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Grootock Schüttelschnalles Lehren über Objektimpermanenz
A m Montag ging ich also Kacke verkaufen, um die Fahrkarten zu bezahlen.
Natürlich wusste der Typ in dem lichtscheuen Pfandhaus um die Ecke von Cronenbergs Kuttel-Imbiss und Wählscheibentelefon-Reparaturladen (auch bekannt als geheimer Vordereingang zum Untergrund) nicht, dass ich Trollkacke verkaufte, sondern hielt es für eine Handvoll ungeschliffener Diamanten. Als ihm klar wurde, dass sie echt waren, wurde er ungeheuer misstrauisch und stellte jede Menge Fragen, woher ich sie hatte.
Aber es gab ja einen Grund, warum ich mir einen schmuddeligen Pfandladen ausgesucht hatte. Na ja, eigentlich sogar zwei:
1. Der Laden lag wirklich um die Ecke (weniger als einen Block entfernt) vom Eingang zum Untergrund.
2. Ich hatte in meiner Kindheit in der modernen Welt eine Menge Filme gesehen, und in fast jedem Kriminalfilm, der je gedreht worden ist, kann man in einem schmuddeligen Pfandladen solche Dinge sagen, ohne dass die Bullen geholt werden:
»Hör mal, Kumpel! Kann dir doch sonst wo vorbeigehen, woher ich die habe. Die sind ungeschliffen, das bedeutet, nicht registriert. Und ich will nur zehn Riesen bar auf die Kralle. Ich kenn mich nicht aus mit Klunkern, aber ich weiß, dass diese Diamanten sehr viel mehr wert sind. Wenn du also so viele Fragen stellen willst, dass ich gehe und den Deal mitnehme, dann bitte sehr, frag nur drauflos.«
An diesem Punkt öffnete der Pfandleiher ohne ein weiteres Wort seinen Safe und legte ein sorgfältig gepacktes Bündel von Hundert-Dollar-Scheinen auf den Tresen. Ich zog die Kohle zu mir heran, während er den kleinen Haufen aus Diamanten in einen schwarzen Samtbeutel fegte.
Wir nickten einander kurz zu, und weg war ich.
Meine Freunde warteten voller Spannung in einer Gasse in der Nähe.
Glam hatte die Arme vor der Brust verschränkt (sie war davon überzeugt gewesen, dass es nicht klappen würde – dabei hatte sie nicht einmal gewusst, was ein Pfandleiher überhaupt macht). Lake sah gleichzeitig nervös und neugierig aus, und seine Füße scharrten unentwegt über das grobe Pflaster. Froggy lehnte mit Stöpseln in den Ohren an der Mauer, starrte den Boden an und bewegte lautlos die Lippen zum Text seines Liedes. Ari grinste, sowie sie mich sah – sie kannte mich schon so gut.
»Es hat wirklich geklappt?«, fragte sie.
»Natürlich hat es das«, sagte ich und versuchte, so zu tun, als wäre ich von vornherein sicher gewesen.
Ich hielt die Geldscheine in die Luft.
»Beim heiligen Gnarlagshorn, das ist ganz schön viel Zaster!«, brüllte Glam und erregte damit die Aufmerksamkeit mehrerer Fußgänger auf der anderen Straßenseite. »Was machen wir denn mit all den Penunzen?«
Ich verstaute das Geld rasch in meinem Rucksack und winkte den anderen, mir unauffällig zu folgen.
»Also, erstens sollten wir nicht alle Welt darauf aufmerksam machen, dass wir so viel Geld bei uns haben«, flüsterte ich im Gehen.
»’tschuldigung«, sagte Glam verlegen.
»Ist schon gut«, sagte ich. »Jetzt müssen wir zurück in den Untergrund und unseren Kram holen. Wir dürfen den Zug nicht verpassen.«
Wir fünf teilten uns drei nebeneinanderliegende Schlafwagenabteile im Zug nach New Orleans.
Ich könnte euch lang und breit erzählen, wie wir das gemacht haben, aber um ehrlich zu sein, ist es nicht besonders aufregend. Also fasse ich mich kurz:
1. Wir packten unsere Waffen ein.
2. Wir sagten unseren Eltern, wir wollen in die Arena und danach bei Eagan übernachten.
3. Wenn sie unser Verschwinden bemerkten, würde es zu spät sein, um uns noch einzuholen.
4. Eagan würde unseren Eltern eine Nachricht zuspielen, aus der hervorging, dass wir unversehrt waren, aber die Welt retten mussten, und dass wir uns nach unserer Rückkehr bereitwillig den Konsequenzen stellen würden.
5. Ich bezahlte am Bahnhofsschalter die Fahrkarten in bar.
Wir nahmen die Schlafwagenabteile nicht aus Bequemlichkeit (offenbar sind die so eine Art Business Class bei Bahnreisen), sondern weil wir dann unter uns waren und während der neunzehn Stunden Fahrt über Zwergen- und Magie- und Monster- und Elfendinge reden konnten, ohne allzu große Aufmerksamkeit zu erregen.
Irgendwann gegen drei Uhr morgens an der Grenze zwischen Kentucky und Tennessee schliefen Lake, Ari und Froggy in den anderen Abteilen tief und fest, während Glam und ich im dritten wach waren. Glam saß mit eingeschalteter Leselampe im oberen Bett und hatte ein uraltes Buch aufgeschlagen auf den Knien liegen. Ich saß auf einem an der Wand befestigten Stuhl neben dem unteren Bett und versuchte, nicht daran zu denken, wie hirnrissig und gefährlich dieses ganze Nach-New-Orleans-Durchbrennen-und-gegen-eine-mysteriöse-Elfenarmee-Antreten war.
Würde es eine ganze Armee sein, oder nur ein paar Elfen? Hatten sie Monster zur Unterstützung, wie wir Zwerge es durch die MFMs auch zu erreichen versuchten? Sie würden ziemlich sicher mehr Ysteriös haben als bei unserer letzten Auseinandersetzung (so nannten die Elfen das Galdervatn). Das bedeutete, dass wir keinen magischen Vorteil mehr hatten. Würden sie überhaupt da sein? Vielleicht irrte sich Stoney, oder sie waren in den Wochen seit seiner Flucht schon weitergezogen. Und selbst wenn es sich nur um eine kleine Gruppe handelte, würden wir aller Wahrscheinlichkeit nach in der Minderheit sein, und an Waffen und Magie unterlegen.
Wenn ich noch weitergrübelte, wäre ich imstande, die ganze Sache abzublasen, deshalb beschloss ich, nach einer Ablenkung Ausschau zu halten.
»Was liest du da?«, fragte ich schließlich Glam und setzte mich anders hin, um sie sehen zu können.
Ich hätte ehrlich gesagt nie gedacht, dass Glam in ihrer Freizeit las. Ich stellte mir irgendwie vor, dass sie sich lieber entspannte, indem sie antike Kleiderschränke in Stücke schlug. Oder in ihren Handflächen kleine Tierknochen zerdrückte.
Sie schaute auf und grinste. »Das wüsstest du wohl gern?«, fragte sie.
»Na ja, schon, deshalb frag ich ja.«
Glam grinste noch immer. »Das ist die zweite Auflage eines Lehrbuches für die Zwerge von Ur-Erde, das kürzlich tief in den Löwenhöhlenminen in Eswatini, dem ehemaligen Swasiland, gefunden wurde«, sagte sie. »Es heißt Grootock Schüttelschnalles Lehren über Objektimpermanenz.«
»Und wovon handelt es?«
»Im Grunde von unterschiedlichen Techniken, alle möglichen Arten von Gegenständen zu zerstören.«
»Warum überrascht mich das nicht?«, fragte ich.
Glam runzelte die Stirn. Für einen Moment befürchtete ich, sie beleidigt zu haben. Dann aber schüttelte sie gelassen den Kopf.
»Falls du es wissen willst, ich lese das als Vorbereitung auf unsere bevorstehende Mission, da wir keine Ahnung haben, mit welchen Schwierigkeiten wir rechnen müssen«, sagte sie. »Ich lese das nicht zum Vergnügen. Zum Vergnügen habe ich das hier mitgenommen.« Sie nickte zu dem kleinen Wandfach rechts von ihr.
Darin steckte ein weiteres altes Buch. Der Titel war in Gold in den Einband geprägt und leuchtete durch das dichte Netz hindurch, das das Buch an seinem Platz hielt.
Zehn romantische Erzählungen über Feenliebe,
in Anbetung verloren und im Traum gefunden
von Sugarfancy Schneeflocke
»Sugarfancy Schneeflocke?«, fragte ich. So einen Zwergennamen hatte ich noch nie gehört.
»Sie war eine Fee«, sagte Glam. »Und wir halten sie für eine der besten Autorinnen aus der zweiten spätromantischen Ära von Ur-Erde.«
»Du stehst auf Bücher mit Feenromantik?«, fragte ich und meine Stimme knisterte vor Staunen. »Echt?«
»Ja, wieso?«, erwiderte Glam mit abweisender Verachtung. »Kann ich nicht mit gleicher Begeisterung Gegenstände zerschlagen und wunderbare, atemberaubende Geschichten über verliebte Feen lesen?«
»Ich – äh – ich meine – natürlich!«
Glam lachte. »Wenn du verlegen bist, bist du besonders süß!«
Ich spürte, wie ich rot anlief.
»Also, äh, warum zerschlägst du eigentlich so gern Gegenstände?«, fragte ich in dem Versuch, das Thema zu wechseln. »Wo wir schon davon reden.«
»Ich weiß nicht, warum spielst du so gern Schach?«
»Weil ich Spiele mag, bei denen ich denken muss. Spiele, bei denen Glück keine Rolle spielt. Beim Schachspielen habe ich die volle Kontrolle über mein Schicksal, darüber, ob ich gewinne oder verliere. Ich würde lieber aus eigener Schuld verlieren als gewinnen, weil ich Glück hatte.«
»Oh, wow, äh, okay«, sagte Glam und wirkte verwirrt. Das sah seltsam bei ihr aus, und ich fand es irgendwie bezaubernd. »Ich hätte nicht gedacht, dass du eine so wohlformulierte Antwort auf Lager haben würdest.«
»Ich habe nur ehrlich und aus tiefstem Herzen geantwortet«, sagte ich. »Wie immer.«
»Okay, dann tu ich das auch«, sagte Glam. »Ich zerschlage gern Gegenstände, weil … na ja, weil ich mich dabei gut fühle. Aber nicht, weil ich sinnlose Zerstörung liebe. Etwas zu zerschlagen, erleichtert mich. Es ist schön und schlicht. Es gibt kein Herumraten. Etwas stand vor uns. Unversehrt. Dann zerschlägst du es und es ist nicht mehr unversehrt. Es liegt in Stücken auf dem Boden. Es ist nicht kompliziert. Kompliziert mag ich nicht. Und diese Schlichtheit hat einen besonderen Reiz. Die Art, wie Dinge zerbrechen und zerfallen. Und es geht auch darum, was danach kommt.«
»Wie meinst du das?«, fragte ich und meine Stimme war so heiser, dass es wie Flüstern klang.
»Ich meine, dass alles immer besser zurückkehrt, als es vorher war«, sagte Glam und lächelte. Aufgeregt. »Wenn etwas zerstört wird, wird es wieder aufgebaut, noch besser als vorher. Gebäude, ganze Städte, Gesellschaften, alles. Auf Zerstörung folgt fast immer Fortschritt. Und, na ja, du weißt ja, meine Familie steht echt auf Zerschlagen. Also war es irgendwie einfach, in ihre Fußstapfen zu treten.«
»Warum stehen sie denn so auf Zerstörung?«
Glam zuckte mit den Schultern, antwortete dann aber doch.
»Das hat mit Elfen angefangen«, sagte sie. »Mit einem Gelübde, das meine Vorfahren irgendwann abgelegt haben: dass sie jeden Tag ihres Lebens der Zerstörung von Elfen und Elfendingen widmen würden. Die Lage hat sich seither natürlich verändert, durch die Friedensverträge und alles. Jetzt können wir nicht mehr nach Lust und Laune durch die Welt rennen und Dinge zerschlagen, ohne Ärger zu bekommen.«
»Aber warum hat deine Familie überhaupt so ein Gelübde abgelegt?«
»Wegen der Dinge, die die Elfen meinen Vorfahren angetan haben«, sagte Glam. »Es ist eine lange Geschichte, die seit Zehntausenden von Jahren in der Schattenspießsippe weitererzählt wird. Es gab eine Zeit, als die Schattenspieße einfache Viehzüchter in Ur-Erde waren. Eines Tages erschien eine junge Elfe namens Alinor Dadi vor ihrem kleinen Haus und erzählte, sie sei von ihrer Familie verstoßen worden, weil sie sich die Haare zu kurz geschnitten hatte – bei solchen Kleinigkeiten drehen Elfen ja gern mal durch. Sie bat um ein Bett, nur für eine Nacht. Sie würde gern dafür arbeiten, sagte sie. Vergiss nicht, das war in den alten Zeiten, ehe die natürlichen Spannungen zum Krieg zwischen Elfen und Zwergen geführt hatten. Sie ließen das Mädchen also ins Haus, gaben ihr etwas zu essen und überließen ihr für die Nacht das Bett ihres jüngsten Kindes.
Wie so oft in solchen Geschichten blieb sie dann länger als erwartet. Sie wurde fast ein Teil der Familie. Doch einige Monate später entdeckte Alinor, dass die gewaltigen Quarzvorkommen auf dem Land der Schattenspieße von Goldadern durchzogen waren. Meine Vorfahren winkten ab. Sie sagten, sie wüssten das schon und es sei ihnen egal. Geld und Gold hatten keinen Nutzen für die Schattenspieße – sie interessierten sich nicht für Wohlstand, nur dafür, was sie brauchten, um glücklich und zufrieden zu sein. Alinor konnte das nicht verstehen. Warum wollten sie nicht mehr Geld? Es war unvorstellbar für sie. Sie sah das als Möglichkeit, endlich von ihren Eltern in Gnaden wieder aufgenommen zu werden. Sie kehrte in ihr altes Zuhause zurück und erzählte ihrer Elfenfamilie von dem Bauernhof und seinen versteckten Reichtümern.
Natürlich versuchte Alinors Familie, den Schattenspießen das Land abzukaufen, und wurde abgewiesen. Dann setzten sie ihren natürlichen Elfencharme ein, um die Schattenspieße zu überreden, ihnen das Land für eine üppige Summe zu überlassen, aber mit einem verlockenden Bonus: Die Schattenspieße könnten auf dem Land bleiben und es wie seit Jahrzehnten schon bebauen. Es würde ihnen zwar nicht mehr gehören, aber sie hätten es sozusagen gratis gepachtet. Die Elfen versprachen, die Schattenspieße so lange auf dem Land bleiben zu lassen, wie sie wollten, in einem endlosen Pachtverhältnis. Und die Schattenspieße verließen sich darauf, da sie sonst fast nur mit anderen Zwergen zu tun hatten, die meinten, was sie sagten.
Wie du dir sicher schon denken kannst, hielt Alinors Familie ihr Versprechen nicht. Drei Tage nachdem die Verträge unterschrieben worden waren, nutzten sie ein verborgenes Schlupfloch im Kleingedruckten, um die Schattenspieße fristlos ganz legal von ihrem Land zu vertreiben. Sie wurden obdachlos. Während die Elfen durch das Land und die Goldadern immer reicher wurden, mussten die Schattenspieße an einen unfruchtbaren, felsigen Hang ziehen. Um nicht zu verhungern, schufteten sie in einem nahe gelegenen Steinbruch. Nach wenigen Monaten wurden einige von ihnen krank und das jüngste Kind starb. Sie hatten alles verloren, was ihnen wichtig gewesen war, das Land und das Vieh, das ihnen ihr bescheidenes Dasein schön gemacht hatte. Und das alles nur wegen der Gastfreundschaft, die sie einer durch und durch gierigen und selbstsüchtigen jungen Elfe erwiesen hatten. Aber der echte Schlag unter die Gürtellinie kommt erst noch.«
»Oh nein«, sagte ich entsetzt, denn ich konnte mir nicht vorstellen, wie es noch schlimmer kommen sollte.
»Doch«, sagte Glam. »Ungefähr ein Jahrzehnt später wurde auch im Steinbruch Gold entdeckt, auf einem Teil des neuen Landes der Schattenspieße. Und natürlich fanden die Elfen, die jetzt in dieser Gegend von Ur-Erde das Sagen hatten, einen Weg, den neuen Goldvorkommen der Schattenspieße so hohe Steuern aufzuerlegen, dass sie auch dort nicht bleiben konnten. Die Elfen vertrieben sie von ihrem neuen Land und stahlen ihnen zum zweiten Mal alles, was sie hatten!«
Glam ballte ihre Faust so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden und zitterten. »Da ich meine ganze Kindheit hindurch diese und viele andere Geschichten gehört habe, war es schwer, die Elfen nicht zu hassen. Ich meine, wie können Leute finanziellen Gewinn über das Wohlergehen anderer setzen? Oder andere belügen, um sich zu bereichern? Ich kann einfach nicht verstehen, wie irgendein Lebewesen so herzlos sein kann, schon gar nicht, wenn es sich für moralisch, zivilisiert oder überlegen hält.«
Es war schwer, ihr da zu widersprechen. Andererseits war es wieder nur eine einzelne alte Geschichte. Sie bedeutete nicht, dass sich alle Elfen ebenso verhalten hätten.
»Ich könnte einwenden, dass es nicht daran lag, dass Alinor aus einer Elfenfamilie stammte, sondern dass ihre Familie einfach gierig und gemein war«, sagte ich deshalb. »Wir sollen andere nicht danach beurteilen, wie sich ihre Vorfahren verhalten haben. Wir erschaffen unser eigenes Schicksal. Was wir als Individuen tun, das zählt, nicht, was unsere Eltern und Großeltern getan haben.«
»Schön, das sehe ich ein. Aber dann beantworte mir diese Frage: Wie vielen gierigen, selbstsüchtigen Zwergen bist du schon begegnet?«, fragte Glam herausfordernd. »Zwergen, die ihre eigenen Bedürfnisse auf so grausame Weise über das Wohlergehen von anderen stellen? Ich lebe zwar im Untergrund, aber das heißt noch lange nicht, dass ich keine Ahnung davon hätte, was moderne Elfen treiben. Die Welt ist voll von Aktionären, Aufsichtsratsangehörigen und Vorständen, die immer eine Möglichkeit finden, sich persönliche Vorteile zu sichern, selbst wenn die, die den Wohlstand erarbeitet haben, dafür büßen müssen. Reiche Leute schaffen es immer, ihren ohnehin schon absurden Reichtum auf Kosten der Armen zu vergrößern. So läuft es in der modernen Welt, die von Elfen beherrscht wird. Wie viele Zwerge kennst du, die sich so verhalten?«
Ich war verblüfft, denn ich hatte angenommen, ihr Leben im Untergrund hätte sie der Welt oben gegenüber gleichgültig gemacht. Aber sogar traditionelle separatistische Zwerge wie Glams Familie hielten sich offenbar auf dem Laufenden über die Elfen und deren Geschäfte.
»Na ja«, begann ich. »Ich meine – das ist eine schwierige Frage.«
»Nein, ist es nicht. Du kannst mit einer einstelligen Zahl antworten. Null? Einer? Vielleicht fünf, wenn es hoch kommt?«
»So habe ich das nicht gemeint«, sagte ich und dachte daran, was ich alles riskierte, indem ich hier im Zug saß, um meinen Dad zu heilen – was ja durchaus als halbwegs selbstsüchtiges Vorhaben betrachtet werden könnte. »Zum einen musst du sicher sein, dass alles, was du zu sehen glaubst, wenn du jemandem begegnest, auch wirklich zutrifft. Was so gut wie unmöglich ist. Dann musst du den Begriff gierig definieren. Denn wenn du alle einbeziehst, die sich einfach ein besseres Leben wünschen, dann sind das ganz schön viele Gierige. Dann musst du untersuchen, warum die Leute die Welt so sehen, wie sie sie sehen, und das mit deinen eigenen Werten abgleichen, und …«
»Okay, okay!« Glam hob die Hände. »Vergiss die Frage. Bei Morgors Bart, Greg! Du bist wirklich nicht normal, weißt du das? Du wirkst die ganze Zeit so lässig und entspannt. Und ruhig. Aber kaum stelle ich dir eine schlichte Frage über Elfen und Zwerge, verwandelst du dich in einen verflixten Philosophen.«
Ich grinste und versuchte zu überspielen, dass ich schon wieder rot anlief.
»Okay, dann überlass ich dich jetzt wieder deinem Handbuch der Zerschlagungskunst«, sagte ich. »Ich sollte wirklich versuchen zu schlafen, ehe wir ankommen. Eagan hat Ari eine Spur genannt, die wir dort verfolgen sollen, aber sie meint, dass die nicht viel hergibt. Am Ende könnten wir einen ganzen Tag damit verbringen, ziellos durch die Stadt zu wandern. Du solltest auch eine Runde schlafen. Ich habe außerdem gelesen, dass Chicago im Vergleich zur Hitze von New Orleans fast arktisch wirkt.«
»Erzähl mir nicht, was ich zu tun habe«, sagte Glam kokett. »Das darf nur mein Schnurrbart.«
Ich lachte, stieg ins untere Bett und schaltete die Leselampe aus. Die dünne Matratze war klumpig und hart, aber immer noch besser als ein normaler Sitz. Glams Leselampe über mir wurde bald darauf ebenfalls ausgeknipst, und dann gab es nur Dunkelheit und das Rattern und Klappern des Zuges auf den Schienen.
Was die Elfen angeht, hat sie recht. Die Stimme von Aderlass füllte meinen Kopf.
Aderlass befand sich in der Gepäckablage vor dem Abteil, in Decken gewickelt und in einer Hockeytasche.
Es überrascht mich kein bisschen, dass du das sagst, dachte ich zurück.
Wenn ich es immer wieder sage, glaubst du mir vielleicht irgendwann, erwiderte Aderlass herausfordernd. Die Elfen sind nicht gut für diese Welt. Das weiß ich, denn ich bin schon länger dabei, als du es dir überhaupt nur vorstellen kannst. Im Vergleich dazu, was ich schon gesehen habe, ist die Geschichte von eben ein Märchen mit kitschigem Ende, bei dem ein Einhorn einen Regenbogen aus Freude auf eine Bande von wohlerzogenen Kindern kotzt.
Ja, das erzählst du mir immer wieder, dachte ich. Aber die Welt hat sich geändert.
Aber nicht für lange. Die Welt wird bald wieder so sein, wie sie vor langer Zeit einmal war. Die Magie kehrt jetzt schneller zurück. Das spüre ich, und du spürst es bestimmt auch. Deshalb ist der Rat ja auch dermaßen überarbeitet. Sie können damit nicht Schritt halten. Die Welt pfeift auf dem letzten Loch. Es bleibt ihr nicht mehr viel Zeit. Man könnte sogar meinen, dass die Zeit schon abgelaufen ist.
Sei still, du machst mir Angst, dachte ich, nur halb zum Spaß. Ich krieg davon noch Albträume.
Richtig so. Dann bist du auf das vorbereitet, was dir bevorsteht. In vieler Hinsicht wird die neue Welt nämlich ein Albtraum sein.