Die Sonne stand tief, aber es war noch warm, Ende August, der Sommer gibt noch mal alles, dachte Förster, aber als er jetzt auf das Haus zuging, in dem er so lange gewohnt hatte, traf ihn eine Brise, in der er den nahenden Herbst zu spüren meinte, einen Hauch von Kühle unter der Wärme, so als hätte man eine Zitrone nur kurz in ein Glas Wasser getaucht. Oder eine Limette. Förster hatte sich nie merken können, was genau der Unterschied zwischen den beiden war, mal abgesehen davon, dass eine Zitrone größer war.
In diesem Moment meldete sich sein Handy, Martina rief über FaceTime an. Auf dem Display erschien ihr immer etwas nachdenklich wirkendes Gesicht, im Hintergrund ein blauer Himmel mit einigen weißen Schäfchenwolken, Sanso fiel ihm ein, ein Waschmittel von früher. Hatte sich in der Werbung nicht immer ein Schaf mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck auf einem frisch gewaschenen Wollpullover niedergelassen?
»Hallo, Martina, was ist los, bist du im Himmel?«
Sie zog die Stirn kraus, und wenn Martina die Stirn krauszog, dann sah das immer aus, als könne sie nicht fassen, was für einen Schwachsinn man absonderte. »Was? Ach so. Warte.«
Sie bewegte das Handy und setzte sich aufrecht hin. Jetzt war ein Wohnwagen im Hintergrund zu sehen.
»Tolle Zeit zum Campen«, sagte Förster.
»Ja, ja, sicher. Wir drehen.«
»Klar, Martina, das dachte ich mir.«
»Diesmal darf ich schießen. Und ich werde verprügelt und schlage zurück. Da passiert richtig was.«
»Der ganz normale Alltag einer Polizistin in Deutschland.«
»Im Ernst, Förster, das macht Spaß!«
»Verprügelt zu werden macht Spaß?«
»Wenn es nicht echt ist, kann es Spaß machen. Und im Fernsehen wird es super aussehen. Das ist diesmal praktisch ein Kinofilm, den wir hier machen, ein Thriller, aber eben für Sonntag, zwanzig Uhr fünfzehn.«
Bestimmt zehn Jahre machte Martina jetzt Tatort. Es war für Förster immer noch komisch, sie Sätze sagen zu hören wie: Wo waren Sie letzten Dienstag zwischen einundzwanzig und dreiundzwanzig Uhr? Vor einem Vierteljahrhundert hatte er sie zum ersten Mal auf einer Bühne gesehen, in einer ziemlich heftigen Version von Medea, in einer ehemaligen Fabrikhalle in Dortmund, das Stück war nicht gut gewesen, aber Martina sensationell, am Ende hatte sie blutüberströmt im hinteren Teil der Bühne vor der Wand gehockt und war auch für den Applaus nicht aufgestanden, war dort sitzen geblieben, bis der letzte Zuschauer, die letzte Zuschauerin den Raum verlassen und das Grauen mit nach Hause genommen hatte. Noch ein paar Jahre früher, Ende der Achtziger, hatte sie mit Fränge in einer WG in Berlin gelebt, und Förster hatte mehrmals in ihrem Bett geschlafen, war ihr aber nie begegnet, sie hatte immer irgendwo vorsprechen oder spielen müssen.
»Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Zitronen und Limetten, Martina?«
»Wieso willst du das wissen?«
»Das wollte ich gerade nachsehen, deshalb war ich so schnell dran.«
»Es sind beides Zitrusfrüchte.«
»Ja, ich weiß, aber es muss doch einen Unterschied geben, sonst gäbe es nicht zwei unterschiedliche Begriffe.«
»Es gibt auch Hausflur und Treppenhaus. Zwei unterschiedliche Begriffe, die aber das Gleiche meinen.«
»Nicht zwingend«, gab Förster zu bedenken, »ein Haus kann einen Flur haben, ohne über ein Treppenhaus zu verfügen, zum Beispiel, wenn es nur eine Etage hat, also nur ein Erdgeschoss.«
Martina legte die Stirn in Falten. »Ich würde sagen, das ist extrem selten. Ein Mehrfamilienhaus, das nur ein Erdgeschoss hat? Wenn es keinen Hausflur hat, dann ist es doch wohl ein Einfamilienhaus.«
»Also denkst du auch, dass die beiden Begriffe nicht dasselbe meinen?«
Martina verzog das Gesicht wie ein Verdächtiger, dessen Alibi gerade geplatzt war.
»Ich habe den Überblick verloren«, sagte sie.
»Ich werde das später noch mal googeln, das mit den Zitronen und den Limetten.«
»Wieso interessiert dich das?«
»Nur so«, sagte Förster. »Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Es hat auch mit dem Wind zu tun, also der Brise, die mich hier gerade erwischt hat.«
Martina nickte. »Die halbe Wahrheit. Manchmal reicht die.«
Die versteht mich, dachte Förster.
»Ich habe gehört, du bist jetzt Fußballtrainer.«
»Wo hast du das jetzt wieder her?«
»Brocki hat es mir erzählt.«
Das wunderte Förster. »Brocki? Wieso Brocki?«
»Wir telefonieren ab und zu.«
»Seit wann das denn? Wieso telefoniert ihr zwei? Was ist da los?«
Martina lachte. »Er hat mich gefragt, ob ich nicht mal zu ihm in den Unterricht komme, um ein bisschen zu erzählen, wie das so ist als Schauspielerin.«
»Ach so.«
»Und da hat er mir gesagt, dass du jetzt Fußballtrainer bist.«
Förster fand es merkwürdig, vor dem Haus zu stehen, in dem er so lange gewohnt hatte und dabei das sprechende Abbild seiner Exfreundin, mit der er in diesem Haus sehr intensive Zeiten erlebt hatte, in der Hand zu halten.
»Ich helfe da nur dem Fränge. Der will bei seinem Sohn ein bisschen was gut machen, und er hat doch derzeit keinen Führerschein, also der Fränge, der Alex ist ja eh noch zu jung. Aber ich mache das nur so lange, bis Fränge seinen Führerschein wiederhat.«
»Ist doch toll, auch wenn du keine Ahnung von Fußball hast.«
Sie hatte recht, trotzdem schmerzte ihn die Aussage. »Na ja. Man kann ja auch im Alter noch dazulernen.«
»Stimmt, ich lerne gerade das Schießen und das Verprügeln und Verprügeltwerden.«
»Außerdem macht das meiste ja der Fränge. Ich gucke mir das alles an und finde es interessant.«
»Was genau?«
Förster dachte nach. »Es ist ein bunter Haufen. Klein, groß, dick, dünn. Alle möglichen Hintergründe. Sizilianische Wurzeln, türkische, libanesische, albanische, biodeutsche. So eine Fußballmannschaft ist die reinste UNO.«
»Klingt spannend.«
»Ja, mal gucken.«
»Was?«, rief Martina, meinte aber nicht Förster, sondern jemanden, der sie von außerhalb des Bildes angesprochen hatte. »Förster, ich muss wieder ran. Die haben umgebaut und jetzt … Also, es geht weiter.«
Die kleine Pause war Förster aufgefallen. Er fragte nach.
»Ich habe darauf bestanden, dass meine Figur auch ein bisschen Privatleben bekommt, und deshalb drehen wir jetzt meine erste Liebesszene.«
»Du hast doch schon öfter Liebesszenen gespielt.«
»Ja, und du hast sie dir immer gerne angesehen.«
Nein, dachte Förster. Er fühlte sich immer unbehaglich, wenn er sah, wie Martina in einem Film jemanden küsste, aber das sagte er jetzt nicht, er sagte gar nichts.
»Es ist jedenfalls meine erste Liebesszene in dieser Rolle.«
»Wahrscheinlich mit einem Verdächtigen. Das ist doch die Logik in diesen Krimireihen. Wenn die Kommissarin mal was erleben darf, dann geht es schlecht aus.«
»Dazu sage ich jetzt nichts«, seufzte Martina. »Und Förster?«
»Ja?«
»Solche Szenen fallen mir leichter, wenn ich vorher mit dir gesprochen habe.«
Darauf wusste er nichts zu sagen.
»Limetten, Förster, sind zwar kleiner als Zitronen, aber sie haben dafür mehr Saft. Auch ist der Geschmack etwas würziger. Und die Zitrone hat etwas mehr Vitamin C.«
Ja, dachte Förster, aber wahrscheinlich ist das nur die halbe Wahrheit.