Noah, du bist auch nicht perfekt. Und damit meine ich nicht deine Zwei Plus in diesem Französisch-Vokabeltest letztes Jahr.“ Noah musste trotz dem Ernst der Situation schmunzeln.

„Stattdessen meine ich, dass du Nicos Angst vielleicht nachvollziehen kannst. Diese Angst, jemandem nicht die ganze Wahrheit über einen Teil seines Lebens zu sagen.“ Noah erstarrte kurz. Er wollte etwas entgegnen, aber Luisa kam ihm zuvor: „Ich weiß, ich weiß, das ist etwas ganz anderes. Du bist schwul und das war natürlich für die ganze Welt irrelevant gewesen, bis es relevant wurde. Dennoch war es für dich bestimmt nicht einfach, du selbst zu sein. Hey, ich will nur sagen, es ist vollkommen normal, dass man Angst hat und unsicher ist. Und aus Angst tun wir manchmal das Falsche.“

Noah wusste, dass Luisa recht hatte. Er blickte seine großzügige und verständnisvolle Freundin an. „Ja, das stimmt. Es ist mittlerweile auch nicht mehr die Wut und Enttäuschung vom Anfang, die ich spüre. Ich glaube, ich bin gar nicht mehr sauer, weil Nico mich belogen hat. Ich bin einfach nur traurig, dass diese wunderschöne Zeit, die wir hatten, vorbei ist. Obwohl manches davon im Rückspiegel betrachtet gar nicht echt war.“

„Mensch, Noah, wenn dir Ehrlichkeit so wichtig ist, solltest du auch ehrlich zu dir selbst sein. Ich denke, du weißt sehr genau, was zwischen dir und Nico echt war und was nicht.“ Sie sah ihn aus ihren dunklen Augen eindringlich an. „Das wirkliche Problem ist, dass eure gemeinsame Zeit hier im Internat Vergangenheit ist. Das verstehe ich, keine Frage. Darüber darfst du traurig sein und heulen. Aber irgendwann ist mal genug geheult. Die Vergangenheit ist vorbei, Kram von vorgestern. The future is wide open! Die können wir verändern und neue Wege gehen. Wenn wir uns trauen.“

Neue Wege gehen, das Alte hinter sich lassen … Wo hatte er das zuletzt gehört? Er dachte nach. Plötzlich spürte er ein leichtes Lächeln auf seinem Gesicht.

„Danke, Luisa“, meinte er und erhob sich dann. Es stimmte, so wie jetzt konnte es nicht weitergehen. Er musste nach vorne schauen, an die Zukunft denken und etwas tun. Er beschloss, an diesem Abend nicht noch einmal The Song of Achilles zu lesen. Genug war genug. Stattdessen würde er einen Plan schmieden.

„Ach, und Noah?“, rief ihm Luisa nach. „Es ist im Stabhochsprung bestimmt so wie in meinen sieben Sportarten auch. Man sollte beim Absprung nicht zu lange zögern, sonst ist der richtige Moment vorbei!“

Noah musste grinsen. Das stimmte. Beim Stabhochspringen musste man seinen Mut zusammennehmen und springen, auch wenn eine neue, unbekannte Höhe auflag. Man musste dem kontrollierten Höhenflug und seinen eigenen Fähigkeiten vertrauen. Und das musste er jetzt ebenfalls. Auch wenn die Höhe ungewohnt war. Auch wenn eigentlich gerade alles ungewohnt war.

Er musste etwas unternehmen und er würde sich etwas trauen. Sein Herz schlug höher, während er überlegte, wie er genau vorgehen wollte. Er hatte doch noch die Karte in seinem Portmonee.