Triptychon des Friedens

Förster hatte noch immer einen Haustürschlüssel, obwohl er seit knapp einem Jahr nicht mehr hier wohnte. Er hatte auch Schlüssel für die Wohnungen von Dreffke und Frau Strobel. »Falls mal was ist«, hatte Dreffke bei Försters Auszug gesagt.

Förster betrat den Hausflur, öffnete die Tür zum Kellerabgang, die schon früher nie verschlossen gewesen war, und stieg die knarzende, abgewetzte Holztreppe hinunter, vorbei an seinem alten Kellerabteil, hinter dessen aus Latten zusammengezimmerter Tür er undeutlich einige Gegenstände erkannte, eine alte Stehlampe zum Beispiel, die Peggy mal aus dem Sperrmüll gezogen hatte, das wusste Förster, weil Peggy seine Nachmieterin war.

Am Ende des Gangs war eine offene Tür und dahinter führte eine Treppe in den von Häusern umstellten Garten. Dreffke lag auf einer alten orangefarbenen Liege. Er war mit über siebzig immer noch drahtig, passte immer noch in die sehr knappe rote, bestimmt vierzig Jahre alte Badehose, die ihn aussehen ließ wie einen gealterten Bodybuilder, dabei hatte er seit dem Ausscheiden aus dem Polizeidienst nach eigener Aussage keinen Sport mehr getrieben, aber Förster hatte mal durch die geöffnete Schlafzimmertür in Dreffkes Wohnung eine Hantel auf dem Boden liegen sehen.

Frau Strobel saß in einem Campingstuhl und schaute in den Himmel.

»Ich war gerade in der Gegend«, sagte Förster. Das war ein typischer Begrüßungsdialog zwischen ihnen, denn Förster war eigentlich immer in der Gegend, da die Wohnung, in der er jetzt mit Monika lebte, nur ein paar Hundert Meter entfernt war. Er wäre mit ihr überall hingezogen, aber dass sie diese wunderbare Bleibe in fußläufiger Entfernung zum Café Dahlbusch und zu seiner alten Wohnung gefunden hatten, war eine glückliche Fügung gewesen.

»Giampiero?«, fragte Frau Strobel, und diese Frage trug Förster aus der Kurve. Was hatte seine in den Nebel des Vergessens abdriftende Exnachbarin mit dem Stürmer einer C-Jugend-Mannschaft zu tun, der Förster einen Tag zuvor zum ersten Mal begegnet war?

»Bist du das, Giampiero?«

»Nein, Frau Strobel«, sagte Dreffke. »Das ist Förster.«

»Ach was!«, gab die alte Frau erbost zurück und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wieso Förster? Wir haben hier ja nicht mal Bäume.«

»Der war gut, Frau Strobel!«, sagte Dreffke, öffnete die Augen und setzte sich auf. Nicht mal im Sitzen sieht man an diesem Mann auch nur ein Fettröllchen, dachte Förster.

Dreffke griff in einen Eimer voller Eiswürfel, holte eine Flasche Bier hervor und drückte sie Förster in die Hand. Warum nicht, dachte er, man kann nicht ablehnen, wenn ein Exbulle zum Trinken einlädt, so wie man es in fremden Ländern nicht ablehnt, wenn einem das Nationalgericht serviert wird, selbst wenn es sich um gegrillte

»Ich war der härteste Libero in der Geschichte der deutschen Polizeisportgruppen. Gegen mich war Klaus Augenthaler der reinste Mahatma Gandhi.«

Klaus Augenthaler, den Namen hatte Förster schon einmal gehört, wusste aber nicht mehr, wer das war, ein Fußballer natürlich, aber wo der gespielt hatte und wie der aussah, das war Förster unbekannt, und eigentlich interessierte es ihn auch nicht.

Dreffke trank von seinem Bier und schien nachzudenken. »Du stellst Fragen, Förster! Ich habe keine Ahnung.«

»Eigentlich ist es doch unlogisch, einen Ball mit den Füßen zu spielen. Mit den Händen ist es viel leichter.«

»Könnte das der Grund sein? Ich meine, wieso spielt man verstecken?«

»Worauf willst du hinaus?«

»Es ist doch unlogisch, jemanden zu suchen, der gerade noch vor einem stand. Es ist ein Problem, das man ins Leben baut, um sich über die Lösung zu freuen.«

»Okay, das verstehe ich. Aber warum spielen wir dann nicht alle ständig Verstecken?«

Dreffke nahm erneut einen Schluck, was ihm offensichtlich beim Nachdenken half. »Fußball ist so einfach. Du brauchst nur etwas Platz und einen Ball.«

»Du brauchst Tore.«

»Als Kinder haben uns Zweige genügt, die wir in den Boden gerammt haben. Da brauchten wir auf der Wiese auch keine Linien. Es ging irgendwie.«

»Würde das mit Handball nicht auch gehen? Es gab doch früher auch Feldhandball.«

»Keine Ahnung. Es muss Gründe geben, wieso es Feldhandball nur noch vereinzelt gibt. Vielleicht, weil Handballer nicht so gerne im Regen spielen. Außerdem ist da das Gemeinschaftsgefühl beim Fußball. Aber da wirst du sagen, dass es das beim Handball oder beim Basketball oder meinetwegen beim Hockey auch gibt.«

»Ist ja auch so. Vielleicht ist es tatsächlich das Artistische«, dachte Förster mal laut nach. »Einen Ball mit den Händen fangen, das bekommen wir alle einigermaßen hin, aber ihn mit dem Fuß sauber stoppen, das ist schon schwieriger. Aber da muss noch mehr sein.«

»Wie meinen Sie das, Frau Strobel?«, fragte Förster.

»Fußball sieht schön aus. Der große grüne Platz, die vielen Spieler. Dann rollt der Ball hin und her und kreuz und quer, und plötzlich fliegt er in das Netz, das sieht einfach schön aus.«

»Eine der wichtigsten Erfindungen war das Tornetz«, sagte Dreffke. »Stell dir vor, es gäbe kein Netz. Man wüsste manchmal gar nicht, ob der Ball drin war oder nicht.«

»Wie schön ein Tor ist«, redete Frau Strobel weiter, »hängt auch davon ab, wie schön der Torwart fliegt. Findest du nicht auch, Giampiero?«

Förster konnte sich nicht daran erinnern, Frau Strobel jemals so lange am Stück reden gehört zu haben. Diese Frau war voller Überraschungen. Letztes Jahr hatte er herausgefunden, dass sie in den Fünfzigern in einer Frauen-Tanzkapelle Saxofon gespielt hatte. Zur Reunion dieser Kapelle waren Förster, Fränge, Brocki, Dreffke und ein Teenager namens Finn mit ihr in Fränges Bulli in ein mondänes Hotel an der Ostsee gefahren, und über diese Reise hatte Förster einen Roman geschrieben, der im Frühjahr tatsächlich veröffentlicht werden würde. Welche Geschichten steckten noch im Kopf dieser Frau?

Eine Zeit lang schwiegen sie, und Förster dachte: Eine Drohne, das wär’s! Eine Drohne, die über die Häuser fliegt und es von oben einfängt, dieses Triptychon des Friedens.