Ich war ganz nah dran

Mit nur einer Person im Fahrgastraum kam die kaputte Lüftung viel besser zurecht, sodass Förster nicht die ganze Zeit mit dem Antibeschlagtuch hantieren musste. Er stellte fest, dass es eigentlich ganz schön war, an einem Sonntagmorgen durch die fast komplett leere Stadt zu fahren, die eingeschneit war wie die russische Taiga. Er fuhr die Unistraße stadteinwärts, überholt nur von einer Straßenbahn, die ein paar Kilometer weiter zur U-Bahn werden und bis nach Herne fahren würde, es hing ja alles zusammen in dieser Gegend und in diesem Leben sowieso, deshalb konnten die Gedanken auch hin und her springen, was einem die Zeit vertrieb, aber letztlich nirgendwo hinbrachte, außer von einer Turnhalle in die russische Taiga und von dort nach Herne und zurück in einen alten Volvo.

Er erwischte eine grüne Welle und kam erst am Hauptbahnhof an einer roten Ampel zum Stehen. Er dachte an das Nachholspiel, das sie am Mittwoch absolvieren mussten, und er dachte wir, weil er sich längst zugehörig fühlte, da hatte sein Vater gestern recht gehabt, und das ist doch erstaunlich, dachte Förster, es scheint etwas dran zu sein an der verbindenden Kraft des Breitensports.

Er tankte an der ARAL an der Alleestraße und ließ sich beim Bezahlen die Quittung geben, um korrekt mit Fränge abrechnen zu können. Er fuhr an der FKK vorbei, dachte kurz an die Uli, musste sich dann aber voll aufs Fahren

Justin und sein Vater wohnten in einem alten Stahlarbeiterreihenhaus. Der Schnee auf dem Bürgersteig knirschte unter Försters Schuhen. Er klingelte, es dauerte ein wenig, bis der Türsummer ertönte. Im Treppenhaus sah Förster nach oben und erblickte Justins feuerroten Schopf.

»Was willst du denn hier?«

Förster hatte sich nicht zurechtgelegt, was er sagen wollte, also musste er improvisieren. »Ich dachte, du hast vielleicht verschlafen.«

Nicht besonders originell, dachte er.

Justin sagte nichts. Förster ging nach oben.

»Kann ich mal mit deinem Vater sprechen?«

Justin zuckte mit den Schultern und ging in die Wohnung.

Als Erstes fiel Förster auf, wie niedrig die Wohnung war. Wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, könnte er die Decke berühren. Im Korridor lag dunkler Teppichboden, der an den Rändern nicht gut verklebt war und sich ein wenig nach oben bog. Justin trug eine Trainingshose, ein Nike-Shirt und dicke Stricksocken. Er war vor einer Tür stehen geblieben und sagte: »Der Förster ist da.«

Mutter, der Mann mit dem Koks ist da, dachte Förster, ein Berliner Küchenlied, das Falco irgendwann sehr modern interpretiert hatte, wobei er nach eigener Aussage nicht an das schwarze Zeug zum Heizen gedacht hatte.

Justins Vater trat in den Flur. Er sah müde aus, war

»Was ist los?«

»Ich dachte, der Justin hat vielleicht verschlafen, und da wollte ich ihn fürs Hallenturnier abholen.« Jetzt kann ich das auch durchziehen, dachte Förster.

»Der hat nicht verschlafen.«

»Okay, dann vergessen, egal, ich bin jedenfalls da und wir können gleich los.«

Der Vater schüttelte den Kopf. »Der kommt nicht mit, der Justin.«

»Ist er verletzt?«

Jetzt machte es Förster sogar ein bisschen Spaß, sich dumm zu stellen.

»Der bleibt hier, damit er sich nicht verletzt. Hallenfußball ist scheiße. Der Justin hat nächste Woche ein Probetraining.«

»Das glaube ich nicht.« Förster erntete erst einen überraschten Blick von Justin und dann von dessen Vater, der ein paar Sekunden länger brauchte, um den Satz zu verarbeiten. Es bringt ja nichts, hier einen auf Weichei zu machen, dachte Förster, der Junge will spielen und darf nicht, das geht nicht.

»Wieso nicht?«, fragte der Vater.

»Die Profivereine haben im September ihre Probetrainings und dann wieder im März.«

»Mag sein, aber er hat ein Probetraining bei 46, die spielen Leistungsklasse, das ist ein Sprungbrett, die werden regelmäßig von den großen Vereinen beobachtet.«

»Das werden wir auch«, sagte Förster. »Hast du mal diesen älteren Typen mit Bart gesehen, der manchmal auf unserer Anlage herumläuft? Der scoutet für den VfL.«

»Aber der kommt nicht für die Spielvereinigung, der guckt sich höchstens die Gegner an. Und in so einer

»Wenn jemand so talentiert ist wie Justin«, setzte Förster zu einem Strategiewechsel an, »hat er nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, dieses Talent zu entwickeln. Das verstehe ich. Aber was bringt es, wenn er den Spaß verliert? Man wird nicht gut in einer Sache, wenn man sie nicht gerne tut. Und was wir ihm bieten, sind Einsatzzeiten. Wegen des Wetters ist draußen kaum was möglich, vielleicht nicht mal so ein Probetraining, wenn die Stadt die Plätze sperrt, und dann fehlt dem Justin Wettkampfpraxis, die ist doch durch nichts zu ersetzen, oder? Sehe ich das richtig?«

Förster käute einfach wieder, was Fränge in einem seiner nächtlichen Monologe im Café Dahlbusch von sich gegeben hatte, als er, befeuert von mehreren Bieren, Förster und Brocki die Welt im Allgemeinen und den Fußball im Besonderen erklärt hatte.

»In der Halle kann so viel passieren«, sagte der Vater, klang jedoch schon etwas defensiver.

»Aber die Schiris pfeifen viel strenger. Ich habe da vorhin das erste Spiel gesehen, da ging nichts durch, aber auch gar nichts.« Okay, dachte Förster, das ist jetzt mal glatt gelogen.

»Papa, bitte«, sagte Justin. »Ich passe auch auf.«

Der Vater seufzte und schloss kurz die Augen, was für Justin das Signal war, in sein Zimmer zu stürzen. Während er offenbar seine Sachen packte, stand der Vater einfach nur da und sah Förster an, bis der weggucken musste.

Mit seiner Sporttasche kam Justin zurück und zog sich die Schuhe an.

»Auf geht’s«, sagte Förster.

»Danke«, sagte Justin, und Förster fragte sich, wen er meinte.

»Ich war ganz nah dran«, sagte er. »Ich war gut genug, und sie hatten mich alle auf dem Zettel.«

Förster blickte in gerötete Augen, in denen mehr Flüssigkeit zu sein schien als nötig.

»Und dann die Scheiße mit dem Fuß. Da war alles vorbei. Das wird dem Justin nicht passieren. Dafür werde ich sorgen.«

Förster machte sich los, ging die Treppe hinunter und sah Justin draußen grinsend im Schneegestöber stehen. Er sagte: »Ich wusste gar nicht, dass du so viel am Stück reden kannst, Förster!«