Als Förster zum Training kam, waren Alim, Mostafa, Paul und Mirkan schon da und kickten mit einem Ball herum, obwohl der Platz noch abgeschlossen war.
»Was ist denn hier los?«, hörte Förster eine Frau rufen, und als er sich umdrehte, stand Sabine hinter ihm. »Wie sind die denn auf den Platz gekommen?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie zum Zaun und rief: »Wie seid ihr auf den Platz gekommen? So geht das nicht!«
Mostafa blickte sich hektisch um, als wisse er gar nicht, wo er sei. »Ich … ich weiß auch nicht. Ich war auf einmal einfach hier drauf.«
»Da war so ein Licht«, sagte Mirkan. »Ein ganz helles weißes Licht, das hat ihn hochgehoben und auf dem Platz wieder abgesetzt.«
»Stimmt«, sagte Paul. »Mirkan und ich wollten ihn retten und sind über den Zaun geklettert. Als wir gesehen haben, dass es ihm gut geht, dachten wir: Ist ja auch blöd, jetzt wieder zurückzuklettern. Also haben wir schon mal mit dem Training angefangen.«
Förster war immer wieder überrascht, mit welch heiligem Ernst die Jungs solche Geschichten erzählen konnten. Und auch Sabine schien verunsichert. »Licht, was für ein Licht?«
Sie schloss das Tor auf, ging kopfschüttelnd Richtung Bürocontainer, und genau in dem Moment, als sie darin verschwand, kamen Fränge und Brocki um die Ecke. Das ist ja hier, dachte Förster, wie im Boulevardtheater, die eine Tür geht zu, die andere auf.
»Was machen die denn da?«, fragte Fränge. »Wieso sind die denn schon auf dem Platz?«
»Da war so ein weißes Licht, das hat den Mostafa hochgehoben und auf dem Platz abgesetzt. Die anderen wollten ihm nur helfen.«
Fränge und Brocki sahen Förster an.
»Schnüffelst du Klebstoff?«, wollte Brocki wissen. »Wir hatten neulich Probleme mit einem Schüler, der das gemacht hat. Der hat auch so wirr geredet.«
»Nur so eine Mirkan-Geschichte«, sagte Förster, war aber schon abgelenkt von zwei jungen Männern in dunklen T-Shirts und hellen Hosen, die hinter Fränge und Brocki aufgetaucht waren.
»Sind Sie der Trainer?«, sagte einer von den beiden, und es war Förster nicht klar, wen er jetzt meinte.
Fränge und Brocki drehten sich um. Fränge sagte: »Ich bin das. Also, ich bin Primus inter Pares.«
»Egal«, sagte der Größere der beiden Männer. »Ich bin Abbas, der Bruder von Mostafa. Das hier ist Hakim, mein Cousin, und der ist der Bruder von Alim.«
Die beiden reichten Förster, Fränge und Brocki die Hand, und zwar wieder auf Fußballerart, bei der man den Handballen des anderen umfasste, was auf Förster immer ein wenig freundlicher und vertrauter wirkte als der übliche Handschlag.
»Geht noch mal um Samstag«, sagte Hakim.
»Schieß los!«
»Erst mal wollen wir sagen, dass wir cool finden, dass du dich für die Jungs einsetzt«, sagte Abbas.
Hakim nickte. »Vielen ist das scheißegal, wenn die Jungs beleidigt werden.«
»Aber wir finden«, übernahm Abbas wieder das Gespräch, »ihr hättet spielen müssen.«
»Ihr hättet spielen müssen«, bestätigte Hakim.
»Du musst denen zeigen, dass du nicht wegläufst«, sagte Abbas.
»Ist egal, wenn du das Spiel verlierst«, sagte Hakim.
»Kannst du verlieren«, sagte Abbas. »zehn null, zwölf null, egal. Aber du musst spielen.«
»Wir sagen denen, dass sie nicht weglaufen dürfen«, sagte Hakim. »Die sollen nicht heulen und nicht weglaufen. Und nicht zuschlagen.«
»Nur, wenn die anderen zuerst schlagen«, sagte Abbas. »Dann sollen sie sich wehren.«
Das klingt ja fast zu edel, um wahr zu sein, dachte Förster.
»Vielen Dank, dass ihr hergekommen seid«, sagte Fränge, »so lernen wir uns wenigstens mal kennen. Ich meine, am Samstag haben wir das letzte Saisonspiel, und heute sehe ich zum ersten Mal jemanden aus der Familie von Alim und Mostafa.«
»Und wo wir euch gerade hier stehen haben«, warf Brocki ein, »teile ich euch gleich mal für den Dienst in der Bude ein. Also da vorne im Vereinsheim, wo man beim Spiel Würstchen und Pommes und Getränke kaufen kann. Ich würde sagen, ihr macht von eins bis drei, dann seid ihr zum Spiel damit durch.«
Mit dieser Wendung des Gesprächs hatten Abbas und Hakim nicht gerechnet. Sie brauchten ein paar Sekunden, um sich zu fangen.
»Samstag?«, sagte Abbas zu Hakim. »Was war Samstag? Da war doch was, Samstag.«
»Samstag war die Sache mit Tarek.«
»Ja, sicher, Samstag können wir nicht, da haben wir Termin.«
»Und Bude hat doch immer funktioniert, oder?«
»Machen die Mütter, oder?«
»Das ist kein Bundesgesetz«, sagte Fränge. »Da dürfen auch Väter, Brüder und sogar Cousins rein in die Bude.«
»Den Pommes ist das egal, wer sie im siedenden Fett schüttelt«, sagte Brocki.
»Und die Mütter von Alim und Mostafa haben wir hier auch noch nicht gesehen«, sagte Förster.
Hakim sah auf seine Uhr. »Hör mal, ist gleich fünf Uhr, wir müssen los, und du hast Training, lass andermal darüber sprechen. Nach Samstag.«
»Samstag ist die Saison vorbei«, sagte Fränge.
»Ja, und dann reden wir«, sagte Abbas.
»Cool!«, sagte Hakim.
Beide hoben die Hand zum Gruß und gingen.
»Interessant, wie die Sache mit dem abgesagten Spiel noch nachwirkt«, sagte Brocki.
Sekunden später rollte ein weißer Mercedes über den rissigen Asphalt vor den Kabinen, und Förster dachte: Wer fährt hier einfach aufs Gelände, das ist verboten, Flucht- und Rettungswege sind frei zu halten, da vorne steht das entsprechende Schild von der Feuerwehr.
Dr. Müller trug wieder Weiß, passend zu seinem Auto. Förster fragte sich, ob er tatsächlich direkt aus dem Krankenhaus kam oder ob er auch privat gerne so herumlief, um stets als Arzt erkannt zu werden.
»Hier dürfen Sie nicht parken«, sagte Brocki. »Das ist ein Flucht- und Rettungsweg. Da drüben steht das Schild von der Feuerwehr.«
Dr. Müller kniff die Augen zusammen und sagte, das wisse er, und von Parken könne man erst sprechen, wenn er sich vom Wagen entferne, er werde aber genau hier stehen bleiben, schließlich dauere das, was er zu sagen habe, nicht lange.
Mittlerweile war auch Marvin ausgestiegen. Er grüßte Förster und Fränge mit einem Nicken und ging direkt in die Kabine.
»Sie können sich sicher denken, weswegen ich mit Ihnen sprechen will«, sagte Dr. Müller zu Fränge.
»Sie möchten sich bei mir für die geleistete Arbeit der letzten Monate bedanken, nehme ich an.«
»Es geht um letzten Samstag. Wissen Sie, wir haben es jetzt monatelang hingenommen, dass Sie bestimmte Spieler bevorzugen. Das hat politische Gründe. Ich lehne das ab, aber ich muss es akzeptieren.«
»Blödsinn«, entfuhr es Brocki.
»Ich muss es nicht akzeptieren?«
»Sie wissen, was ich meine.«
»Aber nicht zu einem Spiel anzutreten, weil irgendein Bengel sich beleidigt fühlt, das ist nicht akzeptabel.«
»Es ging nicht um Gefühle, sondern um Tatsachen«, sagte Fränge. »Zwei meiner Spieler wurden als Scheiß-Türken bezeichnet.«
»Das behaupten die zwei!«, sagte Doktor Müller.
»Das behaupte ich«, gab Fränge zurück.
»Aber Sie waren doch gar nicht dabei.«
»Natürlich war ich das. Ich stand direkt daneben.«
»Ich ebenso«, sagte Förster.
Diese Information schien Dr. Müller kurz aus der Kurve zu tragen. »Der Marvin hat aber gesagt …«
»Der war jedenfalls nicht dabei«, unterbrach ihn Fränge.
Dr. Müller schwieg ein paar Sekunden. Dann sagte er: »Wie dem auch sei. Sich einfach aus dem Staub machen, das geht nicht. Sie hätten zum Spiel antreten und die Antwort auf dem Platz geben müssen. Bei diesen Leuten geht es doch immer so viel um Ehre. Sie hätten Ihren Spielern die Möglichkeit geben müssen, ihre Ehre auf dem Platz zu verteidigen.«
Fränge nickte. »Sie haben recht. Es war ein Fehler, nicht zum Spiel anzutreten. Es tut mir sehr leid.«
Brocki hob die Augenbrauen.
Mit dieser Antwort hatte Dr. Müller nicht gerechnet. »Echt jetzt?«
»Ja, echt jetzt«, sagte Fränge. »In einer vergleichbaren Situation würde ich es anders machen. Vielen Dank, dass Sie mich darauf aufmerksam gemacht haben.«
Dr. Müller hatte die Stirn in Falten gelegt und wusste nicht, wo er hinschauen sollte. »Ja, wenn das so ist, dann wäre das ja geklärt. Es ist ja auch so, dass ich es gut finde, wenn Sie Ihre Spieler schützen.«
Dr. Müller sah auf die große Uhr an seinem haarigen Handgelenk, sagte, er müsse los, bestieg sein weißes Stahlross und setzte vorsichtig auf die Straße zurück.
Brocki sah Fränge an. »Was war das denn?«
»Es hat doch keinen Sinn, mit dem zu streiten. Also habe ich ihm den Wind aus den Segeln genommen. Jetzt können wir uns alle entspannen. Wärt ihr so freundlich, den Platz aufzubauen, passend zu den Übungen, die ich euch geschickt habe? Ich rede noch mal mit den Jungs.«
»Erstaunlich«, murmelte Brocki, und Förster wollte sich gerade auf den Weg zur Kreidebude machen, als er Luan und Adnan um die Ecke kommen sah, ihre Mütter im Schlepptau. Arjana trug einen Jeansrock, von dem Förster vermutete, dass er Fränges Blutdruck nicht guttun würde, und Luiza ein schwarzes T-Shirt mit einem Ed-Hardy-Motiv. Luan und Adnan bogen Richtung Kabinen ab, während die beiden Frauen mit einem breiten Lächeln zielstrebig den Cheftrainer ansteuerten.
»Du hast die Ehre unserer Kinder verteidigt«, sagte Arjana.
»Man kann sich das nicht immer gefallen lassen, aber wenn wir uns aufregen, heißt es nur, wir sollen die Klappe halten«, sagte Luiza.
Arjana nickte. »Geht allen so: Türken, Libanesen, Albanern, egal. Wir kennen das.«
»Na ja, Portugiesen werden ziemlich selten beleidigt.« Luiza grinste. »Wir können uns benehmen! Und wir verstehen mehr von Wein. Ist aber auch nicht schwer, denn die Albaner kennen sich nur aus mit Schnaps.«
Arjana schlug ihr mit der flachen Hand gegen den Oberarm, und Luiza holte aus ihrer Umhängetasche einen Boxbeutel Portwein und reichte ihn Fränge mit den Worten: »Der ist gut!«
»Für einen Portugiesen ist er okay«, sagte Arjana.
Die beiden verabschiedeten sich, und Förster, Fränge und Brocki blickten ihnen nach, bis sie verschwunden waren.
»Für meinen Geschmack ist hier zu viel von Ehre die Rede«, sagte Brocki.
Erst jetzt bemerkte Förster, dass Sabine neben ihnen stand. Sie sagte: »Du kannst sie alle haben, was?«.
»Na ja, es ist … also es geht um letzten Samstag«, stammelte Fränge.
Sabine nickte. »Der Verein unterstützt dich in dieser Angelegenheit. Sind nicht alle begeistert, aber sie stehen hinter dir. Wäre trotzdem schön, wenn du beim nächsten Mal eine geschmeidigere Lösung finden würdest. Manche halten das für ein cleveres Manöver, weil das Spiel jetzt drei null gegen euch gewertet wird, ihr aber wahrscheinlich höher verloren hättet, wenn ihr gespielt hättet. Tordifferenz ist ja auch ein Thema im Abstiegskampf.«
»Deshalb habe ich es aber nicht gemacht«, sagte Fränge und fügte hinzu: »Ich würde gerne noch was mit dir besprechen. Unter vier Augen.»
»Komm einfach nach dem Training rein.«
Sabine ging wieder Richtung Container, und Brocki sagte: »Du kannst sie wirklich alle haben.«
Aber das ist kein Bundesgesetz, dachte Förster.