Hase oder Kaninchen, dachte Förster, das ist ja ein bisschen wie die Frage Zitronen oder Limetten, denn eines von beiden war jeweils größer als das andere, aber ob sich auch der Geschmack so stark voneinander unterscheidet, weiß ich jetzt nicht, ist aber auch egal, denn viel mehr beschäftigte ihn die Frage, wieso dieses Tier hier und jetzt vor der Kabine saß, völlig reglos, die Augen geschlossen. Die halbe Mannschaft stand aufgeregt drumherum.
NIKLAS: Ist das ein Hase oder ein Kaninchen?
MIRKAN: Muss ein Kaninchen sein. Hasen gibt es hier doch gar nicht.
MARVIN: Sicher gibt es hier Hasen.
LUAN: Aber für ein Kaninchen ist es zu groß.
MOSTAFA: Sind Hasen immer größer als Kaninchen?
MIRKAN: Auf jeden! Und die haben größere Ohren!
MOSTAFA: Größer als wer?
MIRKAN: Größer als überhaupt.
ALEX: Ich glaube, das ist tot.
MARVIN: Das ist auf jeden Fall tot!
NIKLAS: Dann würde es aber nicht so sitzen, dann würde es doch liegen, oder?
ALEX: Aber das atmet gar nicht. Man müsste doch sehen, dass sich was bewegt, wenn es atmen würde.
MARVIN: Das ist die Leichenstarre.
JUSTIN: Gesund ist das jedenfalls nicht, sonst würde es nicht hier sitzen.
LUAN: Wir müssen dem helfen.
MIRKAN: Was sollen wir denn machen?
LUAN: Tierarzt oder so.
MOSTAFA: Wenn es noch nicht ganz tot ist, dann aber fast. Müsste man mit einer Schüppe draufhauen oder so.
LUAN: Waaas?
MOSTAFA: Ist doch scheiße, wenn das leidet.
LUAN: Schlägst du deine Omma auch tot, wenn die alt ist?
MOSTAFA: Das ist aber nicht meine Omma, sondern ein Kaninchen.
NIKLAS: Oder ein Hase.
Förster hatte den Eindruck, jetzt war er gefordert. Er war der einzige Erwachsene hier. Er müsste vorangehen, das Tier wegbringen, irgendwie die Initiative ergreifen, doch er fühlte sich hilflos. Er konnte sich nicht vorstellen, das vielleicht noch lebende Tier anzufassen. Und wenn doch, was sollte er damit machen? Es einfach irgendwo hintragen? Tatsächlich zum Tierarzt bringen?
MARVIN: Wenn du da draufhaust, musst du aber aufpassen, dass der Kopf nicht abgeht oder so. Das wär eklig.
LUAN: Ey, Alter, wie bist du denn drauf?
MARVIN: Hab ich mal gesehen, Junge! Da hat einer mit einer Schaufel auf einen Vogel gehauen, der noch gezuckt hat, aber mit der Vorderseite, und dann ist der Kopf abgegangen. Ich dachte, ich muss kotzen.
LUAN: Ich kotz auch gleich!
JUSTIN: Lass dir keinen Scheiß erzählen. Man kann auch einen Stein nehmen.
ALEX: Ihr seid mir alle zu hart drauf!
LUAN: Wieso alle? Ich nicht! Ich bin dafür, dass wir das zum Tierarzt bringen.
MIRKAN: Ey, Junge, das ist ein Wildtier! Wenn du das anfasst, dann kriegst du Bazillen und Flöhe und was weiß ich. Kannst du nicht anfassen, Mann!
MOSTAFA: Guck doch mal YouTube, was man machen kann.
FÖRSTER: Wieso YouTube?
MOSTAFA: Gibt vielleicht ein Tutorial.
FÖRSTER: Eine Anleitung, wie man Kaninchen erschlägt?
ALEX: Bei YouTube gibt es alles.
Plötzlich zuckten alle zurück, Luan machte: Aaah!, Mirkan und Mostafa schrien: Alter!, denn das Kaninchen sprang plötzlich wie aus dem Nichts, ohne sich vorher irgendwie bewegt zu haben, etwa fünfzig Zentimeter senkrecht in die Höhe, kam wieder am Boden auf, rannte in einem Tempo, das Förster nicht im Traum für möglich gehalten hätte, zwischen Luans Beinen hindurch und etwa fünfzehn Meter geradeaus, prallte dann gegen eine unsichtbare Wand und fiel auf die Seite.
JUSTIN: Was war das denn?
LUAN: Voll unheimlich!
MIRKAN: Der Horror!
MOSTAFA: Habt ihr das auch gesehen?
MARVIN: Jetzt ist das auf jeden Fall tot!
Justin war der Erste, der zu dem Kaninchen hinüberging.
JUSTIN: Das zuckt noch!
Ein paar Sekunden später standen sie wieder alle um das Kaninchen herum.
NIKLAS: Ich glaube jetzt auch, dass das ein Kaninchen ist.
ALEX: Das sieht jetzt kleiner aus.
LUAN: Ich finde, das sieht größer aus, wie das so auf der Seite liegt.
MOSTAFA: Die Beine zucken, als würde das immer noch weglaufen.
NIKLAS: Aber nur die vorne.
MIRKAN: Das hat Vorderbeinantrieb.
Niemand lachte.
ALEX: Förster, was sollen wir tun?
FÖRSTER: Vielleicht mal fragen, ob der Verein eine Schaufel hat.
LUAN: Und dann da draufhauen?
Förster sah, dass Luan kurz davor war, in Tränen auszubrechen.
FÖRSTER: Nein, um das wegzutragen.
LUAN: Zum Tierarzt?
FÖRSTER: Ich fürchte, das hat keinen Sinn mehr.
NIKLAS: Die Augen sind ganz verklebt.
MOSTAFA: Das ist krank, ganz sicher.
MIRKAN: Und gerade war das noch voll schnell! Hast du gesehen, wie das abgegangen ist?
MOSTAFA: Alter, ich war dabei!
Plötzlich stand Friedhelm neben Förster und fragte, was los sei. Förster deutete auf das auf der Seite liegende, heftig pumpende Tier. Friedhelms Zöpfchen am Hinterkopf hatte sich über den Winter zu einem ernst zu nehmenden Zopf ausgewachsen, seine roten Schuhe wirkten, freundlich ausgedrückt, gut eingelaufen und auch der Bauch hatte etwas zugelegt und spannte ein T-Shirt mit der Aufschrift Klar, mach ich! Nur nicht jetzt!. Er sagte: »Ich hol mal ne Schaufel.«
»Aber nicht draufhauen!«, rief Luan.
Friedhelm sah ihn ein paar Sekunden an und sagte schließlich: »Ich bring es ins Gebüsch, und da kann es dann in Ruhe sterben.«
Luan schien beruhigt zu sein. Friedhelm beugte sich zu Förster und murmelte: »Klar hau ich drauf. Man kann das doch nicht so leiden lassen.«
Friedhelm entfernte sich, die Jungs standen stumm da und betrachteten das Tier im Todeskampf.
Förster schickte sie in die Kabine, und als sie verschwunden waren, kam Friedhelm mit einer großen Schaufel und schob das Blatt vorsichtig unter das Tier.
»Ist das jetzt ein Kaninchen oder ein Hase?«, fragte Förster.
»Für einen Hasen ist das viel zu klein.«
»Wenn du da draufhaust, Friedhelm … Also, ich muss das nicht unbedingt mitbekommen.«
»Schon klar. Ich mach das hinterm Vereinsheim.«
»Und dann?«
»Na ja, dann schmeiß ich es in die Mülltonne. Was soll ich denn sonst machen?«
Das wusste Förster auch nicht.
»Ich hoffe mal, das ist kein schlechtes Omen für euer Spiel heute.«
Förster fürchtete, dass es genau das war.