Früh dran

Es schneite schon seit Stunden. Fränge griff nach dem Antibeschlagtuch und wischte zum x-ten Male die Windschutzscheibe.

»Du solltest mal die Lüftung reparieren lassen«, sagte Brocki. »Dieses ewige Wischen während der Fahrt ist der Verkehrssicherheit nicht eben zuträglich.«

»So wird einem aber auch nicht langweilig. Immer was zu tun«, entgegnete Fränge und lenkte den Wagen auf den Parkplatz der Gesamtschule.

»Ist schon ziemlich voll hier«, sagte Förster.

»Ich wollte ja eine halbe Stunde früher losfahren«, sagte Brocki, »aber der Herr Cheftrainer brauchte seinen Schönheitsschlaf!«

Förster dachte an die ersten Wochen der Saison zurück, als er mit Fränge allein unterwegs gewesen war, bis Brocki angeboten hatte, seine pädagogischen Fähigkeiten in den Dienst der Mannschaft zu stellen. Förster hatte sich, als Fränge seinen Führerschein zurückhatte, nicht lösen können, er steckte zu tief drin und musste zugeben, dass ihm die ganze Sache mittlerweile richtig Spaß machte. Also waren sie jetzt zu dritt, und es funktionierte überraschend gut.

Sie stiegen aus, Fränge holte die Tasche mit den Trikots aus dem Kofferraum, Brocki nahm das Netz mit den Bällen. Sie hatten nur drei Stück eingepackt, weil es laut Sabine

Förster hatte die Herrschaft über Notizblock und Taktikmappe. Fränge hatte sich tatsächlich eine Mappe zugelegt, in der man auf einem stilisierten Spielfeld kleine Magnete herumschieben konnte. Heute würde es zwar nicht groß um Taktik gehen, denn pro Mannschaft waren gerade mal vier Feldspieler und ein Torwart zugelassen, doch Fränge war der Meinung, dass es immer gut war, wenn der Trainerstab den Eindruck erweckte, er habe sich akribisch auf die kommenden Herausforderungen vorbereitet. Förster musste zugeben, dass Fränge das Training, die Spiele und alles, was mit der Mannschaft zu tun hatte, mittlerweile sehr routiniert und reibungslos managte. Er lud sich Trainingsübungen aus dem Internet herunter und modifizierte sie, wenn sie zu schwer waren. Kam die Mannschaft zum Training, war alles aufgebaut, und Fränge hatte eine genaue Vorstellung davon, was er in den folgenden neunzig Minuten machen wollte. Das hatte ihm mehr Respekt eingebracht, sogar Alex schien die Bemühungen seines Vaters zu honorieren, war nicht mehr so pampig und abweisend zu ihm wie noch im Sommer.

Die Gesamtschule verfügte über zwei Turnhallen, die durch einen schmalen Mittelbau miteinander verbunden waren. Hier waren ein paar Tische und Stühle aufgebaut sowie ein provisorischer Tresen mit gelben Papierdecken, an dem drei Frauen Kaffee, Kuchen, Bockwurst und Softdrinks anboten. Im Eingangsbereich saß ein älterer Mann und verkaufte Wertmarken. In der linken Halle wurde das Turnier der D-Jugend-Mannschaften ausgetragen, in der rechten der C-Jugend-Wettbewerb.

»Hey, Trainerleute!«, rief Mirkan und grinste. »Bisschen spät dran! Ich würde sagen, zwei Runden um den Platz!«

»Ihr seid früh dran«, sagte Fränge.

»Neun Uhr ist Treffpunkt, zehn Uhr erstes Spiel«, sagte Giampiero.

»Es ist acht Uhr fünfundfünfzig«, sagte Fränge mit einem Blick auf sein Handy.

»Nur Spaß!«, sagte Mirkan.

»Wo ist Justin?«, fragte Brocki.

Und jetzt fiel es auch Förster auf: Statt neun Spielern, die sie für das Turnier nominiert hatten, saßen nur acht am Tisch: Valentin, Grischa, Niklas, Alex, Adnan, Mostafa und eben Mirkan und Giampiero.

»Der Justin kommt nicht«, sagte Alex.

»Wieso kommt der nicht?«, fragte Fränge.

»Sein Vater will nicht, dass er hier heute spielt. Er sagt, die Verletzungsgefahr in der Halle ist zu groß.«

»Muss der morgen nach Barcelona zum Medizincheck oder was?«

»Der Vater hat gesagt, der hat Probetraining morgen beim VfL«, sagte Adnan.

»Das ist Quatsch«, sagte Fränge.

»Wieso soll das Quatsch sein?«, wollte Brocki wissen.

»Das ist Quatsch, weil die nicht mitten im Januar Probetraining machen. Die haben ihre Spieler für die nächste Saison schon im September vorspielen lassen. Das machen die noch mal im März, und zwischendurch haben sie Scouts auf den Plätzen im ganzen Kreis.«

Mirkan riss die Augen auf. »Bei uns auch?«

Fränge hatte Förster davon erzählt und auch nicht vergessen zu erwähnen, dass diese Scouts stets für Spieler anderer Mannschaften gekommen waren. Er hatte auf einen älteren Mann mit grauem Bart gezeigt und gesagt: »Das ist einer von den Vögeln. Die verdienen sich ein bisschen was dazu und machen die Nachwuchsabteilungen der größeren Vereine auf Spieler aufmerksam. Dann kommt vielleicht einer von den Trainern und schreibt ein Gutachten. Das ist voll durchorganisiert.«

»Sind heute auch Scouts da?«, fragte Giampiero.

Fränge verneinte. »Zu den Hallenturnieren gehen die nicht. Tatsache ist, dass wir hier und heute durchaus was holen können. Das ist ein Turnier, da geht alles. Wer glaubt, dass wir mit Justin besser sind als ohne ihn?«

Alle Arme gingen hoch. Mirkan hob sogar beide.

»Klare Ansage.« Fränge nahm Förster beiseite. »Du fährst jetzt zum Justin nach Hause und holst ihn ab. Wir brauchen den!«

»Wieso ich? Wieso macht das nicht Brocki, unser Pädagoge?«

»Weil es nicht darum geht, den Jungen zu überzeugen, sondern den Vater.«

»Ja und?«

Fränge seufzte. »Ich muss bei der Mannschaft bleiben, und Brocki hasst Eltern noch mehr als Schülerinnen und Schüler.«

»Das habe ich gehört«, sagte Brocki und trat näher. »Ich hasse meine Schülerinnen und Schüler nicht.«

»Und die Eltern?«

»Die hasse ich, das stimmt.«

»Na also.«

»Heißt, dass Brocki der am wenigsten geeignete Kandidat ist, um mit Justins Vater zu sprechen.« Fränge drückte Förster die Autoschlüssel in die Hand. »Wär gut, wenn du noch tanken könntest.«

»Dann gib mir Geld!«

»Ich habe keins dabei. Kriegst du wieder.«

»Kriegst du zurück, muss es eigentlich heißen«, sagte Förster und machte sich auf den Weg nach draußen.