Kapitel 6
Eine Reise ins Ungewisse: Die EU und die Ukraine
»Man darf den Menschen in der Ukraine, die bis zum Hals im Leid stecken, keine falschen Versprechungen machen.«
Jean-Claude Juncker 2023 über eine schnelle EU-Beitrittsperspektive der Ukraine1
Lässt man die Entwicklung der Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine Revue passieren, muss man eine Vorbemerkung machen. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Europa 1989/1991 mit einem einzigartigen Transformationserlebnis konfrontiert war. Die sowjetische Einflusszone zerbrach aufgrund der nationalen Demokratiebewegungen in der Mitte, im Osten und im Süden des Kontinents. In der Mitte erstarkte das vereinte Deutschland. Im Osten wurde 1991 die Sowjetunion »abgewickelt«. Das war eine ungeheure Wucht von Ereignissen, die niemand vorhergesehen hatte und für die es keinerlei politische Planspiele gab. Die damalige Europäische Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten reagierten deshalb auch nicht mit einem großen politischen Entwurf, der eine Neugestaltung des gesamten Kontinents im Auge hatte, obwohl die Charta von Paris 1990 damals erste Konturen zeichnete. Die schiere Dimension des Ganzen war schlicht zu gewaltig.
Daher konzentrierten sich die EG und ihre Mitgliedstaaten auf das Nächstliegende: die eigene Gemeinschaft wurde gestärkt, der Vertrag geändert, sodass die Europäische Union entstand. 1993 starteten die Beitrittsverhandlungen mit Finnland, Österreich, Schweden, Norwegen und der Schweiz, die 1995 zum Beitritt der erwähnten ersten drei Länder führten. Im gleichen Jahr wurde die Schengen-Zone geschaffen. Gleichzeitig begann die EU, die Entwicklung der Beziehungen zu den unmittelbar angrenzenden jungen Demokratien voranzutreiben. Polen (1991), Ungarn und Tschechien (1994) waren die ersten, die sogenannte Europa-Abkommen erhielten. Der Abschluss solcher Abkommen wurde 1993 als Vorstufe zu einem späteren EU-Beitritt anerkannt. Die Europa-Abkommen regelten vor allem die wirtschaftlichen Beziehungen, und sie führten dazu, dass viel westliches, vor allem deutsches, Kapital in diese jungen Demokratien strömte und die neuen Märkte eng mit der EU verbunden wurden.
Hilfe auf Distanz: Die EU und die postsowjetischen Staaten
Der postsowjetische Raum, soweit er nicht das Baltikum betraf, lag außerhalb der damaligen politischen Prioritäten der EU. Er schien weit genug weg, um eine unmittelbare Bedrohung durch Armutswanderungen oder grenzüberschreitende Kriminalität darzustellen. Er war riesig, fremd und womöglich gar nicht europäisch. Denn der Kalte Krieg, der Europa gespalten hatte, hatte jedes gesamteuropäische Bewusstsein untergraben, und die Propaganda der vergangenen Jahrzehnte hatte dazu geführt, dass für viele Europa an der Elbe endete. Dahinter lag eine terra incognita, die manchem als der Beginn Sibiriens galt. Gab es womöglich noch eine gewisse Bereitschaft, sich Polen oder Ungarn als mögliche künftige EU-Mitglieder vorzustellen, so schien schon der gedankliche Sprung, dass das auch für Bulgarien oder Rumänien gelten könnte, eine zu große geistige Kraftanstrengung. Waren sie wirklich europäische Nationen? Über allem lagerten nicht aufgearbeitete Geschichten, jahrhundertealte Vorurteile, sehr viel Nichtwissen – und eine gehörige Portion Desinteresse.
So wundert es nicht, dass das Brüsseler Interesse an den allermeisten Nachfolgestaaten der Sowjetunion als Drittländern zunächst oberflächlich blieb. Die EU sah es nicht als ihre Aufgabe an, eine enge Zusammenarbeit zu etablieren oder gar an integrativen Strukturen zu arbeiten. Diese Staaten waren aus ihrem Blickwinkel Länder, mit denen man zusammenarbeiten konnte, je nach den Möglichkeiten beider Seiten, aber ohne jeglichen missionarischen Eifer oder längerfristige Pläne. Brüssel machte das, was es immer tat: Es etablierte ein Hilfsprogramm zur technischen Unterstützung für 12 GUS-Mitglieder und für die Mongolei, das Programm TACIS2. Es wurde 1991 geschaffen, zunächst mit einer Ausstattung von 850 Millionen ECU3 (1991–1992), die als Zuschüsse vergeben wurden.4 Im gesamten Zeitraum 1991 bis 1995 waren 2,268 Mrd. ECU reserviert.5 Zwischen 1996 und 1999 ging es um 1,953 Millionen Euro.6 Für die Jahre 2000 bis 2007 lag die gesamte TACIS-Ausstattung bei etwa 3,5 Mrd. Euro, also noch unter den Finanzhilfen für den westlichen Balkan.7 In den Jahren 1991 bis 1995 entfielen auf die Ukraine knapp 243,2 Millionen ECU an TACIS-Mitteln.8 Zwischen 1996 und 1999 ging es um 225 Millionen Euro.9 Zu berücksichtigen ist, dass diese Gelder schwerpunktmäßig für nukleare Sicherheit und für den Energiesektor eingesetzt wurden und dass die Höhe der zusagten Mittel nichts darüber aussagt, wie viele EU-Mittel im gesamten Zeitraum tatsächlich den begünstigten Ländern zuflossen.
Denn damit niemand der EU vorwerfen konnte, dass mit europäischen Steuergeldern Schindluder getrieben wurde, war die Handhabung von TACIS hochkompliziert. Entsprechend groß waren die bürokratischen Hürden, die Gelder auch zu nutzen. Dazu kamen die Probleme in den Empfängerländern. Jedenfalls hatte sich bis 1999 ein gewaltiger Mittelrückstau aufgebaut. Ergänzend zu den EU-Hilfen gab es bilaterale Mittel aus EU-Staaten.
Zunächst war TACIS ein autonomes Hilfsprogramm der EU. Mit dem Abschluss von Partnerschafts- und Kooperationsabkommen wurden die Hilfsgelder integraler Bestandteil des jeweiligen Vertragswerkes und dienten zur Finanzierung der Beziehungen.
1994 war die Ukraine unter den ersten Ländern, mit denen die EU ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen schloss, das 1998 förmlich in Kraft trat. Ein sogenanntes »Interim-Abkommen« sorgte dafür, dass bestimmte Handelsregelungen bereits vorläufig angewendet werden konnten.
1996 legte die Europäische Kommission einen »Aktionsplan für die Ukraine« vor. Politisch ging es der Kommission um eine Reaktion der EU auf die US-Politik, die die Ukraine zu einem strategischen Partner erhoben hatte. Die EU sollte nun ihrerseits etwas Ähnliches für die Ukraine auf den Weg bringen und ihr dabei helfen, eine stabile Verankerung in Europa zu finden. Dabei hielt es die Kommission für viel zu früh, um zu definieren, wie der Platz der Ukraine in der »europäischen Arena« aussehen könnte. Im Aktionsplan bilanzierte die Kommission das inzwischen Erreichte. Rosig war die Lage nicht, aber zumindest hatte die Ukraine, bringt man die damalige Einschätzung der Kommission auf den Punkt, ihre Unabhängigkeit bewahrt und war erste Reformschritte gegangen. Der schwierigere Teil des Weges, den die Kommission für noch nicht sicher hielt, lag noch vor ihr.
Laut Kommission musste die Ukraine das »russische Joch«10 abschütteln. Andererseits beschrieb die Kommission, dass der »Dreh- und Angelpunkt der Außenpolitik der Ukraine … die parallele Verbesserung ihrer Beziehungen sowohl zu Russland als auch zum Westen [sei]. In und von Europa [suche] sie einen stabilen Ankerplatz, der eine konkrete Garantie für ihre Unabhängigkeit bietet.«11 Als Hauptaufgaben der Zukunft betrachtete die Kommission die weitere Entwicklung der Demokratie und der Marktwirtschaft in der Ukraine und die Absicherung der öffentlichen Unterstützung für die Transformation. In diesem Zusammenhang notierte die Kommission, dass die Ukrainer nach Russland blicken, wenn sie ihre eigene Lage bewerten und z. B. feststellen, dass dort das Lohnniveau höher sei. Die Kommission beschrieb auch sehr klar, dass in der Ukraine keine homogene Identität bestehe, weder ethnisch noch kulturell, und dass das Land zwischen West- und Ostorientierung hin und her schwanke. Verständnis zeigte die Kommission für die ablehnende ukrainische Haltung, sich stärker auf die GUS-Kooperationsstrukturen einzulassen, obwohl die Kommission hervorhob, dass die Ukraine wirtschaftlich stark von der Zusammenarbeit mit Russland abhängig sei.
Der gesamte Aktionsplan der Kommission macht sehr deutlich, dass die EU kein Konzept für den gesamten Kontinent hatte. Sie betrachtete die Zusammenarbeit mit Russland, der Ukraine und auch den anderen Ex-Sowjetrepubliken jeweils rein bilateral. Es fehlte jegliche Überlegung, ob die EU mit ihren Mitteln der GUS-Zusammenarbeit eine Richtung geben könnte, die für alle Beteiligten, auch die EU, vorteilhaft sein würde. Stattdessen wurde die GUS-Zusammenarbeit als Moskauer Konkurrenzprojekt verstanden, so wie sich das auch aus ukrainischer Sicht darstellte.
Der Traum von Gorbatschow, der GUS möge gelingen, was er ursprünglich durch den Zusammenhalt der Sowjetunion in neuer Form bezweckt hatte, nämlich ein gemeinsamer politischer und ökonomischer Transformationsweg, war ausgeträumt. Er war zum »russischen Joch« geworden. Dieses Verständnis beraubte die EU der politischen, aber auch der intellektuellen Fähigkeit, den Kontinent insgesamt zu sehen. Für sie war es nur noch ein Territorium, auf dem sie, je nach Sachlage, mit oder gegen Russland agierte. Denkt man genauer darüber nach, hätte die EU aus eigener geschichtlicher Erfahrung eine andere Lösung bevorzugen müssen. Eine wichtige Ursache für die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) war die Einsicht gewesen, dass der Wiederaufbau Westeuropas nicht gegen Westdeutschland, sondern nur mit dessen industriellen Ressourcen gelingen würde. Deshalb wurden die Pläne der Zerschlagung der kriegswichtigen deutschen Industrien aufgegeben und auch Frankreichs Überlegungen, sich bestimmte deutsche Gebiete einzuverleiben, ad acta gelegt. Mit der EGKS erhielt Westdeutschland die Chance auf einen politischen Neuanfang im Rahmen der westeuropäischen Integration, die sich politisch und wirtschaftlich für Westdeutschland auszahlen würde.
Anders als bei der GUS hatte die EU bei anderen Staatenvereinigungen – etwa der EFTA, die 1960 als Handels- und Wirtschaftsabkommen in Stockholm gegründet worden war – keine Probleme, diese neben sich zu dulden. Genauso hätte man es mit Russland/ der GUS machen und deren arbeitsteilige Verflechtungen im postsowjetischen Raum zu einem Stabilitätsanker entwickeln können, aufgrund des EU-Engagements fest mit der EU verbunden. So aber wurden frühzeitig die Weichen dafür gestellt, dass alles, was an russischen Zusammenarbeitsversuchen im postsowjetischen Raum unternommen wurde, nur als Fortschreibung des »russischen Jochs« und als Konkurrenzunternehmen zur EU verstanden wurde.
Die Vorhersagen der Kommission 1996, dass der weitere Entwicklungspfad der Ukraine steinig sein würde, bestätigten sich in den folgenden Jahren, und das Land erreichte seinen absoluten Tiefpunkt, ähnlich wie Russland, in den Jahren 1996 bis 1999. Nirgendwo kam die Ukraine wirklich voran. Zu den internen Reformdefiziten gesellte sich ein substantielles Desinteresse ausländischer Investoren. Der Zustrom ausländischen Kapitals blieb marginal. Die ukrainische Oligarchenschicht, die sich entwickelt hatte, blieb weitgehend unter sich und kaperte, ähnlich wie in Russland in jenen Jahren, die Politik und die Medien. Beobachter dieser Zeit kamen zu dem Schluss, dass die Ukraine ihre proklamierte europäische Identität eher wie eine Monstranz vor sich hertrage, als dass sie sie als Reformanstoß begriffen habe.12
Das alles stand damals allerdings nicht im Zentrum der EU-Politik. Die EU hatte seit 1999 alle Hände voll zu tun, die große Erweiterung um acht mittel- und osteuropäische Staaten zu bewältigen, und das einzige Land, das in jenen Jahren das Thema Ukraine immer wieder ansprach, war Polen, der unmittelbare Nachbarstaat. Als ein künftiges Land an der Außengrenze der EU war Polen natürlicherweise daran interessiert, dass sich diese Lage nicht verfestigte, denn eine Außengrenzlage ist für die Einwohner der betroffenen Regionen mit massiven wirtschaftlichen Nachteilen und sozialen Belastungen verbunden. Man liegt im Abseits.
Durch die Erweiterung der EU wendet sich der Blick nach Osten
Erst 2002, als die politische Einigung über die Modalitäten der großen Erweiterung gelungen war – überall musste das Vertragswerk noch ratifiziert werden –, wandte sich die EU der Frage zu, wie die bald 25 bzw. 27 Mitgliedstaaten mit den neuen Nachbarn im Osten und Süden zusammenarbeiten sollten.
Der damalige EU-Kommissionspräsident Romano Prodi entwarf das Bild eines »Ringes von Freunden«, der die EU umgeben sollte. Unüberwindbare Trennlinien sollte es nicht geben, sondern es sollte mit jedem der neuen Nachbarn der erweiterten Union individuell stärker zusammengearbeitet werden. Damit war das Konzept der Neuen Nachbarschaftspolitik geboren. Russland war das erste Land, das sich beschwerte und einen eigenständigen Platz in dieser Nachbarschaft beanspruchte. Diese russischen Einwände erkannte die EU an und machte daraufhin das Angebot einer Strategischen Partnerschaft, die auch bis 2010 recht gut funktionierte.
Auch die Ukraine war nicht glücklich mit dem neuen Politikangebot der EU, wenn auch aus einem anderen Grund. Sie wollte eine ausdrückliche Anerkennung ihres rechtmäßigen Platzes in der europäischen Gemeinschaft. Auf mehr als die Anerkennung der »europäischen Bestimmung« der Ukraine ließ sich die EU jedoch nicht festlegen. 2004 erklärte ein Vertreter der Europäischen Kommission im Rahmen von EU-US-Konsultationen auf Arbeitsebene, man sei dabei, die Ukraine von ihren EU-Ambitionen »abzubringen«.13
2006/2007 veränderte die EU ihre Strategie, wie sie mit den Nachbarn umzugehen gedachte. Sie schuf nun zwei Gruppen von Nachbarn: die Mittelmeeranrainerstaaten einerseits und die postsowjetischen Staaten andererseits, aber diesmal ohne die Russische Föderation. Diese Gruppenbildung hatte ursprünglich nichts mit den östlichen Nachbarn zu tun. Die sogenannte Östliche Partnerschaft entstand vielmehr als Reaktion auf das französische Projekt einer Union für den Mittelmeerraum. Dabei handelte es sich um eine Idee des damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, der die EU-Staaten und die Anliegerstaaten des Mittelmeers in einem institutionellen Rahmen zusammenbinden wollte. Die Mittelmeerunion existiert bis heute, ohne dass sie je zu einem eigenständigen politischen Gewicht geworden wäre. Aus Gründen der politischen Statik, um also nicht zu »mittelmeerlastig« zu werden, beschloss die EU die Östliche Partnerschaft. Hinter diesem Projekt steckten Polen, Schweden und Deutschland. Formal wurde diese Partnerschaft 2009 aus der Taufe gehoben und sie kombinierte bilaterale und multilaterale Elemente.
Die Östliche Partnerschaft erregte in Moskau Argwohn. Dort glaubte man, das Projekt stelle den Versuch dar, ehemalige Sowjetrepubliken zu einer EU-Einflusszone zu machen und die russischen Kooperationsversuche mit diesen Ländern zu unterminieren.14 Denn so wie sich alles entwickelte, hatte Russland seine eigenen Vorstellungen einer engeren Wirtschaftsintegration (die übrigens dem EU-Modell nachempfunden war), die EU hatte ihre Vorstellungen, und beide standen mittlerweile in politischer Konkurrenz zueinander. Über einen gemeinsamen Wirtschaftsraum, der von Lissabon bis Wladiwostok reichen könnte, sprach längst niemand mehr. Dass es um Geopolitik ging, machte eine ausführliche Darstellung im Spiegel vom November 2014 unter der Überschrift »Wie die EU wegen der Ukraine Russland verlor« sehr deutlich. Polen wollte nie wieder eine Grenze mit Russland haben und betrachtete die Ukraine als »Puffer«. Die EU verlangte von der Ukraine eine klare Richtungsentscheidung zwischen West und Ost und lockte mit materiellen Vorteilen. Der Artikel berichtete, dass der ukrainische Oligarch Pintschuk den damaligen Erweiterungskommissar Štefan Füle gewarnt habe, Moskau werde nicht tatenlos zuschauen, wenn die EU versuche, die Ukraine in ihre »Einflusssphäre« zu ziehen.15
Nachdem die Ukraine Mitglied der WTO geworden war, begann die EU ein Assoziierungsabkommen mit dem Land auszuhandeln. Es war ein außerordentlich ambitioniertes Unterfangen. Es handelte sich um eine neue Generation von Abkommen, die die volle Integration der Ukraine in den europäischen Binnenmarkt und in alle übrigen EU-Politiken herbeiführen sollte, in fast allen Bereichen also außer der Mitwirkung in den höchsten EU-Entscheidungsgremien. Alles, außer Institutionen, hieß es verkürzt. Tatsächlich war aber der Gemeinsame Agrarmarkt nicht vom Assoziierungsabkommen erfasst, und im Unterschied zu den Europaabkommen wurde seitens der EU kein Niederlassungsrecht für Selbstständige gewährt.
Einen zentralen Teil des Abkommens bildeten die Freihandelsbestimmungen, die – mit Ausnahme des Agrarbereiches – einen weitgehend unbeschränkten Handel zum Ziel hatten. Nach den Schätzungen aus dem Jahr 2007 würden diese Bestimmungen der Ukraine pro Kopf größere Vorteile verschaffen, während absolut gesehen der größere Nutzen selbstverständlich (aufgrund der Wirtschaftskraft) bei der EU lag. Insgesamt wurden Vorteile in Höhe von 8,5 Mrd. Dollar erwartet.16
Von Anfang an verfolgte die Ukraine das Ziel, in diesem Abkommen die Anerkennung einer EU-Mitgliedschaftsoption festzuschreiben. Das hat die EU jedoch sorgfältig vermieden. In den Hauptstädten regierte das Gefühl, man sei bei den Mitgliedschaftsverhandlungen mit der Türkei »zu schnell« gewesen und auch »zu weit« gegangen. So jedenfalls erklärte der damalige amtierende Leiter der Vertretung der EU-Kommission in Kiew, Dirk Schübel, amerikanischen Gesprächspartnern die zurückhaltende Position der EU.17
Es ist fraglich, ob sich die Regierungen in Kiew, die mit der EU dieses Abkommen verhandelten, der vollen Tragweite der vertraglichen Vereinbarungen wirklich bewusst waren. Nur eine kleine Gruppe von Insidern kannte die Bestimmungen.18 Eine genaue Folgenabschätzung, was das für die Ukraine im Einzelnen bedeuten würde, wurde nie gemacht.
Das Abkommen unterwarf die Ukraine, ohne dass sie die Vorzüge einer EU-Mitgliedschaft genossen hätte, weitgehend dem Regelwerk der EU bzw. auch dessen weiterer Veränderung. Das bedeutete zwangsläufig einen weitgehenden Souveränitätsverzicht, dem auf der anderen Seite allerdings eine Blaupause für die Entwicklung einer modern regulierten ukrainischen Wirtschaft gegenüberstand. In der Praxis ist es allerdings eine schwierige Mischung für ein Land, das um Demokratieentwicklung und Identität ringt und nicht entschieden hat, wohin es blicken soll. Hinzu kam, dass seit der globalen Finanzkrise 2008 die politisch ohnehin instabile Ukraine zunehmend wirtschaftlich schwächelte und finanziell immer mehr von Krediten abhängig wurde.
Die EU-Mitgliedschaft der Ukraine rückt in weite Ferne
Was unter Juschtschenko begann, wurde unter Janukowitsch zu Ende verhandelt. Der Wunsch der Ukraine, im Abkommen zumindest die Option einer EU-Mitgliedschaft zu fixieren, scheiterte. Aber kaum war das Abkommen paraphiert, machte nunmehr die EU Bedenken geltend und setzte die Unterschrift aus. Auslöser dafür war der Prozess gegen die bisherige Ministerpräsidentin Julija Timoschenko, bei dem es insbesondere um Verträge über Gaslieferungen ging, die sie mit Russland abgeschlossen hatte. Ihr wurde Amtsmissbrauch vorgeworfen, weil sie diese ohne Einwilligung ihres Kabinetts unterzeichnet und zum wirtschaftlichen Nachteil der Ukraine zu hohe Preise vereinbart habe.
Das Gerichtsverfahren wurde von der EU als politisch motiviert betrachtet und galt als Fall von »selektiver« Justiz. Das führte aufseiten der EU zu Forderungen nach ihrer Freilassung, aber auch nach tiefgreifenden weiteren Reformen, speziell im Justizbereich. Auch Russland kritisierte die Verurteilung Timoschenkos. Das Außenministerium Russlands sah darin einen Versuch, das Gasabkommen von 2009 zu zerstören, und betrachtete das Urteil als eine anti-russische Maßnahme. »Tatsächlich sei Timoschenko für rechtsverbindliche Abkommen zwischen Gazprom und Naftogaz Ukraine verurteilt worden, die weiter gültig sind und die niemand verletzt hat«, bewertete es die Situation. Putin erklärte öffentlich, dass es gefährlich und kontraproduktiv sei, das ganze Abkommen infrage zu stellen, und erklärte, er» verstehe nicht, warum sie ihr sieben Jahre aufgebrummt haben.19
Es ist bis heute nicht völlig klar, warum die EU sich in einer so bedeutsamen Frage wie ihren künftigen Beziehungen zur Ukraine am Fall Timoschenko so festbiss, zumal Timoschenko selbst einerseits dazu aufrief, das Abkommen abzuschließen, aber andererseits Sanktionen gegen die Regierenden in der Ukraine forderte.20 Laut Spiegel ging es bei diesem Abkommen schließlich, wenn auch unausgesprochen, um die »Begrenzung des russischen Einflusses und um die Definition, wie weit Europa nach Osten reicht«.21
2015 kam durch Enthüllungen des Spiegel heraus, dass die Stilisierung von Timoschenko zur Märtyrerin das Ergebnis einer massiven ukrainischen Lobby-Kampagne in Deutschland war, gut dotiert mit 500000 Euro, die Vertreter der damaligen Opposition lockergemacht hatten. Berliner Politiker ließen sich gerne vor den Karren spannen und auch Ärzte der Charité leisteten ihren Beitrag. Sie flogen zu Timoschenko, untersuchten sie und attestierten öffentlich, dass Timoschenko »schwer krank« sei.22 »Meine Mutter stirbt, wenn ihr keiner hilft«, zitierte BILD Timoschenkos Tochter.23
Es muss offenbleiben, warum diese Lobby-Kampagne verfing, denn Berliner Politiker sind normalerweise keine Marionetten, die zu tanzen beginnen, wenn man in Kiew auch nur pfeift.
Die Verhandlungen um die Assoziierung wurden hart und auch kontrovers geführt. Im gleichen Zeitraum hatte Putin den Plan zur Schaffung einer Eurasischen Union vorgestellt, bei der er die Ukraine gerne dabeigehabt hätte. Zumindest Anfang 2011 gab es seitens Janukowitsch auch Signale, dass er keinen Widerspruch zwischen einer EU-Assoziierung und einer Mitarbeit in der Eurasischen Union sehe. Aber möglicherweise war das auch Teil des Pokerspiels von Janukowitsch, um der EU eine Mitgliedschaftsoption für die Ukraine zu entreißen, denn die Mitgliedschaft in der Europäischen Union war am Ende der strittigste Punkt in den Verhandlungen.
Warum also hat die EU nicht gleich Nägel mit Köpfen gemacht und stattdessen 2012 vor allem auf Zeit gespielt und weitergehende rechtsstaatliche Reformen in der Ukraine gefordert?
Man kann nicht ausschließen, dass es zu diesem Zeitpunkt in Berlin und Brüssel längst Überlegungen gab, dass es die Machtbasis von Janukowitsch gefestigt und ihm womöglich eine zweite Amtszeit beschert hätte, wenn die Assoziierung schnell unter Dach und Fach gebracht worden wäre. Mit einem Präsidenten Janukowitsch war aber kein Nato-Beitritt der Ukraine zu machen, da er eine neutrale Ukraine wollte. Gleich zu Beginn seiner Präsidentschaft war der Stationierungsvertrag mit Russland bis zum Jahr 2042 verlängert worden. Im Gegenzug erhielt die Ukraine deutlich verbilligte Gaslieferungen. Die politische Opposition in der Ukraine konnte das nicht verhindern, obwohl sie Sturm lief. Der Guardian stellte damals fest, dass diese Entscheidung »der letzte Sargnagel« für die ukrainische Revolution 2004 sei. Die Ukraine stehe wieder »unter russischem Einfluss«.24 Tatsächlich schob dieser Beschluss die Verwirklichung des Nato-Traums vom Schwarzen Meer als einem »Nato-Binnenmeer« in die ferne Zukunft.
Nach Einschätzung des Europäischen Rechnungshofs begann die Europäische Kommission erst 2010, sich in den nicht öffentlichen Einschätzungen ihrer Finanzhilfen für die Ukraine kritischer zu deren Lage zu äußern. Vorher waren die allgegenwärtigen Probleme in der Ukraine, wie schwache governance, also Regierungsführung, systemische Korruption, Schattenwirtschaft und Einfluss der Oligarchen offenbar kein so großer Gegenstand von Brüsseler Besorgnis.25
Der Wind drehte sich in der EU erst wieder zugunsten eines Abschlusses des Assoziierungsabkommens mit der Ukraine, als es 2013 aus Moskau plötzlich Einsprüche dagegen gab. Dazu muss man wissen, dass die Abkommensvereinbarungen lange nicht öffentlich zugänglich waren. Während also die EU immer noch zögerte, machte Moskau nunmehr mobil, drohte der Ukraine unter anderem mit dem Entzug von Handelslizenzen und ging zu protektionistischen Handelspraktiken über. Aus Sicht Russlands versperrte das Assoziierungsabkommen jeden Weg der Ukraine zur Teilnahme an der Eurasischen Union (was korrekt war), aber der von Russland beklagte Souveränitätsverzicht der Ukraine gegenüber der EU wäre auch im russischen Projekt eingetreten.
Laut Politico.eu hielt man in Moskau die handelspolitischen Vereinbarungen der EU-Assoziierung der Ukraine für einen »selbstmörderischen Schritt«.26 Der Guardian berichtete, dass russische Politiker vor politischen Unruhen in der Ukraine warnten, wobei die allerdings dachten, sie entstünden im Osten der Ukraine.27 Öffentlich machte Russland geltend, dass der vorgesehene Freihandel der EU mit der Ukraine zu unkontrollierten Importen nach Russland führen könne, da die Ukraine gleichzeitig weiter Freihandel mit Russland betreiben werde (die Bestimmungen des Abkommens mit der EU standen dem nicht entgegen). Zur Folgenabschätzung schlug die ukrainische Regierung ein trilaterales Gesprächsformat vor, aber zu jenem Zeitpunkt sah die EU keine Notwendigkeit, irgendetwas mit Russland zu besprechen, und betrachtete die russischen Sorgen und Einwände als »Mythen«.28 Tatsächlich sprach die EU überhaupt nicht mit Moskau über das Projekt der Ukraine-Assoziierung. Laut Spiegel soll Bundeskanzlerin Merkel die Notwendigkeit von Gesprächen mit Russland erst auf dem Gipfel von Vilnius erkannt haben.29 Erst im Zug des Minsk-II-Abkommens, 2015, wurden die russischen Bedenken dann aufgegriffen und in trilateralen Gesprächsrunden verhandelt.
Schwanken zwischen West und Ost: Der Gipfel von Vilnius 2013
Tatsächlich war die ukrainische Rechtsstaatsentwicklung auch im Spätsommer/Herbst 2013 nicht wirklich vorangekommen und Julija Timoschenko saß weiter in Haft. Dennoch schwenkte die EU um, und der neue Plan bestand darin, auf dem Gipfel von Vilnius das Vertragswerk zu unterschreiben. Nachdem Moskau massive Bedenken geltend gemacht hatte, war nunmehr die EU zu politischer Großzügigkeit bereit.
Jetzt allerdings bekam Janukowitsch kalte Füße. Allgemein wird sein Umdenken so interpretiert, dass die Ukraine zu viel Druck aus Moskau bekam und dem nicht standhielt. Diese Interpretation übersieht allerdings, dass die Ukraine Mitte 2012 erneut in eine tiefe Wirtschaftskrise geraten war und massive Finanzierungsprobleme hatte. Deshalb fanden im Oktober 2013 auch Konsultationen mit dem IWF statt.30 Im Fall einer weiteren Kreditaufnahme beim IWF hätte die Ukraine unter anderem die Energiepreise drastisch anheben und auch Teile eines früheren Kredits zurückzahlen müssen. Beides vertrug sich nicht mit Janukowitschs Streben nach einer zweiten Amtszeit. Die Lage war ohnehin schon schlecht, und Wähler neigen dazu, bei einer Wahl die Wirtschaftslage und ihre eigene Situation zum Maßstab dafür zu nehmen, wie sie abstimmen. »It’s the economy, stupid«, nannte das Clinton im Wahlkampf 1992. Also wandte sich Janukowitsch an die EU und bat den damaligen EU-Kommissionspräsidenten José Barroso um ein Gespräch. Barroso schickte den Erweiterungskommissar Füle. Der hörte in Kiew, dass sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert habe und die Ukraine es nicht riskieren könne, den Handel mit Russland zu verlieren.
Wie sich Kosten und Nutzen einer EU-Assoziierung der Ukraine gestalten würden, darüber gab es 2013 verschiedene Interpretationen. Berliner Kalkulationen rechneten mit Verlusten von 3 Milliarden pro Jahr für die Ukraine im Russland-Handel, also mit einem geringen Preis verglichen mit den Chancen, die der EU-Binnenmarkt bot. Ein ukrainisches Institut wiederum hatte 160 Milliarden ausgemacht, die es die Ukraine kosten werde, die Rechtsangleichung an die EU vorzunehmen, was eine ganz andere Hausnummer war, und daran hielt sich Janukowitsch fest.31 Das hielt wiederum die EU für völlig übertrieben. Sie rechnete mit einem Wachstumsschub in der Ukraine von bis zu 6,5 % im Jahr.32 Eine solide Grundlage für die Prognosen hatte anscheinend niemand.
Klar war 2013 lediglich, dass die Ukraine Geld brauchte, viel Geld, mindestens 15 Mrd. Dollar auf die Schnelle. Aber Füle konnte nur anbieten, was in der EU längst beschlossen worden war.
Dann gab es laut Spiegel ein heimliches Treffen zwischen Janukowitsch und Putin am 9. November 2013, in dem dieser eine Milliardenunterstützung in Aussicht gestellt haben soll.
Aber so einfach war es auch wieder nicht. Noch im September 2013 plädierte Janukowitsch vor dem Parlament dafür, alle Gesetze auf den Weg zu bringen, damit die Assoziierung gelinge. Den Druck aus Moskau empfand er als »entwürdigend«, versicherte aber gleichzeitig, die Ukraine werde immer (auch) ein strategischer Partner Russlands bleiben.33 Als alternativer Geldgeber blieb der IWF, und auch die USA in Gestalt von Frau Nuland signalisierten Unterstützung. Aber die Konditionen waren umstritten.
Fast wie zufällig erhielt die ukrainische Regierung kurz vor dem Gipfel von Vilnius Post vom IWF, aus der klar hervorging, dass der IWF vollständig an seinen Bedingungen festhalten werde und alle Vorschläge der ukrainischen Regierung zur Änderung der Kreditbedingungen vom Tisch gewischt habe.34 Die New York Times berichtete damals, dass es die Forderungen des IWF gewesen seien, die die Kiewer Regierung dazu brachten, das Projekt der EU-Assoziierung auf Eis zu legen. Der ukrainische Ministerpräsident wurde mit den folgenden Worten zitiert: »Die Position des IWF, die im Brief vom 20. November dargelegt wurde, war der Punkt, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Entscheidung ist schwer, aber die einzig mögliche angesichts der wirtschaftlichen Lage in der Ukraine.«35 Die Lage war in der Tat brenzlig geworden. Nichts daran war über Nacht entstanden, sondern das Ergebnis schwerer Versäumnisse vieler Jahre. Die damaligen Daten des IWF zeigen ganz deutlich, dass die Ukraine in einer schweren strukturellen Krise steckte.36
Die New York Times beschrieb ebenfalls die damalige Empörung der ukrainischen Opposition im Parlament und die Reaktion von Julija Timoschenko, die die Regierungsentscheidung, die Assoziierung zunächst auf Eis zu legen, als »Staatsstreich« bezeichnete. Aus dem Weißen Haus hieß es, dass der US-Vizepräsident Biden in einem Telefonat mit dem ukrainischen Präsidenten sein äußerstes Missfallen zum Ausdruck gebracht habe. Wohlgemerkt, die Wellen der Entrüstung schlugen bereits hoch, obwohl die ukrainische Regierung an der grundsätzlichen Orientierung hin zur EU-Assoziierung noch festhielt.
Das gilt auch noch für die ukrainische Position auf dem Gipfel von Vilnius, bei dem es nur um ein »vorübergehendes Aussetzen« ging. Denn im Beschluss von Vilnius vom 29. November 2013 ist der Wille beider Seiten in dem langen Abschlussdokument, das 58 Punkte enthält, eindeutig festgeschrieben. Dort heißt es, dass
»… die Teilnehmer des Gipfeltreffens in Vilnius die Entscheidung der ukrainischen Regierung zur Kenntnis [nehmen], den Prozess der Vorbereitungen für die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens und der vertieften und umfassenden Freihandelszone zwischen der EU und der Ukraine vorübergehend auszusetzen. Sie nehmen auch die beispiellose öffentliche Unterstützung für die politische Assoziierung und wirtschaftliche Integration der Ukraine mit der EU zur Kenntnis. Die EU und die Ukraine bekräftigen ihr Engagement für die Unterzeichnung dieses Abkommens auf der Grundlage entschlossener Maßnahmen und greifbarer Fortschritte in den drei Bereichen, die auf dem EU-Ukraine-Gipfel 2013 hervorgehoben wurden. Hierzu wurden bereits wichtige Fortschritte erzielt.«
Öffentlich kommuniziert – sowohl im Westen als auch in der Ukraine selbst – wurde aber etwas ganz anderes, nämlich: Die Ukraine beuge sich russischem Druck und erteile der EU eine Absage. Der Gipfel sei gescheitert.37
Im Dezember 2013 wollte der ukrainische Ministerpräsident dann bestimmte Regelungen im Agrarbereich neu verhandeln.38 In einem Telefonat mit dem Kommissionspräsidenten Barroso, das Janukowitsch initiiert hatte und das am 2. Dezember 2013 stattfand, ging es neben der innenpolitischen Lage auch um die ukrainische Absicht, eine Delegation nach Brüssel zu entsenden, um einige Aspekte des Abkommens zu besprechen. Barroso war dafür offen, erklärte aber gleichzeitig, neue Verhandlungen über das Abkommen seien ausgeschlossen.39
Erst am 17. Dezember 2013 akzeptierte Janukowitsch dann ein russisches Hilfspaket: 15 Milliarden Dollar und ein Absenken der Gaspreise um ein Drittel sollten der Ukraine helfen. Janukowitsch sei als »Bittsteller mit leeren Staatskassen« nach Moskau gekommen, und Moskau habe sich in der Rolle des »Helfers in der Not« gefallen, berichtete damals die Tagesschau.40 So war es auch, nur dass der »Bittsteller« vorher einmal vergeblich bei der EU und einmal beim IWF angeklopft hatte. Die EU hatte kein Geld und die Auflagen des IWF waren für ukrainischen Geschmack zu drastisch. EU und IWF gefielen sich offenbar damals nicht in der Rolle von Helfern in der Not.
Der Vertrag mit Moskau empörte die ukrainische Opposition erst recht. Der Tagesschau erklärte der damalige Oppositionspolitiker Klitschko scheinheilig, dass er nicht wisse, warum Janukowitsch von Moskau günstige Kredite und einen reduzierten Gaspreis bekommen habe, und fügte hinzu, er hoffe, Janukowitsch habe nicht die Interessen der Ukraine »verkauft«. Zu wem hätte Janukowitsch damals noch gehen können? Auch bei seinem Gang nach Moskau gab es keine ukrainische Zusage zur Mitgliedschaft in der Eurasischen Union. Denn das sei, berichtete die Tagesschau in der gleichen Sendung, wegen der ukrainischen Opposition ein »heikles Thema«.41
Von einer ukrainischen Absage an den ganzen Assoziierungsprozess konnte also weder im November noch im Dezember 2013 die Rede sein, auch dann nicht, wenn man sich die Gesamterklärung des Gipfels von Vilnius anschaut, der auch die Ukraine zugestimmt hatte.42 Und auch bei seinem Gang nach Moskau im Dezember 2013 hatte Janukowitsch das Land nicht auf einen eindeutigen »pro-russischen« Kurs festgelegt.
Euro-Maidan und Krim-Annexion: Die Ukraine kommt nicht zur Ruhe
In der öffentlichen Kommunikation überwog jedoch die Stimme der ukrainischen Opposition, und das entfachte die öffentlichen Proteste, die zunächst in der Westukraine begannen, bis sie sich dann auf dem Maidan in Kiew etablierten, der 2004 schon Schauplatz der Orangenen Revolution gewesen war. Dort trafen sich aber nicht nur Menschen, die eine engere Anbindung an die EU wünschten und nunmehr ihrem Ärger Luft machten. Viel Unzufriedenheit hatte sich aufgestaut: wegen der systemischen Korruption, die auch unter Janukowitsch weiter wucherte, wegen der scharfen wirtschaftlichen und sozialen Disparitäten im Land. All das nutzte der ukrainischen Opposition, die den Maidan politisch für sich vereinnahmte. Ein Gesprächsangebot der Regierung wurde abgelehnt. Die Opposition forderte Neuwahlen, scheiterte aber mit diesem Versuch Anfang Dezember 2013 im Parlament. Also verlagerte sie ihren politischen Kampf auf die Straße. Daher sprach die ukrainische Regierung schließlich auch vom Versuch eines Staatsstreichs.43
Der Maidan erfreute sich der politischen Unterstützung und medialen Sympathie des Westens, und so wechselte er auf die Seite der »pro-europäischen« ukrainischen Opposition. Harter Kern des Maidan waren jedoch radikale, extrem nationalistische und anti-russische Kräfte, die Ultrafans, der Rechte Sektor und Anhänger der rechtsextremen Swoboda-Partei. Sie radikalisierten die Proteste, berichtete die Zeit, die hinzufügte, dass »paradoxerweise es die gewalttätigen Aktionen dieser Gruppen [waren], die die bis dahin friedlichen Demonstrationen voranbrachten«.44 Was die Zeit mit »voranbrachte« meinte, ließ sie offen.
Als Erstes kamen in der OSZE Besorgnisse darüber auf, dass die Dinge eskalierten. Es gab Aufrufe nach Zurückhaltung auf beiden Seiten zugunsten einer politischen Lösung.45 Nachdem sich die Gewaltspirale im Januar und Februar 2014 immer schneller zu drehen begann, ergriff schließlich der deutsche Außenminister im Februar 2014, also sehr spät, die Initiative und reiste gemeinsam mit seinen französischen und polnischen Amtskollegen nach Kiew zu einem Vermittlungsversuch. Die Lage sei dramatisch gewesen, denn die Ukraine habe vor einer Spaltung gestanden, erklärte Frank-Walter Steinmeier gegenüber der Welt. Tatsächlich hatte der Oberste Rat der Krim längst an den Präsidenten appelliert, die Einheit des Landes wiederherzustellen. Er betrachtete die Situation am 18. Februar 2014 bereits als Bürgerkrieg und drohte am 20. Februar 2014 mit Sezession.46 Die Welt lobte daher auch das Husarenstück, das Steinmeier in den Vermittlungsverhandlungen in Kiew gelungen war: Ein Kompromiss zwischen der Janukowitsch-Regierung und den drei Vertretern der ukrainischen Opposition war gefunden worden. Es sollte Neuwahlen geben.47 Der Weg für eine politische Lösung schien frei zu sein. Die russische Seite unterstützte den Kompromiss, die USA sprachen von einem »mutigen Schritt« der Opposition.48
Vor seinem Rückflug nach Berlin erklärte Steinmeier am 21. Februar 2014: »Wir werden ein Auge darauf haben, dass aus der Vereinbarung, die hier getroffen wurde, auch Politik wird.«49 Tags zuvor war es zu dem größten Gewaltexzess auf dem Maidan gekommen, für den – wir hatten das in Kapitel 3 bereits einer genaueren Analyse unterzogen – fälschlicherweise der Sicherheitsapparat von Janukowitsch verantwortlich gemacht wurde. Die gewaltbereiten Teile des Maidan hatten nicht vor, das Abkommen einzuhalten. Ihr Credo lautete, dass Janukowitsch sofort das Amt aufzugeben habe. Sonst komme es zu einem bewaffneten Aufstand.50
Am 22. Februar 2014 erklärte der »Kommandant des Maidan«, sie hätten die Kontrolle über das Parlament erlangt.51 Am gleichen Tag enthob das ukrainische Parlament Janukowitsch seines Amtes. Der hatte sich am Vorabend nach Charkiw abgesetzt und sprach von einem »Staatsstreich«.52
Mit bemerkenswerter Geschwindigkeit vergaßen Deutschland, Frankreich und Polen das ausgehandelte Abkommen vom 21. Februar 2014 und pochten nicht länger auf dessen Einhaltung.
Stattdessen überzeugte man sich selbst davon, dass es quasi eine »revolutionäre« Situation in der Ukraine gegeben habe, und nun wieder das Recht regieren müsse. Dass dabei die Demokratie mit Füßen getreten worden war – immerhin wurde der Präsident ohne eine entsprechende Grundlage in der Verfassung abgesetzt –, wurde weggewischt. Es spielte auch keine Rolle mehr, dass das ukrainische Volk in der Frage, ob sich das Land nach Westen oder Osten orientieren sollte, gespalten war. Eine Umfrage im November 2013 hatte klar gezeigt, dass die Befürworter einer Assoziierung mit der EU (39 %) Kopf an Kopf lagen mit den Befürwortern einer Zollunion mit Russland (37 %). Nach Regionen waren die ukrainischen Präferenzen klar verteilt: Die westliche Ukraine und ihre Mitte blickten nach Westen, die südliche und östliche nach Osten.53
Wie der Pressemitteilung zur Sitzung des UN-Sicherheitsrates vom 24. Februar 2014 zu entnehmen ist, unterstrich die US-Vertreterin, dass das ukrainische Volk seine Zukunft wählen müsse und die USA die »technische Regierung der nationalen Einheit« unterstützen. Die USA würden mit anderen Staaten für eine »starke, wohlhabende, vereinte und demokratische Ukraine« arbeiten. Am selben Tag empfand sich die CIA wieder in befreundeter Umgebung und entwickelte (gemeinsam mit MI 6 und später noch den niederländischen Kollegen) eine sehr enge Sicherheitszusammenarbeit mit den ukrainischen Partnern, die sich ausdrücklich, laut der detaillierten Beschreibungen in der New York Times, gegen Russland richtete. Der BND scheint dabei nicht im Spiel gewesen zu sein.54
Die litauische Vertreterin betonte im Sicherheitsrat, dass die »jüngsten demokratischen Veränderungen in der Ukraine eine beeindruckende Erinnerung daran seien, dass es nicht möglich ist, die Suche eines Volkes nach Freiheit und Demokratie zu ignorieren. Hoffentlich würde der in Gang gekommene historische Prozess zu einer schnellen und friedlichen Lösung der politischen Krise führen.« Frankreich erklärte, man wolle keine »politischen Bruchlinien« schaffen.55
Das, was sich bereits in den letzten Tagen vor dem Sturz von Janukowitsch angekündigt hatte, eine sezessionistische Bewegung auf der Krim, kam unverhüllt spätestens am 27. Februar 2014 in Gang. Der Sturz von Janukowitsch brachte alles ins Rollen. Das Parlament der Krim entzog der lokalen Regierung das Vertrauen und kündigte an, in einem Referendum über mehr Autonomierechte entscheiden zu lassen.56 Am Tag darauf begannen Spezialkräfte der russischen Armee die Flughäfen auf der Krim zu sichern, was der russische Verteidigungsminister als Schutzmaßnahme der dort stationierten russischen Truppen bezeichnete.57 Am 1. März 2014 erteilte der Nationale Föderationsrat der Russischen Föderation dem Präsidenten die Vollmacht zum Einsatz russischen Militärs in der Ukraine, darunter zum Schutz der russischen stationierten Truppen auf der Krim, bis sich die Lage wieder beruhigt habe. Dass vorher bereits russische Spezialkräfte auf der Krim agierten, kann man nicht ausschließen.58
Am 3. März 2014 riefen die ehemaligen ukrainischen Präsidenten Krawtschuk, Kutschma und Juschtschenko dazu auf, das Abkommen über die russische Truppenstationierung auf der Krim aufzukündigen.59
Am 5. März 2014 schlug die Kommission ein Hilfspaket für die Ukraine vor, das zusätzliche Gelder von bis zu 11 Mrd. Euro in Aussicht stellte. Etwa drei Milliarden sollten aus dem EU-Haushalt kommen, bis zu 8 Mrd. von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) und von der Europäischen Investitionsbank (EIB).60 Damit bewies die Kommission, dass sie durchaus Geld mobilisieren kann, wenn sie es politisch will.61 Die Zeit monierte damals, dass die Ukraine kurz vor dem Staatsbankrott stehe, aber die Kommission nicht gemeinsam mit dem IWF agiere und es diesem überlasse, die Auflagen für die Ukraine zu definieren.62 2016 war die Einschätzung des Europäischen Rechnungshofs, es habe sich um einen politischen Notfall gehandelt, allerdings habe die Kommission die Vorschläge ohne Analyse der Bedürfnisse der Ukraine oder der Gefahren für den europäischen Steuerzahler gemacht. Eine Strategie habe es nicht gegeben.63
Am 6. März 2014 trafen sich die EU-Staats- und Regierungschefs zu einem außerordentlichen Gipfel in Brüssel. Eingeladen war der Regierungschef der ukrainischen Übergangsregierung, Arsenij Jazenjuk. Die EU-Staats- und Regierungschefs verurteilten das russische militärische Vorgehen auf der Krim und die Entscheidung des Parlaments der Krim, ein Referendum über den Beitritt zu Russland abzuhalten. Das sei nicht in Übereinstimmung mit der ukrainischen Verfassung und daher illegal. Sie forderten direkte Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine zur politischen Streitschlichtung und kündigten Sanktionen an, wenn sich Russland nicht an internationales Recht halten sollte. Gleichzeitig beschlossen sie, den politischen Teil der Assoziierung der Ukraine nunmehr zügig zu unterschreiben.64
Zum Verfassungsbruch in der Ukraine, mit dem der gewählte Präsident abgesetzt worden war, hatte die EU nichts zu sagen. Ihr Entschluss, die Ukraine unter den neuen politischen Gegebenheiten zu assoziieren, stand fest. Sie rügte auch nicht, dass in der Übergangsregierung vier Vertreter der extremen Swoboda saßen, und tolerierte damit die Beteiligung einer ultranationalistischen Partei.65 Sie hatte nicht mehr vor, in eine politische Streitschlichtung zwischen der Ukraine und Russland einzugreifen oder in irgendeiner anderen Weise tätig zu werden, um den Verlust der Krim zu verhindern. Denn sonst hätte sie neben Demarchen gegenüber Moskau auf höchster Ebene auch politische Bedingungen an ihre Unterschrift unter das Assoziierungsabkommen knüpfen und von der amtierenden Regierung in der Ukraine ebenfalls ernsthafte Anstrengungen für eine einvernehmliche Lösung der Krim-Frage und eine politische Befriedung des Landes verlangen müssen. Aber das tat sie nicht. Man kann nur spekulieren, warum nicht.
Hielt sie die Krim schon für verloren für die Ukraine? Das ist gut möglich, denn den politischen Beobachtern der Entwicklungen in der Ukraine dürfte damals nicht entgangen sein, dass politische Kräfte in der Ukraine an die Macht gelangt waren, die Gegner der russischen Truppenstationierung auf der Krim waren und das Abkommen im ukrainischen Parlament bereits 2013 hatten zu Fall bringen wollen. Dass Russland dies nicht zulassen würde, selbst wenn es sich damit völkerrechtlich ins Unrecht setzte, ergab sich von selbst, und die ersten EU-Sanktionen zeigten auch, dass die EU nicht bereit war, aufgrund der Krim-Ereignisse das Tischtuch mit Russland komplett zu zerschneiden.
Schärfere Sanktionen folgten erst im Laufe des Jahres 2014. Sie wurden auf massiven amerikanischen Druck hin beschlossen. Das machte der damalige Vize-Präsident Biden während einer sehr interessanten Veranstaltung mit Harvard-Studenten öffentlich. Auf diese Weise »beschämten« die USA ihre europäischen Alliierten gleich noch einmal, die laut Biden nachgerade wie Hunde zum Jagen getragen werden müssten, wenn es um wirtschaftliche Strafaktionen gegen Russland gehe.66
Damals herrschte in Europa noch eine andere Stimmungslage vor. Man stellte noch die Frage, wie es hatte passieren können, dass das Verhältnis mit Russland so abstürzte und die Ukraine in einen Bürgerkrieg rutschte. Damals kam ein Team des Spiegel zu der Schlussfolgerung, es habe sich um eine »historische Fehlleistung« gehandelt und die deutsche Kanzlerin trage auch ihren Teil Verantwortung dafür.67
Abwärtsspirale der Ukraine: Die EU-Assoziierung steht unter schlechten Vorzeichen
Die weitere Entwicklung der EU-Ukraine-Beziehungen nach dem Umsturz in Kiew zeigte, dass dort rein politische Überlegungen und eigensüchtige Wirtschaftsinteressen dominierten. Ende März 2014 wurde der politische Teil der Assoziierung unterzeichnet. Es regte sich kein Widerspruch in der EU, als die ukrainische Übergangsregierung im April 2014 ihre Anti-Terror-Aktion gegen den »pro-russischen« Separatismus im Donbass und auf der Krim startete. Sie wurde gutgeheißen. Im Juni 2014 folgte die Unterzeichnung des handelspolitischen Teils des Assoziierungsabkommens. Nun waren nur noch die nationalen Ratifikationsprozeduren zu durchlaufen, für die in der Ukraine ein Parlamentsbeschluss reichte. In der EU wurde im niederländischen Referendum eine Assoziierung zunächst abgelehnt, aber dieser »Unfall« wurde schnell korrigiert. Nirgendwo, weder in der EU, geschweige denn in der Ukraine, fand eine vertiefte Diskussion statt, ob das Abkommen, so wie es 2011 zu Ende verhandelt worden war, noch in die Zeit passte oder der Anpassung bedurft hätte. Seit 2012 hatte sich die wirtschaftliche und finanzielle Lage der Ukraine drastisch verschlechtert, sodass sie seit 2013 keinen Zugang mehr zum internationalen Finanzmarkt hatte. Sie war in eine tiefe systemische Krise gerutscht, die aus der Sicht des IWF nur noch mit weitreichenden Reformschritten gelöst werden konnte, was bereits erwähnt wurde.68 Schattenwirtschaft, Korruption und ein viel zu hoher Energiekonsum hingen wie Mühlsteine um den Hals der Ukraine. 2014 hatte sie die Krim verloren und war in eine militärische Operation gegen den abtrünnigen Donbass verstrickt. Das band weitere wirtschaftliche und finanzielle Mittel. Zudem verschlechterten sich die Beziehungen zu Russland, der Handel brach ein, und Russland verlangte im April 2014 wieder höhere Gaspreise. All das schuf zusätzliche Schwierigkeiten, insbesondere für die großen Industriebetriebe, die im Osten der Ukraine liegen.
Bezogen auf den EU-Assoziierungsprozess tat man aber zunächst so, als sei das alles kein Problem. Tatsächlich waren die Probleme in der Ukraine gewaltig, und das Assoziierungsabkommen sah sehr detaillierte und vor allem kurze Fristen vor, bis wann die Ukraine im Zuge ihrer Rechtsangleichung an das Gesetzeswerk der EU was zu erledigen hatte. Keine der Fristen war mehr realistisch. Die Annahme aus dem Jahr 2007 war überdies gewesen, dass ein steter Zufluss von Direktinvestitionen in die Ukraine dem Land helfen würde, die Modernisierungs- und Anpassungskosten an die EU zu tragen. Nichts davon hatte sich materialisiert, stattdessen kam es zu Kapitalflucht, der Bürgerkrieg verschärfte die Lage weiter, und das Land befand sich in steter Finanznot.
2014 hatten IWF, EU und andere Geber etwa 27 Mrd. Dollar für die Ukraine vorgesehen, in der Annahme, es ginge nur um die Abwendung eines Staatsbankrotts und die Abmilderung der Folgen der Rezession. Im Jahr 2015 war das alles längst Schnee von gestern. Ein neues Hilfspaket musste geschnürt werden, das zwischen 2015 und 2018 etwa 40 Mrd. Dollar für die Ukraine beinhaltete, darunter 17,5 Mrd. Dollar vom IWF. Das war allerdings auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein, denn 2015 musste die Ukraine in etwa die gleiche Summe an den IWF aus vorausgegangenen Krediten zurückzahlen. Die Beziehungen zwischen der Ukraine und dem IWF verliefen auch nicht spannungsfrei, denn der IWF stellte wegen nicht erfüllter Auflagen immer wieder seine Zahlungen ein.
Aus EU-Sicht war spätestens 2015 abzusehen, dass die Ukraine völlig überfordert war mit dem, was an vertraglichen Verpflichtungen gegenüber der EU bestand. Nirgendwo in der Ukraine gab es eine Stelle, die die Reformschritte koordiniert oder mit der Wirtschaft oder der Zivilgesellschaft auch nur besprochen hätte. Folgenabschätzungen, wie man den Reformweg gehen und welche Auswirkungen das haben könnte, wurden nicht gemacht. Die EU wiederum begnügte sich mit der Grundentscheidung zur Assoziierung. Sie traf keinerlei Vorkehrungen, um den Reformprozess in der Ukraine politisch intensiv zu begleiten, geschweige denn, sich mit der Frage zu befassen, ob die Ukraine unter den Bedingungen eines Bürgerkrieges und der steten Verschlechterung des Verhältnisses zu Russland einen soliden Entwicklungspfad vor sich hatte.
Praktisch überließ sie den USA die politische Führung in der Ukraine. Fünfmal besuchte der US-Vizepräsident Biden die Ukraine zwischen 2014 und 2016. So häufig ist kein EU-Politiker in Kiew gewesen. Die EU organisierte Hilfe auf Beamtenebene, aber das ersetzt nicht das politische Gespräch und den politischen Fokus. Jeder, der in jenen Jahren Kiew besuchte, wusste, dass die US-Botschaft – und nicht etwa die Delegation der Europäischen Kommission oder gar die Botschaften der Mitgliedstaaten der EU – der Dreh- und Angelpunkt war. Im ersten Impeachment gegen Präsident Trump ging es auch um die Rolle der US-Botschaft in Kiew, und man erhielt einen noch besseren Einblick, wie weit ihr Einfluss dort reichte. Das FBI war seit 2014 in der Ukraine aktiv, und in einem Bericht der Washington Post vom Oktober 2023 rühmte sich die CIA erstmals ihres Aufbauwerkes in der Ukraine69, bevor sie gegenüber der New York Times 2024 mehr in die Details ging, einschließlich der Trainings von ukrainischen Kräften für gezielte Morde und Sabotageakte, speziell auf der Krim und im Donbass. In der Ukraine bekannt gemachte Telefonate des Präsidenten Poroschenko mit dem US-Außenminister Kerry bzw. dem Vizepräsidenten Biden zeigten ebenfalls den großen Einfluss der USA. Wenn die etwas forderten, war ein ukrainischer Hinweis darauf, dass europäische Staatschefs wie Merkel und Hollande aber zufrieden seien, nichts wert. Wenn den USA eine Personalie nicht passte, musste sie weg; der Ersatzkandidat wurde mit Biden abgesprochen, nicht mit EU-Vertretern. Die betreffenden Telefonmitschnitte wurden zwar redaktionell bearbeitet, aber an ihrer Echtheit konnte kein Zweifel bestehen. Auch wenn ein Bericht der Kyiv Post nicht in allen Teilen korrekt ist, bekommt man schon einen Eindruck, worüber gesprochen wurde.70 Später hieß es über Derkach, der diese Telefonate öffentlich machte, er sei ein langjähriger russischer Agent. Das Leak heizte in den USA den Parteienstreit an. In der EU hätte es zur Frage führen müssen, wie groß der US-Einfluss auf die Ukraine real war.
Wie intensiv das Mikromanagement der USA in der Ukraine verlief, wäre eine eigene Untersuchung wert. Biden rühmte sich jedenfalls bei seinem bereits erwähnten Auftritt vor Harvard-Studenten 2014, was die USA in der Ukraine alles in die Hand genommen hätten.
Man muss daher bilanzieren, dass die EU in dieser Zeit nicht die erste Geige in Kiew spielte, und sie hat es auch nicht versucht. Zwischen dem politischen Interesse an einer Ukraine, die sich für die enge Zusammenarbeit mit der EU entschied, und dem EU-Interesse an den realen Herausforderungen und Problemen der Ukraine klafften Welten.
Der Konflikt mit Russland um die Ukraine führte dazu, dass die EU sich blind und taub stellte, als die Ukraine 2014 der Krim bildlich gesprochen das Wasser abdrehte. Sie hat zum Beispiel nicht offen kritisiert, dass Kiew die Rentenzahlungen an Bewohner des Donbass aussetzte. In der Folge wurde dieser immer mehr von der Unterstützung durch Russland abhängig.
Ein ähnliches Desinteresse zeigte die EU in der Frage der Erfüllung des Minsk-Abkommens durch die Ukraine. Frankreich und Deutschland waren zwar die EU-Staaten, die die Abkommen von Minsk I und II mit aus der Taufe gehoben hatten, aber dass Minsk II auch ukrainische Verpflichtungen beinhaltete, spielte in den Treffen der EU mit der Ukraine keine große Rolle. Im ersten Treffen des EU-Ukraine-Assoziierungsrates im Dezember 2014 hatte es noch geheißen, dass »die EU und die Ukraine darin überein[stimmen], dass das Minsk-Protokoll und -Memorandum [gemeint war damals Minsk I; Anm. d. Aut.] vollständig und ohne Verzug« erfüllt werden müsse, als ein Schritt zu einer »nachhaltigen politischen Lösung des Konflikts«.71 Auf dem zweiten Treffen des Assoziierungsrates 2015 erinnerten dann beide Seiten an die Notwendigkeit der Erfüllung von Minsk II und daran, dass die Sanktionen gegen Russland an diese Erfüllung gebunden seien – obwohl Russland gar keine Vertragspartei war. Von ukrainischen Verpflichtungen war nicht die Rede. Auf dem dritten Treffen wurde diese Formel wiederholt, wiederum ohne Verweis auf die ukrainischen Aufgaben, und das Gleiche wiederholte sich bei dem darauffolgenden Treffen des Assoziierungsrates 2017. Der folgende Assoziierungsrat 2018 folgte der gleichen Logik. Als neues Element kritisierte er zudem »die klare Verletzung der ukrainischen Souveränität und territorialen Integrität durch aggressive Akte der bewaffneten Kräfte Russlands seit Februar 2014«.72 Damit machte sich die EU faktisch auch die ukrainische Lesart zu eigen, wonach Russland am 20. Februar 2014 eine militärische Aggression gegen die Ukraine begonnen habe.73 Damit aber wird der geschichtliche Ablauf verfälscht: erst kam der Coup, dann die russische Aggression.
2019, auf dem 6. Assoziierungsrat, wurde festgestellt, dass sich ein neues Fenster auftue, um Minsk II zu erfüllen. Diesmal begrüßte der Rat das »erneuerte Engagement aller Seiten« sowie das »konstruktive Herangehen der Ukraine«.74 Tatsächlich war gerade Selenskyj gewählt worden und dessen anfängliches Bemühen um eine Überwindung der inneren Blockaden in der Ukraine und um gute Russland-Beziehungen war aufrichtig. Dass er scheiterte, hat die EU allenfalls stillschweigend zur Kenntnis genommen.75
Selbstverständlich muss man bei solchen gemeinsamen politischen Erklärungen immer bedenken, dass sie positiv formuliert sind, und daher ist auch viel von erreichten ukrainischen Reformfortschritten zu lesen. Die Erwartungen der EU, was in der Ukraine noch zu erledigen sei, sind ebenfalls aufmunternd formuliert.
Keine Ermunterung brauchte dagegen der Handel, der sich zwischen der EU und der Ukraine entfaltete. Die EU wurde insgesamt zum größten Handelspartner der Ukraine. Unzweifelhaft hat das Freihandelsabkommen, das ab 2015 vorläufig angewendet worden war, mit dafür gesorgt. Dabei ist anzumerken, dass dort, wo die Ukraine wettbewerbsstark war, im landwirtschaftlichen Bereich, der Handel hochreguliert war und mit Zollkontingenten gearbeitet wurde. Die Verschlechterung der ukrainisch-russischen Beziehungen schlug ebenfalls auf den Handel durch. Nach 2014 gehörten Deutschland, Italien und Polen zu den fünf wichtigsten Haupthandelspartnern der Ukraine. 2020 war Deutschland zur zweitwichtigsten Bezugsquelle von Importen der Ukraine geworden, noch vor Russland.
Im Handel zwischen der EU und der Ukraine herrscht die typische Warenstruktur zwischen Partnern, die ein ganz unterschiedliches wirtschaftliches Leistungsniveau haben. Die Ukraine war vor allem Lieferant von Rohstoffen und halbverarbeiteten Erzeugnissen, während die EU vor allem verarbeitete Produkte, sowohl Konsumgüter als auch Maschinen und Ausrüstungen, lieferte. Die Handelsbilanz, sowohl bei Waren als auch bei Dienstleistungen, war anhaltend negativ zulasten der Ukraine. Mit dem Jahr 2014 brach der Handel mit Russland substantiell ein, aber bis zum Jahr 2018 war Russland immerhin noch der Haupthandelspartner der Ukraine, wenn auch auf vergleichsweise sehr geringem Niveau. Die führende Rolle Russlands im Handel mit der Ukraine wurde ab 2019 von China abgelöst, sowohl im Ex- als auch im Import. Auch diese Handelsbilanz ist negativ. Blickt man auf die führenden fünf Länder im Export der Ukraine, so erreichte sie nur gegenüber der Türkei und Italien stabile Exportüberschüsse.76
Bei der Beurteilung der gesamten Handelsentwicklung der Ukraine nach 2014 ist zu berücksichtigen, dass der faktische Verlust sowohl der Krim als auch des Donbass dazu führte, dass der Wert der Exporte der Ukraine im Jahr 2020 noch unter dem von 2010 lag. Erst 2021 gelang es ihr, das damalige Ergebnis merklich zu übertrumpfen. Im Import zeigte sich das gleiche Phänomen. Sehr viel schwerer einzuschätzen ist das Engagement der EU mittels Direktinvestitionen in der Wirtschaft der Ukraine. Von dort stammte im vergangenen Jahrzehnt der Löwenanteil an Direktinvestitionen, wobei es so zu sein scheint, dass sich darunter auch Investitionen von Ukrainern verstecken, die über die EU abgewickelt werden.77
Seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine 2022 hat die EU die im Assoziierungsabkommen vorhandenen mengenmäßigen Beschränkungen für den Export aufgehoben, um auf diese Weise Exportförderung zugunsten der Ukraine zu betreiben. Die Maßnahmen betrafen vor allem den landwirtschaftlichen Bereich. Das führte zu politischen Widerständen in mittel- und osteuropäischen Staaten, am sichtbarsten in Polen. Die dortigen landwirtschaftlichen Produzenten können nicht mit den vergleichsweise viel günstigeren Erzeugnissen der Ukraine konkurrieren. Das ist eine anhaltende Quelle von Spannungen, die eine Vorahnung darauf bietet, mit welchen Problemen in einem unbeschränkten europäischen Binnenmarkt, der die Ukraine umfasst, gerechnet werden muss.
Im Dezember 2023 beschlossen die EU-Staats-und Regierungschefs, mit der Ukraine Verhandlungen um einen künftigen EU-Beitritt aufzunehmen. 26 Staaten stimmten dafür. Ungarn beteiligte sich nicht an der Abstimmung und erklärte, dass es diese Entscheidung für falsch halte. Da bei jeder einzelnen Verhandlungsfrage Einstimmigkeit unter allen Mitgliedstaaten erforderlich ist, ist Streit innerhalb der EU um gemeinsame Verhandlungspositionen vorprogrammiert. Ob es dazu überhaupt kommt, ist eine andere Frage, denn es ist nur sehr schwer vorstellbar, wie es unter Kriegsbedingungen gelingen könnte, dass sich die Mitgliedstaaten, die Kommission und das Europäische Parlament in Bezug auf die verschiedenen Verhandlungsthemen ein umfassendes, sachliches Bild von den Zuständen in der Ukraine machen können. In diesen Verhandlungen wird es sehr konkret, und bisher war es so, dass das, was die Kommission den Mitgliedstaaten an Erkenntnissen vortrug, nur dann Gewicht hatte, wenn es durch gleichlautende Einsichten der Mitgliedstaaten gestützt wurde. Im Erweiterungsprozess sind sie die »Herren« des Vertrags. Realistisch betrachtet, muss man den EU-Beschluss zur Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen als einen Akt politischer Solidarität deuten. Das Problem dieser Symbolik besteht allerdings darin, dass die EU ihr bisher geltendes Kriterium aufgab, wonach Beitrittsverhandlungen nur eröffnet werden, wenn die politischen Voraussetzungen von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechts- sowie Minderheitenschutz erfüllt sind. An schweren Defiziten auf diesen Feldern krankte die Ukraine bereits vor Kriegsausbruch. Das Wirken politischer Parteien, aber auch der Medien,78 wurde während der Präsidentschaft Selenskyjs beschränkt. Das Kriegsrecht tat sein Übriges.79 Mit der Behauptung, pro-russische Umtriebe zu bekämpfen, ist die Opposition im Land nahezu mundtot gemacht worden. Auch die älteste Kirche in der Ukraine, die dem Moskauer Patriarchen zugeordnet ist, steht längst unter Generalverdacht, allerdings regte sich dagegen Widerstand in der Rada.80
Im Dezember 2023 wurde der ukrainische Präsident in einem Interview mit Bret Baier von Fox News mit dem Vorwurf wachsender Autokratie konfrontiert, den unter anderem Klitschko, der Bürgermeister von Kiew, erhoben hatte.81 Baier fragte konkret nach, was Selenskyj jenen sage, die auf die Schließung von oppositionellen Medien, das Verbot politischer Parteien oder die Verhaftung von Kirchenvertretern hinweisen. Der ukrainische Präsident ging darauf gar nicht ein. Das Land habe nur einen Feind, Putin, gegen den man für Demokratie und Freiheit kämpfen müsse. Er empfahl Kritikern (ohne Namensnennung) recht deutlich, sich lieber mit dem Krieg zu beschäftigen und mit Soldaten an der Front zu sprechen, statt weltweit Interviews zu geben. Er gab das Musterbeispiel eines Autokraten ab, der den Krieg zum Vorwand nimmt, Kritik niederzuschlagen und den Demokratieabbau, der unter seiner Führung stattfand bzw. stattfindet, zu legitimieren.82
Es ist noch nicht klar, wie hoch der Preis sein wird, den die EU dafür bezahlen muss, dass sie die antidemokratischen Entwicklungen in der Ukraine nicht klar benannt hat. Mit einer objektiven und fairen Beurteilung der Lage in der Ukraine hatte die EU-Entscheidung zugunsten der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine jedenfalls nichts zu tun.
Finanziell unterstützt die EU die Ukraine seit dem Kriegsausbruch massiv. Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel gibt eine gute Übersicht heraus, wie sich die Unterstützung der Ukraine seit dem 24. Januar 2022 entwickelte. Die aktuellsten Daten reichen bis zum 31. Oktober 2023 und erfassen die gemachten finanziellen Zusagen. Demnach haben die EU und ihre Mitgliedstaaten insgesamt 133,2 Mrd. zugesagt, gefolgt von den USA mit 71,4 Mrd. und anderen Gebern mit 36,4 Mrd. Euro. Diese Zusagen umfassen sowohl Haushaltshilfen für die Ukraine als auch militärische Hilfen.83 Bei militärischen Hilfen führt die USA, gefolgt von Deutschland und Großbritannien. Exakte Angaben, wie sich diese Finanzzusagen verteilen, was davon ein Kredit und was eine Schenkung ist, existieren nicht. Man muss vermuten, dass es, so wie im Fall der EU, mehrheitlich um Kredite geht. Nach Statista-Angaben betrug der Schuldenstand der Ukraine 2021 etwas über 73 Mrd. Dollar und erhöhte sich 2022 auf knapp 112 Mrd. Dollar. Die Gesamtverschuldung im Jahr 2023 wurde auf über 200 Mrd. Dollar geschätzt, und es wird prognostiziert, dass sie im Jahr 2028 über 300 Mrd. Dollar betragen wird.84 Das bedeutet eine große Finanzlast für die Ukraine, da die Rückzahlung der Schulden erwirtschaftet werden muss. Die Fähigkeit der Ukraine, ihre Schulden zu bedienen, hängt davon ab, was nach dem Krieg von ihr übrig ist an wirtschaftlichem und menschlichem Potential, wie viele Kriegsschäden sich aufhäufen und wer die bezahlt, beziehungsweise ob der Ukraine Schulden erlassen werden. In Friedenszeiten wären mit einem Bruchteil der Gelder womöglich sichtbare Veränderungen zum Besseren in der Ukraine erreicht worden, wenn man die Korruption in den Griff bekommen hätte. So aber ist es nur eine zusätzliche und sehr schwere Hypothek für die Zukunft.