Epilog: Im Tunnel Teil 2

Samstag, 12. August 2023, 17:48 Uhr

Er war in seinem Tunnel, den Blick nach vorn gerichtet, die Gedanken auf Autopilot. Entfernt nahm er von der Tribüne das anfeuernde Klatschen und Rufen des Publikums wahr, zu dem auch seine Eltern und sein Freund gehörten. Im Augenwinkel sah er die Handzeichen des neuen Trainers und die anspornenden Blicke der Teamkolleginnen und -kollegen. Doch sie waren kaum mehr als Schemen, nur ein Rauschen, das den Tunnel umgab.

Volle Konzentration. Er war auf Stabhochsprung fokussiert und das nicht nur jetzt in diesem Wettkampf, sondern auch in seinem neuen Leben. Noah war glücklich mit seiner Entscheidung: Er würde im Berliner Leistungs-Zentrum hart arbeiten, um das Beste aus seinem sportlichen Talent zu machen und sich den Traum von Olympia zu verwirklichen. Er wollte den Höhenflug des Stabhochsprungs weiterhin leben – aber gleichzeitig war das längst nicht alles, woraus sein Leben bestand. Er war stolz auf sein Einser-Abitur und freute sich auf die Mathe-Vorlesungen in Teilzeit an der Uni. Und natürlich auf das Zusammenleben mit Nico! Ein Jahr Fernbeziehung hatten sie gut gemeistert. Natürlich hatte es schwierige Zeiten gegeben; im Lernstress für Abiklausuren und Polizeiprüfungen und im engen Zeitplan zwischen Noahs Training und Nicos praktischen Diensteinheiten waren schon mal härtere Worte geflogen, die sie später bereuten. Doch letzten Endes war ihre Beziehung dadurch gestärkt worden, schließlich kannten sie einander mit der Zeit immer besser. Auch bei der Suche nach einer bezahlbaren gemeinsamen Wohnung in Berlin hatten sie Durchhaltevermögen beweisen müssen. Doch nun hatten sie vor einer Woche den Mietvertrag für eine kleine Altbauwohnung unterschrieben und Noah konnte den Einzug kaum noch erwarten. Insbesondere, da die Vorfreude die Erinnerungen an die Tage auf dem gemeinsamen Internatszimmer wieder wach werden ließ. Damals, als alles angefangen hatte.

Der Alltag mit Training im Leistungs-Zentrum und Studium würde sicher kein Zuckerschlecken werden, doch sowohl Nico als auch seine Eltern unterstützten ihn bei der Entscheidung, seinen beiden Leidenschaften nachzugehen. In den nächsten Jahren würde er den Sport an erste Stelle setzen und nebenbei in gemäßigtem Tempo studieren. Wenn es mit dem Leistungssport einmal vorbei sein würde, konnte Noah die Prioritäten ändern und sich der Mathematik in Vollzeit widmen. Ein neues Kapitel anfangen. Dieser Gedanke beruhigte ihn. Schließlich wusste er, dass man im Leben nicht alles planen konnte, und er wollte dies auch gar nicht. Dafür gab es zwischendurch einige viel zu schöne Momente, die es in vollen Zügen zu genießen galt.

Jetzt allerdings, in diesem Moment, musste er alles unter Kontrolle haben. Der entscheidende Sprung stand kurz bevor. Bei diesen Deutschen Jugendmeisterschaften – den letzten, an denen er teilnehmen durfte – war das Niveau außergewöhnlich hoch. Mehrere seiner Mitbewerber standen ebenfalls kurz davor, zu den Profis zu wechseln, so dass die Latte höher und höher gelegt wurde.

Noah hatte sich bisher gut präsentiert. Durch das harte Training während des vergangenen Jahres und die Perfektionierung der Technik mit dem längeren Stab hatte er sich große Fortschritte erarbeitet, die er jetzt zeigen konnte. Nicht nur über die 5 Meter war er souverän gesprungen, sondern auch über die 5,20 Meter, seine aktuelle persönliche Bestmarke. Allerdings war ihm dies erst im dritten Versuch gelungen. Das hatte ihn gerade einige Nerven gekostet und außerdem zwei Plätze, da die beiden anderen noch im Wettbewerb verbliebenen Springer weniger Fehlversuche aufwiesen.

Aber was vor ein paar Minuten geschehen war, gehörte nun der Vergangenheit an. Die Bronzemedaille, die Wiederholung seines Erfolges aus dem letzten Jahr, war ihm sicher. Ging dieses Mal vielleicht noch mehr? Noah musste sich auf die 5,30 Meter konzentrieren, die nun aufgelegt wurden. So hoch war er noch nie gesprungen. Aber wann, wenn nicht jetzt?

Er musste es versuchen, wagen, riskieren. Mit noch mehr Kraft und einem besonders steilen Einstich würde er das probieren, was ihm bisher noch nicht gelungen war. So kontrolliert wie immer, aber mit mehr Risikobereitschaft, Tatendrang und Energie. So hatte auch Martin Noahs Entwicklung zuletzt charakterisiert.

Noah atmete noch einmal tief durch, sah kurz auf seine vom Magnesiumpulver weiß gefärbten Hände und blendete die Welt um sich herum aus. Ganz in seinem Tunnel griff er seinen nun gewohnten 4,70-Stab und rannte los. Schneller und immer schneller lief er, weiter und weiter, bis er schließlich den Stab einstach und mit voller Kraft absprang. Das Adrenalin durchströmte ihn, als er der Erdanziehungskraft trotzte und sich am Stab aufrollte. Bedingt durch den steilen Einstichwinkel spürte er, dass er sehr nah an der Latte war, als sich die Energie des Stabs wieder auf ihn übertrug und ihn nach vorn katapultierte. Der Flug war schnell, kräftig – und verdammt hoch. Was für ein berauschendes Gefühl! Trotzdem hatte er die Bewegung so unter Kontrolle, dass er es schaffte, sich in diesem Sekundenbruchteil rechtzeitig zu drehen und behände über die Stange zu gleiten.

Noch im Fallen riss er die Arme in die Höhe und ließ einen Siegesschrei aus seinem Mund entweichen. Das Strahlen nahm sein ganzes Gesicht ein, sein Körper bestand nur aus Glücksgefühlen. Fünf Meter dreißig! Wie unglaublich war es, dass er diesen Meilenstein geschafft hatte!

Er hatte es gewagt und gewonnen. Kaum hatte er den Tunnel verlassen, dröhnte auch der Jubel von außen auf ihn ein. Michael, der neue Trainer, und Martin überboten sich in ihren lobenden Zurufen; die alten und neuen Teamkolleginnen und ‑kollegen klatschten und johlten. Und im Publikum, direkt neben seinen applaudierenden Eltern, war Nico begeistert aufgesprungen und strahlte ihn an. Wenn etwas Noahs Glücksgefühle noch steigern konnte, dann war es dieser Blick.

In seinem Höhenrausch bekam Noah nur am Rand mit, wie sich seine Mitbewerber vergeblich an der 5,30 Meter versuchten. So dauerte es einige Augenblicke, bis er realisierte, dass dies nicht nur eine Leistung war, mit der er selbst vollkommen glücklich war, sondern die ihn auch objektiv betrachtet zum besten jungen Stabhochspringer Deutschlands machte. Mit anderen Worten: Gold.

Vielleicht war diese Goldmedaille ein Symbol. Dieser Moment vereinigte Ende und Anfang, Abschied von den Jugendmeisterschaften und der Beginn des Erwachsenseins, sowohl im Sport als auch im Leben. Noah war voller Vorfreude und Hoffnung auf diesen neuen Abschnitt, auf all das was noch kommen würde.

Als er ganz oben auf das Siegertreppchen stieg, flogen seine Gedanken zurück zu dem Moment vor genau einem Jahr, als er sich gewünscht hätte, alles würde so bleiben wie damals in seinem angeblich so perfekten Internatsleben. Bei dem Gedanken daran musste er schmunzeln. Wie viel war seitdem passiert! Ein Unterschied von zwei Podestplätzen und einem halbe Meter Sprunghöhe? Vielleicht. Nur dass dieser Unterschied auch noch daran bestand, dass er nun das Gefühl hatte, seinen eigenen Weg gefunden zu haben und einen Menschen, an dessen Seite er diesen gehen wollte. Und das war etwas, was man weder in eine mathematische Formel noch in eine Höhe beim Stabhochsprung pressen konnte.