Förster brachte die Hütchen, welche die Coachingzone markiert hatten, in die Kreidebude zurück, da das Spiel der B-Jugend, das hätte folgen sollen, abgesagt worden war. Als er wieder herauskam, lief er Dreffke und Frau Strobel in die Arme.
»Der Anfang war ja spektakulär«, sagte Dreffke.
»Der Rest irgendwie auch«, entgegnete Förster.
»Schön«, sagte Frau Strobel. »Das war sehr schön. Die haben sich alle gefreut.«
»Na ja, nicht alle«, schränkte Förster ein.
»Und die waren so schön laut«, fügte Frau Strobel hinzu. »Es muss Stimmung sein in der Bude.«
Giampiero kam über den Platz getrottet. Gleich nach dem Schlusspfiff war er zu seinem Vater gelaufen, und Förster hätte schwören können, dass beide geweint hatten. Die anderen waren bereits in der Kabine.
»Hey, Giampiero, Kopf hoch!«, rief Förster.
»Geile Bude!«, ergänzte Dreffke.
»Aber ich konnte der Mannschaft nicht helfen«, sagte Giampiero.
»Früher warst du größer«, sagte Frau Strobel.
Giampiero sah sie verständnislos an.
»Früher warst du groß und stattlich. Aber die Jahre sind nicht spurlos an dir vorbeigegangen, Giampiero!«
Dreffke tätschelte Frau Strobel die Hand. »Das ist nicht dein Giampiero, Elisabeth!«
»Ach, was wissen Sie denn!«
»Dein Tor war wirklich toll, Giampiero!«, sagte Förster.
Der Junge blickte zu Boden. »Hat aber nichts gebracht.«
»Wir werden im Alter alle kleiner«, sagte Frau Strobel. »Und bald sind wir alle tot. Du hattest ein gutes Leben, Giampiero.«
Giampiero runzelte die Stirn und sagte, er müsse mal los.
Die meisten der Jungs waren schon weg, als Brocki mit zwei Flaschen Bier vom Vereinsheim herüberkam und eine Förster reichte, der auf seinem Arm die ersten Tropfen spürte und daraus schloss, dass es bald regnen würde, denn auch wenn der Himmel über der Innenstadt wieder ein geradezu schmerzhaftes Blau zeigte, hatte es sich über der A40 bereits tiefgrau, fast schwarz zugezogen.
»Mir war ja schon klar, dass der Dahlbusch den Mund zu voll genommen hat, aber wie das gelaufen ist, war schon sehr enttäuschend, oder?«
Sie stießen an, und Förster zog es vor zu trinken, statt zu reden. Die Schiedsrichterin kam aus dem Bürocontainer, wo sie den elektronischen Spielbericht fertiggestellt hatte. Als sie Brocki sah, stutzte sie. »Hallo, Herr Brock, Sie hätte ich hier nun gar nicht erwartet.«
»Hallo, Linda, das war eine reife Leistung. Soweit ich das beurteilen kann, ich habe ja keine Ahnung von Fußball.«
»Ich denke auch, dass es gut gelaufen ist.«
»Am Anfang war es etwas hektisch, aber dann haben sie gespurt.«
»Ich musste keine Karte zeigen, das ist ein gutes Zeichen.«
In der ersten Viertelstunde hatte sie ein paarmal laut werden müssen, ausschließlich gegenüber Jungs von der Spielvereinigung, aber die des Gegners hatten auch, nachdem sie sich von dem unerwarteten Ausgleich erholt hatten, kaum Gründe gehabt, sich über irgendetwas zu beschweren.
»Ich hoffe, du bist noch fit genug, dich auf die Klausur am Montag vorzubereiten.«
Linda versicherte, da müsse Brocki sich keine Sorgen machen, und ging Richtung Schirikabine.
»Um die muss ich mir wirklich keine Sorgen machen«, sagte Brocki. »Einser-Schülerin. Eloquent und durchsetzungsstark, gut organisiert. Ist mit drei älteren Brüdern aufgewachsen, von denen zwei studieren und der dritte nächstes Jahr Abi macht.«
»Nimm bitte mein Bier mit rüber zum Vereinsheim, ich gehe mal und schließe ihr die Kabine auf«, sagte Förster, der sich rechtzeitig den Schlüssel besorgt hatte, und folgte Brockis Einser-Schülerin. Als er sie beinahe eingeholt hatte, kam Grischa aus der Heimkabine, die Tasche mit den verschwitzten Trikots hinter sich herziehend. Als er die schöne Schiedsrichterin erblickte, blieb er stehen, als wäre er vor eine Wand gelaufen. Einfach weiterzugehen schien für seine Füße keine Option zu sein. Förster schloss die Tür zur Schiri-Kabine auf und sah aus den Augenwinkeln, dass Linda Grischa anlächelte. Förster hatte den Eindruck, dass es die Art Lächeln war, die man als Erwachsener für Säuglinge aufsetzte. Bei Grischa bewirkte dieses Lächeln allerdings, dass seine Hand nicht mehr in der Lage war, die Trikottasche festzuhalten, die mit einem unangenehmen Geräusch auf den Boden knallte. Linda zuckte zusammen, sah erst zu Grischa hinüber, ein Mahnmal jugendlicher Schwärmerei, und dann zu Förster, als hätte sie ein schlechtes Gewissen und wollte sich für etwas entschuldigen, für das sie nichts konnte, und rot, dachte Förster, wird sie auch noch. Sie verschwand in der Kabine und zog die Tür hinter sich zu. Förster bückte sich und drückte Grischa den Griff der Trikottasche in die Hand.
Mirkan und Adnan waren die Letzten, die aus der Kabine kamen, und Förster stand schon mit dem Schlüssel parat.
»Förster?«
»Ja, Mirkan?«
»Wissen Sie, ob hier irgendwo ein dm ist oder Rossmann oder so?«
»Du musst mich nicht siezen.«
»Ja, aber weißt du?«
»Ich glaube, der nächste ist in der Innenstadt. Wieso denn?«
»Die Mutter von Mostafa braucht noch Rasierschaum.«
Adnan hob die Hand, Mirkan klatschte ab und beide riefen: »Bollwerk!«
Gewagter Ausruf nach diesem Spiel, dachte Förster und sah den beiden nach, wie sie gut gelaunt das Gelände verließen.
Der Regen prasselte auf das Dach aus Wellplastik, doch über der A40 war die Sonne zu sehen, und deshalb spannte sich ein perfekter Regenbogen über den Platz der Spielvereinigung. Sie hatten die Tische beiseitegeschoben und die Bänke an die Wand des Vereinsheims gestellt, damit sie alle unter das Dach passten, was dazu führte, dass sie dasaßen wie in einem Film, alle in einer Reihe, das ergäbe eine schöne Kamerafahrt, dachte Förster: Fränge, Monika, Martina, Sabine, Brocki, Dreffke und Frau Strobel.
Für ihn war kein Platz mehr auf der Bank, also nahm er sich einen Stuhl und setzte sich vor die anderen hin und fühlte sich, als würde er jetzt eine Unterrichtsstunde leiten, wusste aber nicht, was er sagen sollte, also hörte er einfach zu.
FRAU STROBEL: Das war schön.
DREFFKE: Wie man’s nimmt.
FRAU STROBEL: Es sah schön aus, als der Ball ins Netz geflogen ist.
BROCKI: Es war deftig.
FRÄNGE: War klar, dass dir das gefällt.
MONIKA: Die waren aber auch wirklich sehr groß.
SABINE: Früher waren die nicht so groß.
BROCKI: Für die Jungs tut es mir leid, aber dass du mal auf den Boden der Tatsachen geholt wirst, kann nicht verkehrt sein, Fränge.
MARTINA: Ich fand es trotzdem toll. Auch jetzt hier zu sitzen, ich meine, der Regen und die völlig unterschiedlichen Leute, die frische Luft, das hat schon was, oder?
FRÄNGE: Was soll das denn heißen, der Boden der Tatsachen? Wo ist der denn, der Boden? Und was sind die Tatsachen?
SABINE: Die werden immer größer. Ich weiß nicht, wo das noch hinführen soll. Wir machen demnächst eine Basketballabteilung auf.
BROCKI: Das eine Tor von euch und die zwölf von den anderen. DAS ist der Boden der Tatsachen, Mister Supertrainer.
MONIKA: Aber unsere Spieler beweisen doch eigentlich das Gegenteil. Die meisten sind ziemlich klein für ihr Alter.
SABINE: Ich weiß auch nicht, warum wir immer die kriegen, wo man denkt, dass die Mutter in der Schwangerschaft geraucht hat.
FRÄNGE: Wieso Supertrainer? Ich habe nie behauptet, dass ich ein Supertrainer bin.
BROCKI: Nee, da sollten wir alle selber drauf kommen.
FRÄNGE: Eine der Tatsachen ist, dass meine Jungs bis zur letzten Minute versucht haben, die zwote Bude zu machen. So muss man das sehen!
MONIKA: Ich dachte, der kleine Italiener fängt gleich an zu heulen.
FÖRSTER: Giampiero ist Sizilianer.
BROCKI: Soweit ich weiß, gehört Sizilien noch zu Italien.
FÖRSTER: Aber er legt Wert darauf, dass er die sizilianische Rakete ist.
FRAU STROBEL: Früher sah der älter aus.
DREFFKE: Das war ein anderer, Elisabeth.
FRAU STROBEL: Ach, was wissen Sie denn!
SABINE: Früher waren die in der C nicht so groß. Ich frage mich, wie groß sind die in zwanzig Jahren in dem Alter?
MARTINA: Das ist praktisch Theater. Großes Theater.
FRÄNGE: Bitte nicht, Martina! Intellektualisier das nicht! Es gibt hier keinen doppelten Boden. Es geht darum, mindestens ein Tor mehr zu schießen als der Gegner. Fertig, aus.
SABINE: Die Eintracht hat heute auch so hoch verloren.
BROCKI: Was stänkerst du die Martina an? Von Theater hast du noch weniger Ahnung als von Fußball!
SABINE: Gegen die Eintracht könnt ihr gewinnen. Die sind auch Jungjahrgang.
MARTINA: Brocki?
BROCKI: Ja, Martina?
MARTINA: Wenn wir uns das nächste Mal sehen …
BROCKI: Ja?
MARTINA: Könntest du dann geschlossene Schuhe anziehen?
FRÄNGE: Ha!
MARTINA: Diese Trekking-Sandalen, Brocki – kannst du nicht machen.
BROCKI: Da muss Luft dran, an die Füße.
FRÄNGE: Aber es sieht scheiße aus!
DREFFKE: Stimmt das, dass sich die Mutter von einem eurer Spieler regelmäßig rasieren muss?
BROCKI: Ich wusste ja nicht, dass du kommst, Martina.
MARTINA: Nächstes Mal sage ich vorher Bescheid.
DREFFKE: Der mit der Acht, wie heißt der?
FRÄNGE: Justin.
DREFFKE: Der ist gut.
Eins zu zwölf, dachte Förster. Es kann nur besser werden. Heißt: Von jetzt an geht es bergauf.