»Ernsthaft?«
Die Augenbrauen der Frau, die Fränge Förster vorhin als Sabine vorgestellt hatte, schnellten so weit nach oben, dass Förster befürchtete, sie könnten unter dem Ansatz ihres dichten dunkelbraunen Haupthaars verschwinden, einmal um den Kopf laufen und am Kinn wieder herauskommen.
»Absolut«, sagte Fränge. »Ich bin euer Mann, ich ziehe das durch, ich bin da, wenn die Partei mich ruft. Gut, gerufen hat jetzt niemand, aber soweit ich weiß, ist es nicht so einfach, geeignete Kandidaten für den Job zu finden.«
Förster dachte: Der redet wie einer, der sich undercover in eine Drogengang einschmuggeln will.
»Und einen Co-Trainer habe ich auch.« Fränge zeigte mit dem Daumen auf Förster.
Sabine war die Leiterin der Jugendabteilung der Spielvereinigung. Sie trug ein weißes Poloshirt von Adidas mit schwarzen Streifen auf den Ärmeln. Auf der Vorderseite war links das Vereinswappen aufgedruckt und rechts eine Werbung für Teamsport Hannes. Sie saß an einem alten Schreibtisch, dessen Arbeitsfläche mit Resopal bezogen war, das sich an den Rändern aufbäumte. Vor ihr stand ein betagter Laptop mit rauschender Lüftung, an der Wand hinter ihr ein Regal vom Möbeldiscounter, in dem gelbe Westen herumlagen und rote Flaggen. Förster fragte sich, wofür die gut waren, es wurden hier ja wohl kaum Flugzeuge eingewiesen oder Baustellen gesichert. Auf dem obersten Regalbrett reihten sich DIN-A6-Plastikordner mit handbeschriebenen Etiketten aneinander: Mini, F1, F2, F3, E1, E2, D, C, B. Kein A, dachte Förster.
Die Luft in diesem Container war zum Schneiden, denn Sabine rauchte, und das bei geschlossenen Fenstern. Da auch noch die Rollläden davor heruntergelassen waren, standen sie im grellen Licht einer Leuchtstoffröhre, obwohl draußen die Sonne von einem wolkenlosen Himmel strahlte.
»Okay«, sagte Sabine und zog an ihrer Zigarette. »Es ist tatsächlich nicht so einfach, jemanden zu finden. Ich will nur sichergehen, dass ihr euch das gründlich überlegt habt. Nicht dass ihr in ein paar Wochen sagt, euch wird das alles zu viel, und dann lasst ihr mich mitten in der Saison hängen.«
»Keine Sorge«, sagte Fränge. »Ich denke, wir haben eine klare Vorstellung von dem, was uns erwartet. Ich meine, es ist Kinderfußball, oder? Wir sollen hier keinen Impfstoff gegen AIDS entwickeln.«
Fränge lachte, Sabine nicht.
Also, ich habe nicht die geringste Ahnung, worauf ich mich einlasse, dachte Förster. Er räusperte sich und sagte: »Muss man da nicht, keine Ahnung, einen Kurs machen oder so? Braucht man da nicht einen Trainerschein oder etwas in der Art?«
»Klar könnt ihr einen Übungsleiterschein machen. Der Kreis bietet immer wieder Lehrgänge an. Aber das ist keine Voraussetzung. Kommt mal mit!« Sabine zog ein letztes Mal an ihrer Zigarette und drückte sie in einem ziemlich vollen Aschenbecher aus, der Werbung für Marlboro machte. Sie nahm etwas aus einer Schublade und kam um den Schreibtisch herum. Förster und Fränge folgten ihr nach draußen und hinüber zu den Kabinen.
»Das hier«, Sabine zeigte auf eine der Türen, »ist die Kabine für die Heimmannschaft. Daneben die für den Schiedsrichter.«
Sabine schloss auf. Förster fand, der rundum gekachelte Raum sah aus wie eine Toilette, in der man die Toilette vergessen, dafür aber eine kurze Sitzbank mit Garderoben-Überbau, einen Tisch, einen Stuhl und einen Spind gestellt hatte.
»Hat was von einer Ausnüchterungszelle«, sagte Fränge.
»Das hier«, sagte Sabine und hielt einen Schlüssel in die Höhe, an dem ein längliches, grobes Holzstück befestigt war, »ist der Schlüssel für die Kabinen. Der liegt im Container in der Schublade vom Schreibtisch. Kann sein, dass ich am Spieltag nicht da bin, dann müsst ihr euch selber drum kümmern.«
»Letzte Saison haben noch Väter gepfiffen«, sagte Fränge.
»Ab C-Jugend Kreisliga A stellt der Kreis die Schiedsrichter«, sagte Sabine. »Aber keine Linienrichter. Der Kreis ist froh, wenn er genug Schiris zusammenbekommt.«
»Der Kreis?«, fragte Förster.
»Der Fußballkreis Bochum. Besteht aus Bochum, Wattenscheid, Witten und Hattingen.«
»Quasi die unterste Verbandsebene«, ergänzte Fränge.
Man lernt hier richtig was, dachte Förster.
Sabine schloss die Schirikabine wieder ab und öffnete die nächste Tür. Dahinter lag ein schmaler langer Raum. An den Wänden standen Sitzbänke ohne Lehnen, darüber waren Garderobenhaken angebracht. Der Geruch erinnerte Förster an die Umkleide beim Sportunterricht.
»Da hinten links geht es in die Dusche. Die teilt man sich mit der Gästemannschaft. Muss man bei den Blagen ein bisschen aufpassen. Dass die sich da nicht in die Wolle kriegen. Wenn sie überhaupt duschen. Viele tun das nicht mehr.«
Förster war verwundert. »Wieso nicht?«
»Die Moslems wollen sich aus religiösen Gründen nicht nackt zeigen, die Deutschen schämen sich«, sagte Sabine.
»Sind die Moslems keine Deutschen?«, fragte Förster.
»Du weißt, was ich meine.«
Sabine ging zu einer anderen Tür. Bevor sie aufschloss, hielt sie wieder einen Schlüssel in die Höhe. An diesem war kein Holzstück, sondern eine große Sechskantmutter als Anhänger.
»Wichtig!«, sagte sie. »Der Schlüssel zum Ballraum. Davon haben wir nur noch einen. Für beide Schlüssel gilt: Die dürfen auf keinen Fall wegkommen! Die Turnhalle und die Kabinen sind städtisch. Wenn die Schlüssel weg sind, müssen alle Schlösser ausgetauscht werden, weil das hier alles eine Schließanlage ist. Und wir müssen das bezahlen. Wer die Schlüssel verschlampt, wird erschossen.«
Sabine öffnete die Tür. Förster sah Metallregale, etwa einen Meter achtzig hoch. Vor jedem Regalfach war eine Sperrholzplatte angebracht, die unten von zwei Scharnieren gehalten und oben mit einem Vorhängeschloss gesichert wurde.
»Das hier ist euer Fach«, sagte Sabine und klopfte auf die Platte, die mit einem C beschriftet war. Sie löste einen kleinen Schlüssel von einem ziemlich dicken Bund, den sie zusätzlich zu den Schlüsseln an Holzstück und Sechskantmutter mit sich herumtrug.
»Hier«, sagte sie und reichte Fränge den Schlüssel. »Mach mal auf.«
Fränge öffnete das Vorhängeschloss, vergaß aber, die Platte festzuhalten, sodass sie unten gegen das Fach mit der Aufschrift D knallte.
»Das sind eure Bälle«, sagte Sabine, ohne auf Fränges Malheur einzugehen. Offensichtlich hatte sie nichts anderes erwartet.
In dem Fach lag ein Netz, das nach Försters Vermutung mal weiß gewesen sein musste, nun aber genauso schwarz aussah wie die Bälle darin.
»Wieso sind die Bälle schwarz?«, fragte er.
»Wegen dem Granulat.« Sabine hielt die Frage damit offenbar für beantwortet.
»Mensch, Förster«, stöhnte Fränge. »Auf dem Kunstrasen liegt Granulat aus geschredderten Autoreifen, damit der Untergrund nicht so stumpf ist. Das färbt auf die Bälle ab. Ist nun wirklich Allgemeinwissen.«
»Nee«, sagte Sabine. »Weiß so gut wie keiner. Regen sich nur alle drüber auf.«
Etwas versteckt neben einem der Regale war eine weitere Tür, die Sabine nun mit einem Ruck öffnete. In dem Raum dahinter standen Kisten, aus denen alles Mögliche herausquoll, alte Trainingsanzüge, grün-weiße Winterjacken, Trikots und T-Shirts.
»Hier müsste man mal ausmisten«, sagte Sabine. »Aber man kommt ja zu nichts.«
Sie musterte Förster und Fränge kurz von oben bis unten, griff dann in eine der Kisten und zog einen Stapel in Plastikhüllen eingeschweißte Adidas-Polohemden heraus, die genauso aussahen wie das, was sie trug.
»XL müsste hinhauen, oder?«
»Eher L«, meinte Fränge.
Sabine ging den Stapel durch. »L ist aus«, sagte sie. »M oder XL?«
»Dann M.«
Sabine zögerte kurz, zuckte dann mit den Schultern und drückte Fränge ein Shirt in die Hand.
»Ich sehe gerade«, sagte sie zu Förster, »dass das mein letztes in M war. Du kriegst also XL.«
Förster nahm das Shirt entgegen, obwohl er nicht überzeugt war, dass er es auch tragen würde, es kam ihm irgendwie anmaßend vor, über ein Kleidungsstück die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu demonstrieren, zu der er gar nicht gehörte, er war nur hier, um Fränge durch die Gegend zu fahren und vielleicht mal irgendwas von rechts nach links zu tragen.
Sabine drängelte sich an ihnen vorbei, zurück in den Ballraum. Förster und Fränge folgten ihr, sie schloss die Tür zu dem Kabuff ab und nahm dann das Netz mit den Bällen aus dem Fach. Dahinter kam irgendetwas aus buntem Plastik zum Vorschein. »Das sind eure Hütchen.«
»Hütchen?«, fragte Förster.
»Ohne die geht gar nichts«, sagte Fränge. »Hütchen sind die Eiswürfel im Baileys des Jugendfußballs.«
Sabine drückte Förster das Netz in die Hand, das sich schmutzig und brüchig anfühlte, und reichte Fränge die Hütchen.
Sie gingen nach draußen zu einem in den Vereinsfarben gestrichenen Schuppen gleich neben dem Spielfeld. Die Tür war offen.
»Das ist die Kreidebude«, sagte Sabine. »Als das hier ein Ascheplatz war, stand da der Wagen drin, mit dem der Platzwart die Kreidelinien gezogen hat. Ist ja jetzt nicht mehr nötig.«
In dem Schuppen erkannte Förster Stangen, die in Halbkugeln steckten, außerdem weitere bunte Hütchen in allen möglichen Größen und Formen sowie ein Gerät, das aussah wie ein Stromgenerator.
»Das ist die Kompressorpumpe für die Bälle«, sagte Sabine.
Sie reichte Förster den Schlauch, der an der Pumpe angebracht war und am vorderen Ende ein schwarzes Plastikstück mit Metallspitze hatte.
»Das hier steckst du ins Ventil, und dann drückst du hier drauf.« Sabine zeigte auf einen Knopf an der Pumpe. »Versuch’s mal!«
Förster nahm einen Ball, der ihm besonders weich vorkam, aus dem Netz, führte die Spitze ins Ventil ein und drückte den Knopf. Erstaunlich schnell füllte sich der Ball mit Luft. Förster zog die Metallspitze heraus, und die Kompressorpumpe machte plötzlich einen Höllenlärm.
»Das wollte ich nicht!«
Fränge lachte. »Das Ding zieht Luft, Förster. Die muss ja irgendwo herkommen.«
»Klar, und was sind das für Stangen?«
»Die sind fürs Training«, sagte Sabine. »Slalom laufen und so, keine Ahnung. Kriegt ihr schon raus. Okay, ich würde sagen, ihr pumpt mal die Bälle auf, und wenn ihr damit fertig seid, kommt ihr ins Büro und ich erkläre euch den Rest.«
Sabine ließ sie allein, und Förster sagte, diese Einweisung komme ihm vor wie ein Initiationsritus. Fränge sagte nichts. Schweigend pumpten sie die Bälle auf.
»So, jetzt werde ich offiziell nervös«, sagte Fränge, als sie fertig waren und wieder nach draußen gingen.
»Das ist Kinderfußball«, sagte Förster, »du sollst hier keinen Impfstoff gegen AIDS entwickeln.«
»Ja, ja, nur, es ist so.« Fränge brach ab, zog die Nase hoch und blickte zum Himmel. »Alex weiß noch nicht Bescheid.«
»Worüber?«
»Dass du sein neuer Co-Trainer bist.«
»Damit wird er klarkommen, würde ich sagen.«
»Na ja, er weiß auch noch nicht, dass ich der neue Trainer bin. Soll eine Überraschung sein.«