Blaue Stunde

Wie am Samstag üblich, war der Frühstücksansturm direkt in den Mittags- und Nachmittagsandrang übergegangen, jetzt aber herrschte die Ruhe vor dem Abendbetrieb, die blaue Stunde, dachte Förster, war aber versucht, sich selbst gleich zu korrigieren, denn die blaue Stunde hatte ja was mit der Dämmerung zu tun, wenn der Himmel sich bereits Richtung Nacht verfärbte, aber davon war weit und breit nichts zu sehen, es war gerade mal kurz nach fünf. Sie saßen vor dem Café Dahlbusch, während Lukas drinnen saubermachte. Förster und Brocki hatten Milchkaffee vor sich stehen, Fränge eine bereits zur Hälfte geleerte 1,5-Liter-Flasche Cola sowie eine große Packung Salzstangen. Er trug noch immer seine Sonnenbrille und sagte, Brocki solle sich mal nicht so aufregen, schließlich sei das nur ein Freundschaftsspiel gewesen.

»Null zu fünfundzwanzig?«, sagte Brocki. »Die andere Mannschaft hat das Spiel offenbar sehr ernst genommen.«

»Das waren die 09er«, sagte Fränge. »Gegen die hatten wir doch gar keine Chance!«

»Wieso sagst du wir?«, fragte Brocki. »Wer seinen Sohn so hängen lässt, darf doch nicht wir sagen.«

Fränge griff sich noch zwei Salzstangen, steckte sie in den Mund und spülte mit Cola nach.

»Es ist ja auch nicht das erste Mal«, fuhr Brocki fort. »Wie oft hast du ihn in den letzten Monaten versetzt? Kannst du

»Ja, richtet mich hin!«

»Das wird die Uli schon machen«, sagte Brocki. »Oder der Alex selber.«

Förster kannte dieses Geplänkel zwischen den beiden, das sich für Außenstehende manchmal wie ein Streit anhörte, tatsächlich aber nur der Ausdruck einer lebenslangen Freundschaft war, die zu gleichen Teilen auf der Gegensätzlichkeit zweier Charaktere und den gemeinsamen Erfahrungen, die sie seit ihrer Kindheit gemacht hatten, beruhte. Förster hatte die beiden erst auf dem Gymnasium kennengelernt. Das war jetzt auch schon einundvierzig Jahre her, aber trotzdem hatte er bisweilen immer noch das Gefühl, außen vor zu sein. Was nicht zuletzt mit der unterschiedlichen sozialen Herkunft zu tun hatte, wie Förster irgendwann klar geworden war. Er selbst war der Sohn eines habilitierten Spezialisten für amerikanische Geschichte mit einer lebenslangen Leidenschaft für eine flegelhafte britische Rockband namens The Rolling Stones, während Fränges Vater als Bäcker- und Konditormeister Kleinunternehmer gewesen war und Brockis Vater jahrzehntelang auf Stahlwerke malocht hatte, wie Brocki das heute noch ausdrückte. Brockis Eltern, die Brocks, waren um einiges älter gewesen als Försters und Fränges, hatten ihren Tilmann als Nachzügler bekommen, als die beiden anderen Söhne schon fast die Volljährigkeit erreicht hatten, und waren bereits verstorben, während das Ehepaar Dahlbusch nach der Aufgabe ihres Betriebes das Wandern für sich entdeckt hatte.

Fränge legte die Arme auf die Rückenlehne der aus farbig lackierten Latten bestehenden Holzbank und hielt das Gesicht in die Sonne.

»Du hast doch überhaupt keine Ahnung von Fußball, Brocki!«

»Und Kinder hast du auch nicht.«

Förster hielt den Atem an. Das war ein Tiefschlag. Brocki hatte nur deshalb keine Kinder, weil er nur eine einzige Frau in seinem Leben wirklich geliebt hatte, die Silke, und die war bereits tot.

»Das war jetzt richtig scheiße«, sagte Förster.

Brocki schwieg. Fränge nahm erst die Arme von der Rücklehne und dann die Sonnenbrille ab und sah Brocki an. »Tut mir leid. Ehrlich. Förster hat recht, das war jetzt richtig scheiße. Dafür gibt es keine Entschuldigung.«

Okay, dachte Förster, das meint er ernst. Und weil die beiden sich seit fast fünfzig Jahren kannten, konnte Brocki die Bemerkung tatsächlich wegstecken. Er wartete allerdings ein paar Sekunden, damit Fränge das Ganze noch ein bisschen bereuen konnte.

»Immerhin habe ich früher Fußballbilder gesammelt«, sagte er dann.

»Aber du hattest keine Ahnung, wer die Spieler auf den Bildern waren.«

»Ich weiß aber noch, dass ich mal eine Tüte hatte, in der war zweimal Erich Beer drin.«

Fränge seufzte. »Erich Beer, mein Gott, wie lange habe ich nicht an den gedacht!«

»Warum auch?«, sagte Förster.

»Immerhin war der Nationalspieler«, sagte Brocki. »Der hat doch Länderspiele gemacht, oder?«

»Der war bei der Schmach von Córdoba dabei«, bestätigte Fränge, und weil Förster offenbar ein besonders fragendes Gesicht machte, erklärte er ihm, dass damit die Zwei-zu-drei-Niederlage der bundesdeutschen Nationalmannschaft gegen Österreich bei der Weltmeisterschaft 1978 gemeint

»Der hatte schon mit Mitte, Ende zwanzig eine ganz hohe Stirn und Geheimratsecken«, meinte Brocki.

»Egon Köhnen von Fortuna Düsseldorf hatte mit Mitte zwanzig schon eine Glatze«, sagte Fränge.

»An den erinnere ich mich nicht«, sagte Brocki.

»Aber an den Beer, weil du den zweimal in einer Tüte hattest?«

»Das war Beschiss! Ich bin damals zum alten Jankowski gelaufen und habe das reklamiert, aber der hat mir nicht geglaubt. Der dachte, ich will mir eine Tüte für umsonst ergaunern.«

Schreibwaren Jankowski. Förster erinnerte sich dunkel.

»Der Jankowski war ein alter Nazi«, sagte Fränge und holte sein Handy heraus.

»Für dich war doch früher jeder ein Nazi, der nicht zur Begrüßung Rotfront gebrüllt hat«, sagte Brocki.

»Ich war immer für die Befreiung der arbeitenden Massen, das stimmt.« Fränge tippte etwas in sein Telefon und hielt es sich ans Ohr. »Lukas, bring mal eine Runde Weizenbier nach draußen, aber vergiss nicht, die Gläser vorher auszuspülen.« Fränge steckte das Telefon wieder weg.

Brocki war fassungslos. »Du hast gerade dadrinnen angerufen? In deinem eigenen Laden? Obwohl du direkt davorsitzt? Wie weit ist das? Zehn Meter? Bist du noch ganz gescheit?«

»Gescheit und schwach«, sagte Fränge. »Kein Alkohol ist auch keine Lösung, habe ich festgestellt. Cola und Salzstangen haben mich nicht nach vorne gebracht, also gibt es jetzt ein Konterbier. Außerdem hab ich Flatrate.«

»Wenn überhaupt hast du eine Flatrate«, sagte Brocki. »Das ist ja auch so eine neue Mode, die Artikel und Präpositionen wegzulassen. Das höre ich jeden Tag im Unterricht:

»Da geht sie also wieder den Bach runter, die deutsche Leitkultur!«, höhnte Fränge.

»Die Sprache verlottert!«

»Wegen der ganzen Ausländer oder was?«

»Nicht wegen der ganzen und auch nicht wegen der halben und auch nicht wegen all der Ausländer, wie es grammatisch korrekt heißen müsste, sondern wegen WhatsApp. Und ich habe in meinen Klassen und Kursen keine Ausländer, sondern nur Deutsche mit unterschiedlichen Wurzeln. Aber mal eine andere Frage: Wie soll das denn jetzt weitergehen mit dem Alex und dir? Hast du einen Plan? Du musst doch was tun.«

»Ich weiß es noch nicht. Ich zerbreche mir die ganze Zeit den Kopf. Es muss mir was einfallen, was richtig Gutes. Ich weiß, dass ich da nicht mit einem großen Stoffteddy wieder rauskomme. Diesmal muss ich richtig liefern.«

»Immerhin scheint er die Tragweite des Problems richtig einzuschätzen«, sagte Brocki zu Förster.

Lukas kam und balancierte drei Weizenbier auf einem Tablett, und Förster fürchtete schon, das würde nicht gut gehen, aber er schaffte es, das Tablett auf dem Tisch abzustellen, ohne etwas zu verschütten.

»Übrigens, Brocki«, sagte Förster, »wenn du dir mal Zutritt zu Fränges Wohnung verschaffen musst, dann brüll im Hausflur nicht Polizei, sondern Feuerwehr.«

»Sehr witzig«, sagte Lukas, stellte die Biere vor sie hin und ging wieder hinein.

»Muss ich nicht verstehen, oder?«, fragte Brocki.

»Wenn der Polizei hört, kriegt der Angst um sein Dope«, sagte Fränge.

Fränge winkte ab. »Keine Drogen, nur Gras. Also eigentlich Futter für Kühe.«

»Wieso Weizenbier?«, wollte Förster wissen, der zugeben musste, auch schon daran gedacht zu haben, den Abend einzuläuten, auch wenn er eher Aperol oder Weißweinschorle im Sinn gehabt hatte.

»Es ist die blaue Stunde«, sagte Fränge.

»Na ja«, sagte Förster, »genau genommen spricht man von der blauen Stunde, wenn sich der Himmel wegen der nahenden Nacht zu verfärben beginnt, und das ist ja noch nicht der Fall.«

»Oh, der Dichter hat heute wieder Korinthen im Stuhl«, sagte Brocki grinsend.

Fränge hob sein Glas. »Es ist warm, der Sommer biegt auf die Zielgerade ein. Samstagabend in unserer Straße, wie Peter, der Maffay, einst sang, und da gibt es nichts Besseres als ein Weizenbier in der untergehenden Sonne. Tutti completti mit Präpositionen und Artikeln.«

Das leuchtete Förster ein, und auch Brocki hatte keine Einwände, sie stießen an und tranken ein Konterbier auf das Wohl von Erich Beer und Egon Köhnen, und Förster hatte jetzt einen Peter-Maffay-Ohrwurm.