Förster hatte keine Lust gehabt, mit in die Kabine zu gehen, und deshalb stand er jetzt davor, blickte abwechselnd zum schwarzen Himmel hinauf und über den gut ausgeleuchteten Platz, wo die Erste trainierte, und fragte sich, wieso ihm kein Song über den Donnerstag einfiel, von einer kompletten Playlist ganz zu schweigen. Zum Montag kamen ihm gleich mehrere in den Sinn, beim Dienstag dachte er natürlich zuerst an Ruby Tuesday von den Stones, beim Mittwoch an Wednesday Morning 3 a.m. von Simon & Garfunkel, auch der Freitag war als Ende der Arbeitswoche in der Musikwelt gut vertreten, man denke nur, dachte Förster, an das fröhliche Friday I’m in Love von den der Fröhlichkeit eher unverdächtigen The Cure, oder Friday on my mind, wahlweise im Sechziger-Original von den Easybeats oder in der Version von Gary Moore von 1987, ein Song, in dem auch die Tage Montag bis Donnerstag vorkamen, nicht aber der Samstag und der Sonntag, doch das war auch nicht nötig, denn vor allem Lieder über die angeblich so magische Samstagnacht gab es reichlich, und Sunday Morning coming down von Kris Kristofferson hatte Förster bei einem Auftritt an seiner Schule in den Achtzigern sogar selbst mal gesungen. Wo aber waren die Songs über den Donnerstag? Da muss es doch welche geben, dachte Förster, das sollte man mal recherchieren.
Er hatte nicht mit in die Kabine gehen wollen, weil das Training eine Katastrophe gewesen und er zum ersten Mal richtig sauer auf die Jungs war. Zuerst waren sie richtig gut drauf gewesen, wegen des Sieges am Abend zuvor, mit dem Höhepunkt des Tores durch Armani, aber irgendwann war die Stimmung umgeschlagen. Sie waren so überdreht, dass sie schon in der Kabine anfingen, mit einem Ball herumzuspielen, wobei eine der Leuchtstoffröhren zu Bruch ging. Fränge versuchte, ruhig zu bleiben, aber es war absehbar, dass das schwierig werden würde.
Auf dem Platz setzte sich das fort, ausgehend von Mostafa und Alim, die Justin und Nikas ansteckten, während den stillen, zurückhaltenden Typen wie Valentin, Grischa oder Marvin anzusehen war, wie unwohl sie sich fühlten.
Den Tiefpunkt erreichten sie, als Mostafa sich plötzlich beschwerte, Marvin habe ihn beleidigt.
MOSTAFA: Der hat mich beleidigt!
MARVIN: Gar nicht!
FRÄNGE: Was ist da los?
MOSTAFA: Der hat Scheiß-Ausländer gesagt!
FRÄNGE: Stimmt das?
MARVIN: Nein!
FRÄNGE: Ausländerfeindliche Sprüche gehen gar nicht. Nicht bei mir!
MARVIN: Was ist mit inländerfeindlichen Sprüchen?
FRÄNGE: Was meinst du damit?
MARVIN: Ich sage hier nichts mehr.
MOSTAFA: Scheiß-Nazi!
FRÄNGE: Mostafa, halt die Klappe!
MOSTAFA: Der hat Scheiß-Ausländer gesagt!
FRÄNGE: Er bestreitet das.
MOSTAFA: Hat er trotzdem gesagt.
MARVIN: Er hat Scheiß-Nazi gesagt.
FRÄNGE: Das habe ich gehört, und das ist nicht in Ordnung, Mostafa. Es ist vor allem eine Verharmlosung des Nationalsozialismus.
MOSTAFA: Echt jetzt?
FRÄNGE: Der Marvin ist kein Nazi.
MOSTAFA: Aber er hat Scheiß-Ausländer gesagt.
MARVIN: Habe ich nicht. Er hat Kartoffel gesagt.
FRÄNGE: Kartoffel ist doch nicht so schlimm.
MARVIN: Scheiß-Kartoffel hat er gesagt.
MOSTAFA: Ey, was redest du?
Förster sah, dass Marvin kurz davor war, in Tränen auszubrechen.
MARVIN: Und er hat gesagt: Ich mach dich kalt!
MOSTAFA: Bist du noch gesund oder was?
MARVIN: Er hat gesagt: Ich stech dich ab, du Scheiß-Kartoffel!
FRÄNGE: Na komm, Marvin, da geht jetzt wohl die Fantasie mit dir durch.
MARVIN: Er hat gesagt, er weiß, wo ich wohne und dass er mir auflauert und mich absticht.
Oha, dachte Förster, das ist jetzt vermintes Gelände, Türken, Kartoffeln, der messerstechende Südländer, das unschuldige Akademikerkind. Wie kommt Fränge da wieder raus? Brocki warf ihm einen Blick zu, der Förster vermuten ließ, dass er etwas Ähnliches dachte.
»Herrgott noch mal!«, schrie Fränge. »Ihr geht mir heute alle, aber wirklich alle total auf den Sack! Jetzt ist hier mal endgültig Ruhe im Schiff! Der Nächste, der auch nur ›Scheiße‹ sagt, der geht nach Hause, ist das klar?«
Mirkan fragte: »Gehst du jetzt nach Hause, Trainer?«
»Was? Wieso?«
»Du hast ›Scheiße‹ gesagt.«
»Treib es nicht zu weit, Mirkan, ich warne dich! Zwei Runden um den Platz zum Runterkommen, dann Spiel, und ich will keinen Ton hören!«
Die zwei Runden hatten die Jungs einigermaßen friedlich hinter sich gebracht, doch im anschließenden Trainingsspiel waren die Wellen wieder hochgeschlagen. Fränge hatte aber niemanden nach Hause geschickt, sondern einfach nur dagestanden und den Kopf geschüttelt. Brocki hatte ein paarmal versucht, ordnend einzugreifen, letztlich aber auch nichts erreicht, die Stimmung war angespannt geblieben, und sie hatten sich immer wieder irgendwelche Sachen an den Kopf geworfen, und als Niklas Justin anschrie, er solle mal nicht so tun, als wäre er schon ein verdammter Scheiß-Profi, da war für Fränge das Fass übergelaufen, und er hatte das Training abgebrochen. Brocki war mit in die Kabine gegangen, Förster draußen stehen geblieben.
Drinnen hörte er Fränge reden und hatte den Eindruck, er bemühe sich, nicht wieder zu schreien. Schließlich ging die Tür auf, Fränge kam heraus und lief Richtung Platz, ohne Förster zu beachten. Nach ihm verließen die Jungs schweigend die Kabine.
Mirkan war der Letzte, der herauskam. Förster hielt ihn an und sagte: »Hör mal, werden hier wirklich solche Sachen gesagt wie Ich mach dich kalt?«
Mirkan zuckte mit den Schultern. »Hat er zu mir auch schon gesagt.«
»Und was antwortest du dann?«
»Ich mach dich kälter.«
Förster dachte: So kann man das natürlich auch machen.
Mirkan, in vollem Bewusstsein, wieder einen guten Spruch gebracht zu haben, hob lässig die Hand, warf sich seine Sporttasche über die Schulter und schlenderte von dannen.
Als Brocki, der noch die Bälle weggeschlossen hatte, herauskam, sagte Förster: »Das war heftig heute.«
Brocki nickte. »Fränge wirkt richtig angefasst.«
Sie gingen rüber zu Fränge, der beim Training der Ersten zuschaute, die Hände in den Taschen seiner bis oben hin zugezogenen Winterjacke.
»Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte«, sagte er. »Ich stehe vor denen und weiß, dass der eine lügt, aber mit welchem Recht glaube ich dem anderen mehr? Hat er wirklich Scheiß-Ausländer gesagt? Ich kann das nicht ausschließen.«
»Wenn, dann wollte er einfach was sagen, von dem er wusste, dass es den anderen maximal verletzen würde«, sagte Brocki.
Förster ergänzte: »Vielleicht wollte Mostafa einfach was sagen, von dem er wusste, dass du darauf entsprechend reagierst.«
»Kann beides sein. Glaube ich Marvin, habe ich was gegen die Ausländer in der Mannschaft. Die gar keine sind, aber sich selbst auch so bezeichnen. Zeige ich Verständnis für Mostafa, bin ich der linksgrün versiffte Gutmensch, der mit der Realität nicht klarkommt. Und soll ich dir mal was sagen? Komme ich auch nicht.«
Brocki stieß Fränge an. »Ist was anderes, als in der Kneipe über die Sachen zu schwadronieren, was?«
Sie schwiegen ein paar Sekunden. Dann sagte Förster: »Kennt ihr eigentlich Songs über Donnerstage?«
»Thursday’s Child von Bowie«, kam es postwendend von Fränge.
»Und diese eine Nummer von Harry Nilsson«, sagte Brocki.
Fränge schnaubte. »Klar, du kommst mit so einem Kitschpickel wie Harry Nilsson!«
»Wieso Kitschpickel?«
Fränge griff sich an die Brust und sang übertrieben klagend: »I can’t live, if living is without you. I can’t live, I can’t give anymore.«
Brockis Mundwinkel gingen nach oben. »Ja, ja, ist ja gut.«
»Und die Donnerstagsnummer«, sagte Fränge zu Förster, »heißt: Klammer auf, Thursday, Klammer zu, Here’s why I did not go to work today.« Machst du wieder so eine bescheuerte Wochentags-Playlist?«
»Mal gucken«, sagte er und dachte: So bin ich am Abend dieses Tages doch ein bisschen reicher als am Morgen. Auch wegen »Ich mach dich kälter«.