Der hat die Haare schön

Mirkan hielt in der einen Hand eine Fanta und in der anderen ein Fladenbrot mit Sucuk. »Ey, Mostafa!«, rief er. »Spielst du eigentlich gerne Fußball?«

»Ja, sicher!«

»Wieso lernst du es dann nicht?«

Mostafa hielt im Kauen inne, die anderen lachten laut heraus, Paul fiel ein Stück Wurst aus dem Mund, Luan verschluckte sich an seiner Cola. Sie hatten zwei Biertische zu einer langen Tafel zusammengestellt, und Förster dachte, dass es sehr lange dauern würde, bis er wieder so viel ungesundes Essen und überzuckerte Getränke auf einmal sehen würde. Currywurst in sämiger Pampe, Pommes mit riesigen Klecksen Mayonnaise, Sucuk mit Joghurtsauce, und vieles davon hatte sich auf dem Tisch, in den Mundwinkeln der Jungs sowie auf ihren Shirts verteilt.

»Die feiern, als wären sie auf- und nicht abgestiegen«, raunte Brocki.

»Wir haben gewonnen, Brocki«, sagte Förster. »Das ist nicht ganz so häufig passiert in dieser Saison.«

»Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist, oder was?«

»Die Würfel sind gefallen, der Drops ist gelutscht.«

»Muss es nicht der Drop heißen?«

»Wie meinen?«

»Na ja, ist Drops nicht die Mehrzahl? Dann müsste es doch heißen, der Drop ist gelutscht, finde ich.«

Brocki runzelte die Stirn. »Das klingt aber blöd.«

»Egal. Noch ein Bier?«

»Ich sag nicht Nein.« Brocki leerte die Flasche, die er in der Hand hielt, und reichte sie Förster, der sie zum Küchenfenster trug, wo Abbas, der Bruder von Mostafa, sich doch noch zum Dienst gemeldet hatte, was, wie Förster erfahren hatte, auf eine Intervention von Eren zurückging.

»War geiles Spiel, Co-Trainer!«

»Hat aber nix gebracht.«

»Egal, nächstes Jahr. Noch zwei?«

Mit den Flaschen in der Hand grüßte Förster im Vorbeigehen Hakim, der heute den zweiten Grill beaufsichtigte, auf dem alles zubereitet wurde, was kein Schweinefleisch enthielt. Hakim griff mit der Zange nacheinander zwei Sucuk-Hälften, schob sie in ein Fladenbrot, reichte sie seinem Bruder Alim und sagte: »Zwei Euro!«

Alim war entsetzt. »Zwei Euro? Du bist mein Bruder!«

»Ist für den Verein. Zwei Euro oder Kohldampf!«

Alim sagte irgendwas auf Arabisch und kramte Geld aus seiner Trainingsjacke hervor.

Förster ging zurück zu der langen Tafel, wo Justin plötzlich in seine Richtung blickte und rief: »Hier kommt der Hero!«

Wie auf Kommando standen die Jungs auf, klatschten Beifall und grölten. Förster fühlte sich erst geschmeichelt, hatte dann aber den Verdacht, dass er gar nicht gemeint war. Er drehte sich um und sah, wie Armani aufs Gelände gehumpelt kam, gestützt von seinem Vater, der den Dolce-und-Gabbana-Anhänger zu Hause gelassen hatte, ansonsten aber wieder in ein muskel- und oberkörperbetonendes schwarzes Shirt und eine helle Dreiviertelhose gewandet war. Sein

»Ey, Alter, was das für’n Ding?«, rief Mirkan.

»Nix gebrochen, aber ich muss ruhig halten«, sagte Armani.

»Verstaucht«, präzisierte der Vater.

Förster hatte den Eindruck, beide waren auch ein bisschen stolz.

Frisiert war Armani immer noch perfekt, und das bemerkten jetzt auch seine Mannschaftskameraden und sangen: »Du! Hast! Die Haare schön, du hast die Haare schön, du hast, du hast, du hast die Haare schön!«

Armani grinste. Hinter ihm und seinem Vater tauchte Fränge auf. Förster fand, er sah müde aus. Er blieb beim Bürocontainer stehen, nickte ihm aber kurz zu.

Alle setzten sich wieder hin und rückten auf, damit Armani Platz fand. Sein Vater ging zum Grill, um seinem Sohn etwas zu essen zu besorgen.

Adnan stand wieder auf und sagte: »Ich bin der Kapitän, ich sage jetzt was!«

Gegröle und Gelächter folgten dieser Ankündigung, aber auch Anfeuerungsrufe: Mach los, Hau rein, Ey Alter, und von Paul kam tatsächlich ein altmodisches Hört, hört, was Förster ebenso freute wie wunderte.

»Erst mal«, rief Adnan, »super Aktion von Bruder Armani! Er hat sich geopfert für die Mannschaft!«

Jetzt lachte keiner mehr, nein, alle klatschten in tiefer Ernsthaftigkeit Beifall, und Mirkan rief: »Ich küsse deine Augen, Digga, ich schwör!«

»Dann«, fuhr Adnan fort, »wir sind zwar abgestiegen …«

»Hä?«, machte Mostafa. »Wieso abgestiegen? Wir haben doch gewonnen!«

»Ey, deine Mudda, Alter!«, rief Mirkan. »TSG hat gegen Arminia gewonnen, wir sind am Arsch! Die haben den Schiri gekauft oder so.«

Grischa hob die Hand.

»Du musst dich nicht melden«, sagte Adnan und verdrehte die Augen.

»Wollte die Schiri nicht mit uns feiern?«

»Nee, die ist von ihrem Freund abgeholt worden«, sagte Luan.

»Ach so«, sagte Grischa.

»Ja, aber du sollst heute Abend mal vorbeikommen«, sagte Mirkan grinsend. »Sie meinte, sie steht auf kleine Jungs.«

Wieder wurde gelacht, während Grischa rot anlief, und Förster wollte schon einschreiten, da ergriff Adnan wieder das Wort: »Das war eine sehr dumme Bemerkung, Mirkan. Mehr Respekt für deine Kollegen hier! Und für unseren Trainer, denn in der nächsten Saison kriegen wir einen neuen.«

Hätte man eleganter ausdrücken können, fand Förster, aber die entscheidende Information kam rüber.

»Ist der Guardiola in Manchester rausgeflogen?«, rief Mirkan.

»Wir kriegen Klopp!«, meinte Mostafa. »Das ist der Einzige, der mir noch was beibringen kann!«

Brocki beugte sich zu Förster und sagte leise: »Die Trauer hält sich ja in Grenzen.«

Und dann ging es wieder wild durcheinander.

ALIM: Aber wieso kriegen wir einen neuen Trainer? Wir haben doch gewonnen.

NIKLAS: Wir sind doch fast dringeblieben.

MIRKAN: Die haben den Schiri gekauft!

MARVIN: Knapp daneben ist auch vorbei. Fußball ist ein Ergebnissport.

LUAN: Der hat das doch gut gemacht.

GIAMPIERO: Nächste Saison mach ich dreißig Buden, und wir steigen wieder auf!

MIRKAN: Aber danach sind wir B, Junge!

MARVIN: Der Vorstand musste was tun.

JUSTIN: Junge, laber nicht!

MARVIN: Mein Vater sagt …

Justin beugte sich zu Marvin und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Marvin wurde blass. Er stand auf und ging hinüber zum Grill, aber soweit Förster erkennen konnte, bestellte er nichts. Stattdessen holte er sein Handy hervor und telefonierte. Danach kam er nicht zum Tisch zurück, sondern ging ins Vereinsheim.

Als Förster seine Aufmerksamkeit wieder dem Tisch widmete, hatte das Gespräch mal wieder eine absurde Wendung genommen.

MIRKAN: Natürlich riechen blaue Eddings anders als schwarze!

ALEX: Die riechen doch alle gleich.

LUAN: Grün riecht am besten.

MIRKAN: Aber man muss aufpassen, dass man mit der Nase nicht zu nah dran geht, sonst hat man da einen Punkt oder Strich, und der geht dann nicht mehr weg.

ALIM: Wär bei dir egal, du hast sowieso eine Scheiß-Nase!

MIRKAN: Ey, deine Mutter hat ne Nase!

ALIM: Ja sicher, aber deine hat zwei!

LUAN: Ich hab mal an einem roten gerochen, und dann hat einer aus meiner Klasse dagegengehauen, und dann hatte ich so einen roten Strich am Mund. Meine Mutter hat mich mit einer Bürste abgeschrubbt, aber das hat man noch wochenlang gesehen.

So ging das ein paar Minuten weiter, und dann sah Förster, wie Marvin aus dem Vereinsheim kam, nach seiner Tasche griff und sich wortlos auf den Weg nach draußen machte. Förster stand auf und folgte ihm.

»Wo willst du hin, Marvin? Wir feiern noch ein bisschen.«

Marvin blieb stehen, drehte sich nicht zu ihm um, umklammerte aber den Riemen seiner Sporttasche so fest, dass seine Knöchel weiß wurden. »Ich bin fertig hier.«

»Komm, das renkt sich alles wieder ein! Du hast heute dieses wahnsinnig tolle Tor gemacht. Das war doch ein wichtiger Beitrag zu unserem Sieg.«

Vor der Einfahrt zum Platz hielt jetzt der Mercedes von seinem Vater, aber Dr. Müller stieg nicht aus, sondern sah Förster nur durch die Seitenscheibe an. Marvin zog seine grün-weiße Trainingsjacke aus und warf sie auf den Boden. Sein Vater öffnete von innen die Beifahrertür. Der Junge warf seine Tasche auf den Rücksitz und stieg ein, der Mercedes wendete in zwei Zügen und fuhr davon. Förster hob die Trainingsjacke auf und ging zurück auf den Platz, fragte sich, was Justin zu Marvin gesagt haben mochte, dachte dann aber, dass das vielleicht so ein Lost-in-Translation-Moment bleiben musste, man wusste ja auch bis heute nicht, was Bill Murray Scarlett Johansson da ins Ohr geflüstert hatte.

Die Erwachsenen saßen etwas abseits an Bierzeltgarnituren oder auf vereinzelt aufgestellten Stühlen. Förster sah seine Eltern, die sich mit Luiza und Mergim unterhielten, während Vedat und Arjana sich offenbar von Martina ein Autogramm geben ließen. Dreffke und Frau Strobel hielten Bierflaschen in der Hand und wurden von Monika fotografiert. Friedhelm stand neben Wolfgang am Grill und fotografierte den ganzen Rest. Außerhalb dieses Fußballplatzes wären sich diese Leute niemals begegnet, dachte Förster.

»Roland, mein Junge!«, rief sein Vater und winkte ihn herüber. »Tolle Leute habt ihr hier, das muss ich sagen.«

»Dein Vater ist richtig cool«, meinte Luiza. »Der kennt sogar Pearl Jam«, fügte sie hinzu und zeigte auf ihr T-Shirt.

»Und deine Mutter kann Albanisch!«, sagte Mergim begeistert.

»Wirklich?« Förster war schon klar, dass seine Mutter als ehemalige Studienrätin für Französisch und Musik sehr sprachbegabt war, aber dass sie auch Albanisch im Angebot hatte, war ihm bisher entgangen.

»Das will ich hören! Sag mal Guten Tag auf Albanisch!«

»Ich bin doch kein Zirkuspferd, Roland!«

»Ach komm!«

Seine Mutter seufzte und sagte: »Diten e mire.«

Mergim nickte anerkennend. »Ohne Akzent! Super ist das!«

»Wie sieht es denn mit Portugiesisch aus?«, fragte Luiza.

»Boa noite, duas taças de vinho, por favor!«

Doch ein Zirkuspferd, dachte Förster. Sein Vater legte den Arm um seine Frau und küsste sie auf die Wange.

»Hallo!«, sagte plötzlich jemand. »Tut mir leid, dass ich zu spät bin, ich nehme an, das Spiel ist schon aus.«

Förster drehte sich um und war nicht wenig verwundert, Kathrin Borgemeister vor sich zu sehen.

»Kathrin, wie schön!«, sagte seine Mutter und umarmte sie.

»Ich kann mir die Chance doch nicht entgehen lassen, euch zu sehen, wenn ihr zwei mal in Deutschland seid!«, sagte Kathrin.

»Wunderbar!«, sagte sein Vater und umarmte sie ebenfalls.

Das ist mir alles zu erwachsen hier, dachte Förster und ging hinüber zu Martina, die gerade lachte und Arjana eine Hand auf den Unterarm legte.

»Förster!«, rief Arjana. »Ich sage zu Vedat: Die sieht aus wie die aus dem Fernsehen, und er sagt, das ist die auch!«

»Arjana ist großer Fan«, sagte Vedat.

»Na ja, Vedat auch, aber aus anderen Gründen«, sagte Arjana, was Vedat sichtlich verlegen machte.

»Hast du die Kameras gesehen?«, fragte er.

»Hab ich, Friedhelm.«

»Sind tatsächlich nicht angeschlossen, aber in den letzten Monaten ist keiner mehr eingebrochen.« Er beugte sich zu Arjana und Vedat und senkte die Stimme: »Vollprofi, ich sage es euch. Wenn ihr in der Nachbarschaft mal eine Leiche findet, braucht ihr nicht die Polizei rufen. Die hier …«, Friedhelm zeigte mit dem Daumen auf Martina, „… die weiß mehr als jeder Bulle.«

Vedat nickte. »Ich sage Bescheid, wenn bei den wöchentlichen Messerstechereien unter uns Albanern mal wieder einer draufgeht.«

»Ja, gut«, sagte Friedhelm, wirkte aber doch ein wenig verunsichert.

»Normalerweise schmeißen wir die in die Ruhr«, sagte Arjana, »aber vielleicht gibt es ja noch andere Möglichkeiten.«

Hier war auch alles in Ordnung, also zog Förster weiter und gesellte sich zu Dreffke und Frau Strobel, die sich mit Brocki unterhielten.

»Jedenfalls war das ein Kaninchen«, sagte Brocki gerade, »aber ein ziemlich großes, das ist schon richtig.«

»Das beste Kaninchen meines Lebens hatte ich in Venedig«, sagte Frau Strobel und blickte an Förster vorbei in die Ferne. »Das war an einem Freitag im Juni 1957. Giampiero war ein wunderbarer Koch.«

Dreffke nickte Förster anerkennend zu. »Tolles Spiel.«

»Hat nur leider nichts gebracht.«

»Es konnte doch niemand damit rechnen, dass die TSG gegen Arminia gewinnt«, sagte Dreffke.

»Dass wir überhaupt noch um den Klassenerhalt spielen konnten«, sagte Brocki, »war schon ein Wunder. Ich gebe es

»Und trotzdem sind wir abgesägt worden«, sagte Förster.

»Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist«, grinste Dreffke.

»Es war sehr schön, wie der Ball so hoch ins Netz geflogen ist«, sagte Frau Strobel. »Aber das war nicht Giampiero.«

»Nein, das war Marvin«, sagte Förster.

»Und der Junge, der sich verletzt hat …«, sagte Frau Strobel.

»Der heißt Armani«, sagte Förster.

»Ich muss sagen, der hat die Haare schön.«

Da sind wir uns alle einig, dachte Förster.