Delikte am Menschen

Am Vereinsheim waren unter einem Vordach aus Wellplastik mehrere Bierzeltgarnituren aufgebaut. An einer saßen Martina und Monika, jede ein Radler vor sich. In ein paar Wochen ist die Radler-Zeit vorbei, dachte Förster, so wie die Kurze-Ärmel-Zeit und Leichte-Jacken-Zeit. Früher war ihm das Wetter egal gewesen, aber seit einigen Jahren bereitete es ihm fast körperliche Schmerzen, wenn der Sommer langsam endete und man abends nicht mehr draußen sitzen konnte, und er fing an, darüber nachzudenken, ob man sich nicht doch von Dezember bis März irgendwo aufhalten sollte, wo einem kein eisiger Wind in die Ohren schnitt, denn die Ohren, meinte Förster festgestellt zu haben, wurden mit dem Alter immer kälteempfindlicher, seine jedenfalls.

»Steht dir«, sagte Martina und meinte sein Poloshirt.

»Rudelkleidung ist Pflicht. Zugehörigkeit zeigen und so.«

»Er muss sich immer noch rechtfertigen«, sagte Monika. »Da fehlt ihm das Selbstbewusstsein.«

»Aber er sieht in dem Shirt sportlicher aus, als er ist.« Martina nahm einen Schluck aus der Flasche mit dem Bügelverschluss. »Obwohl es ihm eine Nummer zu groß ist.«

Förster fragte sich, was er an sich hatte, dass manche Menschen gerne über ihn in der dritten Person redeten, obwohl er danebenstand. Fränge und Brocki machten das auch gerne.

»Ihr solltet Fränge sehen in seiner Sporthose von 1982. Trainerfuchs in Hotpants, hat Brocki gesagt.«

»Steht irgendwo da drüben und redet mit Leuten, die er nicht kennt.«

»Sind bestimmt Eltern, deren Kinder bei ihm Unterricht haben«, vermutete Monika.

»Dann sehe ich den auch mal wieder, den alten Strategen«, sagte Martina.

»Nein, nein, Martina«, sagte Förster. »Der Spitzname alter Stratege ist für den Gerd reserviert, und das seit Jahrzehnten.«

Martina lachte. »Du hast recht. Es kann nur einen alten Strategen geben, und das ist der Gerd.«

»Klärt mich auf«, forderte Monika.

»Wie du weißt, haben Förster und ich früher zusammen Theater gemacht. Und Gerd war unser Techniker. Norbert, der Chef vom Theater Namenlos, hat ihn immer so genannt: Gerd, der alte Stratege.«

»War nicht weit weg von hier, das Theater«, sagte Förster. »Vielleicht zehn Minuten zu Fuß.«

»War eine schöne Zeit«, sagte Martina. »Oh Mann, ich höre mich an wie eine alte Frau!«

»Ich hole mir auch mal was zu trinken.« Förster ging hinüber zu dem offenen Fenster des Vereinsheims, an dem Pommes, Bratwurst, Bier, Kaffee und andere Getränke verkauft wurden.

Direkt vor ihm stand ein Mann in einem sehr alten grün- weißen Trikot, auf dem die Werbung eines lokalen Dachdeckerbetriebs schon fast bis zur Unkenntlichkeit verblasst war. Seine Jeans hing hinten praktisch gesäßlos herunter, an den Füßen trug er brandneu wirkende knallrote Laufschuhe, und seine schon länger nicht gewaschenen Haare, die fettig glänzten, hatte er zu einem Stummelzöpfchen gebunden. Der Mann drehte sich um, als Förster hinter ihn trat, und musterte ihn von oben bis unten.

»Stimmt.«

»Vonne C?«

»Co-Trainer.«

»Und?«

»Was und?«

»Habt ihr ne Schongs?«

»Keine Ahnung.«

»Ist nicht kompliziert. Das Runde muss ins Eckige, ganz einfach.«

»Die Gegner sind alle fast doppelt so groß.«

»Okay, dann gibt es heute auff’n Arsch! Friedhelm.«

»Nee, Förster.«

»Ich! Friedhelm.«

»Förster.«

»Beruf oder Name?«

»Name.«

»Vorname?«

»Vergessen.«

Förster fand langsam Gefallen an dieser Form der reduzierten Kommunikation.

»Sach ma, die eine da …« Friedhelm machte eine Kopfbewegung Richtung Martina. »Die kenne ich doch. Die habe ich doch schon mal gesehen.«

»Ist das erste Mal hier«, sagte Förster.

»Aber ich kenn die irgendwoher. Kann ich die kennen?«

»Glaube ich nicht. Die wohnt nicht hier.«

»Ich glaub, die kenn ich aus dem Fernsehen. Die sieht aus wie die vom Tatort.«

»Das sagen viele.«

»Deine Freundin?«

»Früher mal.«

»Hasse verkackt?«

»Vielen Dank. Nicht vor dem Spiel.«

Friedhelm schlug ihm auf die Schulter. »Das sagen die Neuen immer. Wenn du länger dabei bist, ändert sich das. Ich habe hier zwanzig Jahre gespielt. Das ändert sich, glaub mir.«

Friedhelm entfernte sich, und Förster war sicher, dass er keine Mühe haben würde, beide Flaschen allein auszutrinken.

»Einen Kaffee hätte ich gerne«, sagte er zu der Frau im Fenster.

Sie zapfte heißen Kaffee aus einer großen Pumpkanne in einen Pappbecher, stellte ihn auf das schmale Fensterbrett. »Ein Euro.«

»Nee, der ist Trainer!«, sagte eine Stimme hinter der Frau, und Förster erkannte Arjana, die, angetan mit einer weißen Schürze, vor einer Fritteuse stand, in der Pommes in sprudelndem Fett siedeten. Sie grüßte ihn, und er grüßte zurück.

»Dann fünfzig Cent«, sagte die andere Frau.

»Ist die Mutter vom Marvin«, sagte Arjana.

»Hallo, ich bin Förster, der Co-Trainer.«

»Ich bin Tanja, die Mutter von Marvin.«

»Ey, Leute!«, rief ein bärtiger, breitschultriger Mann hinter Förster. »Nehmt euch ein Zimmer, aber macht voran!«

Förster bezahlte und ging mit seinem Kaffee zurück zu Monika und Martina, die nicht mehr allein waren. Friedhelm hatte sich zu ihnen gesellt und hockte rittlings auf einem Holzstuhl am Kopfende des Biertisches. Förster setzte sich dazu.

Martina sah Förster an und schmunzelte. »Schön auch, dass du gegenüber Friedhelm gleich unseren Beziehungsstatus geklärt hast.«

Friedhelm beugte sich zu ihr und senkte die Stimme. »Ich weiß, du bist es. Du willst nicht erkannt werden, klar. Aber mal was anderes: Bei uns ist letztens wieder eingebrochen worden. Also hier im Vereinsheim. Und die haben eine Geldkassette mitgehen lassen. Die Bullen … Entschuldige, die Polizei kommt da nicht weiter. Hast du irgendwelche Tipps oder so?«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

Friedhelm nickte. »Klar, du bist nicht im Dienst. Tarnung und so.«

Martina seufzte. »Ich spiele die Kommissarin nur.«

»Ja, ja, aber du bereitest dich doch auf so eine Rolle vor. Da kriegst du doch was mit. Ich meine, mein Urologe, der weiß ja auch ein bisschen was wegen meiner Pumpe, oder wenn ich wieder meinen Ausschlag habe, dann frage ich den auch.«

Martina lächelte. »Friedhelm, du hast Glück. Zufällig habe ich die Frau dabei, die mich beim Tatort fachlich berät. KHK Hoffmann, Viertes K., Abteilung Delikte am Menschen.«

Monika verzog keine Miene.

Friedhelm riss die Augen auf. »Du bist Bulle?«

Monika blickte ihn streng an. »Heutzutage sagt man Bullin.«

»Delikte am Menschen? Mord und so?«

»Weißt du, was das Problem von Polizistinnen und Polizisten ist?«, sagte Monika. »Kaum haben die Leute

»Ist ja auch spannend«, sagte Friedhelm. »Aber Mord und so, ist das nicht tierisch belastend? Vor allem für eine Frau?«

»Wenn man nicht gerade selbst das Opfer ist, geht es.«

»Viele Verbrechensopfer leiden ja noch Jahre später an posttraumatischen Belastungsstörungen«, sagte Martina.

Monika nickte. »Ganz besonders Mordopfer.«

»Geil!« Friedhelm konnte seine Augen nicht von Monika lassen, er beachtete Martina gar nicht mehr. »Hast du ne Knarre?«

»Können wir das Thema wechseln?«, bat Monika.

»Natürlich hast du eine Knarre. Ich wette, du kannst super schießen.« Friedhelm wandte sich wieder Martina zu. »Hat sie dir das auch beigebracht?«

»Wir haben auch Schießtraining gemacht beim Dreh, klar! Natürlich nur mit unscharfer Munition.«

»Unscharf? So heißt das?«

Förster war sicher, dass Martina keine Ahnung hatte, wohl aber wusste, dass es die Glaubwürdigkeit einer Geschichte erhöhte, wenn man vermeintliche Fachausdrücke einflocht. Statt zu antworten, trank sie von ihrem Radler.

»Und Verhörtechniken?« Friedhelm sah wieder Monika an. »So ein Arschloch erst mal schmoren lassen, stundenlang nicht in das Zimmer gehen, aber ihn durch die Scheibe beobachten, die auf der anderen Seite ein Spiegel ist. Und dann mit dem Kollegen rein, und der ist dann der Bad Cop und du so verständnisvoll und so, bietest ihm ne Zigarette an oder Kaffee …«

»Umgekehrt«, sagte Monika. »Der Kollege kommt mit dem Kaffee, und die Kommissarin packt das Arschloch gleich mal an den Eiern. Metaphorisch gesprochen. Meistens.«

»Morgens oder abends?«

»Sag du es mir.«

Friedhelm dachte nach. Dann sagte er: »Boah, du bist echt gut. Ich muss nachdenken, und damit mache ich mich gleich verdächtig.«

»Vielleicht war das mit dem Vereinsheim ja ein Insiderjob«, sagte Monika.

Friedhelm zuckte zusammen. »Ey, das ist mein Verein, den würde ich nie … Boah, du bist auch gut, muss ich echt sagen!«

»Ich rate euch, Kameras anzuschaffen«, sagte Monika. »Die müssen gar nicht eingeschaltet sein. Oft sind das ja Junkies. Beschaffungskriminalität. Wenn die Kameras sehen, steigen die meistens gar nicht erst ein.«

Friedhelm strahlte. »Beschaffung, genau! Und macht ihr auch Nahkampfausbildung und so? Kannst du einen Mann mit ein, zwei Schlägen schachmatt setzen?«

»Das geht mir zu weit«, sagte Monika. »Wir sollten das jetzt beenden.«

»Delikte am Menschen, geil!« Friedhelm kriegte sich gar nicht mehr ein. »Finde ich alles andere als unscharf, ehrlich! Darauf brauche ich noch zwei Bier.« Tatsächlich hatte er während des kurzen Gesprächs beide Flaschen, die er vorhin gekauft hatte, geleert.

Er stand auf, auch Monika erhob sich. Sie war einen halben Kopf größer und streckte ihm die Hand hin. Als er sie ergriff, drehte sie ihm den Arm in einer blitzschnellen Bewegung auf den Rücken und drückte seinen Kopf auf die Tischplatte. Es gab einen Knall und einen Schrei, alle blickten zu ihnen herüber.

Monika rief: »Alles in Ordnung! Es gibt hier nichts zu sehen!«

»Super! Ich wusste, dass ihr auch Nahkampf macht! Aber echt, jetzt muss ich was trinken. Wollt ihr auch was, Ladys? Vielleicht mal was Richtiges und nicht nur sonne Mädchentraube?«

»Nein, danke«, sagte Martina.

Monika setzte sich wieder.

Friedhelm wandte sich zum Gehen, drehte sich aber noch mal um und sagte: »Denk dran, Förster!«

»Was denn?«

»Das Runde muss ins Eckige! Ist ganz einfach.« Er stellte sich wieder in die Schlange vor dem Verkaufsfenster.

»Delikte am Menschen?«, sagte Förster.

Martina zuckte die Schultern. »Habe ich mal in einer Serie gehört.«

Zu Monika sagte er: »Und der Selbstverteidigungskurs hat sich auch gelohnt, was?«

»Ich dachte, ich schmeiß mich weg vor Lachen.« Monika verzog keine Miene.

»Mensch, Martina, du hier?«

Plötzlich stand Brocki neben ihrem Tisch.

»Hallo, Brocki!« Martina stand auf, und die beiden umarmten sich.

»Toll«, schwärmte Brocki. »Alle wollen sehen, wie Fränge sich lächerlich macht. Ich bin begeistert.«

»Du hast ja schnell Anschluss gefunden!«, sagte Monika, als Brocki sie nicht minder herzlich begrüßte.

»Das sind Eltern, deren Kinder bei mir Unterricht haben. Ich treffe ständig welche.«

Förster hatte seinen Kaffee ausgetrunken und meinte, er müsse jetzt mal zur Mannschaft.