Gromos

Die Jacke war wirklich sehr warm, das musste Förster zugeben, und auch, dass es schon ziemlich schick aussah, wie er und Fränge und Brocki in Einheitskluft das Aufwärmen beaufsichtigten, während der Trainer der TSG allein war und in einer Jacke ohne Vereinsemblem herumlief, dabei war das hier gar kein kleiner Verein, die Erste, wusste Förster, spielte immerhin Landesliga und damit zwei Klassen über den Senioren der Spielvereinigung. Die Jacke war auch nötig, denn es war nur knapp über null Grad und nicht unbedingt das, was TV-Kommentatoren gern als ideale äußere Bedingungen bezeichneten. Förster spürte die Kälte vor allem an den Ohren. Von den sechs Flutlichtmasten, die denen der Spielvereinigung sehr ähnlich sahen, waren nur drei in Betrieb. Dadurch lagen große Teile des Spielfeldes praktisch im Dunkeln, und Förster fragte sich, ob diese Bedingungen überhaupt regelkonform waren.

Er ging zu dem gegnerischen Trainer hinüber, einem hochgewachsenen Mann mit blonden Locken, der, wie sie alle, eine konstante Wolke vor sich her atmete.

»Hallo, ich bin Förster, der Co-Trainer von der Spielvereinigung.«

»Ich bin der Dietmar.«

»Sach ma«, begann Förster, denn wenn er sich im Fußballkontext bewegte, nahm seine Aussprache eine Dialektfärbung an, die er sonst von sich nicht kannte, »kann man

»Ist doch egal.«

Förster war verblüfft. »Ja?«

»Ich verschiebe den Scheiß nicht noch mal. Wir ziehen das durch. Guck dir den Platz an, das wird sowieso ein verdammtes Glücksspiel. Lass uns pünktlich anfangen, ich will nach Hause, bevor mir vor Kälte der Arsch abfällt.«

»Muss das nicht der oder die Schiri entscheiden?«

»Den Schiri kenne ich, und der sagt, wir spielen.«

Dietmar wandte sich ab und gab seinen Spielern irgendwelche Anweisungen. Förster ging zurück zu Fränge und berichtete von dem Gespräch, und dann kam Brocki dazu und meinte, der Platz sei praktisch gefroren, gefrorene Asche sei das, lebensgefährlich, voller Unebenheiten, die einem die Oberschenkel aufschlitzen könnten. »Ich gehe mal davon aus, dass das Spiel gar nicht angepfiffen wird.«

Förster schüttelte den Kopf. »Die ziehen das durch.«

»Das muss doch der Schiri entscheiden!«

»Der Dietmar kennt den Schiri, und der hat gesagt, es wird gespielt.«

»Dietmar? Welcher Dietmar?«

»Der Trainer der anderen Mannschaft.«

»Du scheinst ja richtig dicke mit dem zu sein, also mit dem Dietmar.«

»Was bist du denn so gereizt?«

Brocki seufzte. »Das wird kein schönes Spiel.«

»Stellt euch mal nicht so an«, sagte Fränge, der sich lange zurückgehalten hatte. »Ich habe auch keine Lust, das Spiel noch mal zu verschieben. Auf dem Geläuf haben unsere Gromos vielleicht sogar einen Vorteil.«

»Gromos? Was soll das denn wieder heißen?«, fragte Brocki.

»Gromos, das ist doch kein Wort für unsere Jungs, das klingt ja wie Mongos, und das darf man auch nicht mehr sagen.«

»Durfte man noch nie«, sagte Förster.

Die Laufeinheit zum Aufwärmen war vorbei, und Fränge teilte die Feldspieler in zwei Gruppen. Die eine spielte Schweinchen, fünf gegen zwei. Die zwei in der Mitte sollten versuchen, an den Ball zu kommen, während die anderen ihn mit nur einem Kontakt einander zupassen mussten. Die andere Gruppe machte das Gleiche, nur eben vier gegen zwei. Fränge kümmerte sich um Valentin und schoss ihm Bälle aufs Tor, als Dropkick, ein Wort, dessen Klang Förster sehr mochte.

Der Ball sprang aus der Gruppe, die Förster beaufsichtigte, heraus, er stoppte ihn, was auch ganz gut funktionierte. Als er hochsah, stand Armani vor ihm und sah ihn traurig an.

»Alles klar, Armani?«

»Die Erde.« Förster dachte zuerst, der Junge spreche über den Planeten, auf dem sie alle lebten, dieses durch den Klimawandel bedrohte blaue Juwel im unendlichen Weltraum, aber dann wurde ihm klar, dass der Junge den unebenen gefrorenen Boden zu seinen Füßen meinte. Das mit dem Planeten war neuerdings eher Pauls Thema, der angefangen hatte, sich politisch zu engagieren, in der SV und in der Schülerzeitung seiner Schule mitarbeitete und ab und zu politische Statements von sich gab, die Förster an das erinnerten, was Fränge früher stets umgetrieben hatte, und ähnlich wie Fränge damals, hatte Paul Probleme mit Mathe, aber das war ja jetzt gar nicht das Thema.

»Was ist mit der Erde?«

»Die ist so hart, und da sind so … kleine Hügel. Wie Pickel

Förster wusste nicht, was er antworten sollte. Ein Appell an Maskulinität, Leidensfähigkeit und Opferbereitschaft schien ihm fehl am Platze, das war ja alles Unsinn, und auf diesem Untergrund Fußball (oder irgendetwas anderes) spielen zu müssen, war wirklich eine Zumutung, aber er wollte eben auch nicht herumjammern und beklagen, was nicht zu ändern war.

»Lass uns das Beste draus machen. Oder willst du Fränge bitten, dich komplett rauszulassen?«

»Nein!«, sagte Armani sofort. »Ich dachte nur, er kann vielleicht was machen.«

Irgendwie rührte der Junge Förster. Er wollte so gerne dazugehören, Teil des Teams sein, und in den letzten Spielen vor der Winterpause hatte er auch Fortschritte gemacht, die eine oder andere Flanke verhindert, ein paarmal den Ball tatsächlich zum Mitspieler gebracht, und sollte ihm aufgefallen sein, dass Fränge ihn immer erst einsetzte, wenn die Spiele schon entschieden waren, dann ließ er es sich nicht anmerken. Vielleicht, dachte Förster, war es dem Jungen aber auch ganz recht, denn er konnte immer sicher sein, dass es nicht an ihm gelegen hatte, wenn die Mannschaft das Feld mal wieder wie ein Haufen geprügelter Hunde verließ.

»Lass deine lange Trainingshose an, dann ist die Verletzungsgefahr nicht so groß.«

Ein Hauch von Entsetzen zog über Armanis Gesicht. »Aber dann geht die Hose vielleicht kaputt.«

»Einen Tod muss man sterben«, sagte Förster und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, denn jetzt von Tod und Sterben zu reden, war nun wirklich nicht dazu angetan, die Stimmung zu heben. »Ich meine, irgendwas ist immer.

Armani nahm den Ball und trottete zurück in die Übung.

Fränge ließ sie noch ein paar Passübungen machen, damit sie sich mit den widrigen Bodenverhältnissen vertraut machen konnten, aber es war deutlich zu sehen, dass das nichts brachte.

»Ist Glücksspiel unter freiem Himmel nicht verboten?«, fragte Brocki, nachdem Fränge sich als Anspielstation für das abschließende Torschusstraining an der Strafraumgrenze aufgestellt hatte. Wann immer er versuchte, ordentlich abzulegen, kam wieder eine Unebenheit dazwischen und die Jungs erwischten den Ball mit dem Knöchel oder dem Schienbein.

Der Schiedsrichter war ein Mann Mitte vierzig mit einem harten, das schwarze Trikot prall ausfüllenden Bauch, und er trug zwar ein Shirt mit langen Ärmeln unter dem Trikot, an den Beinen aber nur kurze Hosen.

»Passkontrolle schenken wir uns«, sagte er. »Hier sieht keiner zu alt aus. Es ist kalt. Lasst uns loslegen.«

Die Mannschaften bauten sich auf, alle stießen weiße Wölkchen aus, die meisten rieben sich die Hände, obwohl sie Handschuhe trugen, einige sprangen auf und ab, und noch bevor der Schiedsrichter anpfeifen konnte, schrie ein Spieler der TSG auf und hob die Hand.

»Was los?«, rief Dietmar.

»Ich bin umgeknickt«, antwortete der Junge, hob den linken Fuß in die Höhe und dachte augenscheinlich darüber nach, sich auf den Boden fallen zu lassen, wie man das bei Verletzungen gemeinhin tat, aber das war hier und heute keine gute Idee.

Der Junge wurde ausgewechselt, und es ging los.