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Ein alter Freund bezeichnet mich als Kakerlake
A ls ich meine Augen wieder öffnete und Edwins Gesicht sah, ging ich davon aus, dass ich träumte.
Also schloss ich sie wieder und versuchte, in einen Schlaf zu versinken, der keine Träume mit sich brachte. Und auch keine hämmernden Kopfschmerzen. Aber dann merkte ich, dass ich auf einem harten, klumpigen Bett lag. Ich nahm einen muffigen, unangenehmen Geruch wahr. Und Edwins Gesicht hatte sich hinter rostigen Gitterstäben befunden.
Saß er in einer Gefängniszelle? Hatten wir ihn gefangen genommen? Was war auf dem Friedhof passiert? Ging es meinen Freunden gut?
Ich wollte meine Augen nicht wieder öffnen – ich war noch immer zu benommen, um meiner Wahrnehmung zu trauen.
Wo bist du?, rief ich Aderlass in Gedanken. Was ist passiert?
Meine magische Axt gab keine Antwort. Na super, wenn ich meine Axt, die sonst nie die Klappe hielt, ausnahmsweise einmal brauchte, dann blieb sie stumm. In meinem Kopf gab es nur Stille und in der wirklichen Welt ein leises Schlurfen von Füßen über Beton.
Ich schlief nicht, und ich konnte mir auch nicht mehr einreden, dass das der Fall wäre.
Also machte ich die Augen schließlich doch wieder auf.
Und da war Edwins lächelndes Gesicht, noch immer hinter Gitterstäben.
»Hallo, Greg«, sagte er. »Es ist richtig schön, dich wiederzusehen.«
Wären nicht diese Kopfschmerzen gewesen, dann hätte ich mir eine Ohrfeige verpasst, um herauszufinden, ob das ein Traum war. War es wirklich möglich, dass ich jetzt hier war und meinen ehemals besten Freund ansah? Und hatte er wirklich gerade gesagt, es sei schön, mich zu sehen? Es hatte ehrlich geklungen. Aber wie konnte er in einem Gefängnis so guter Laune sein? Ich setzte mich langsam auf und schaute mich um, und dann ging mir auf, dass nicht Edwin im Gefängnis saß.
Sondern ich.
Meine Zelle war winzig und hatte verdreckte Wände, von denen schon vor langer Zeit der cremefarbene und grüne Anstrich abgeblättert war. Die Einrichtung bestand nur aus einer schmalen harten Pritsche, auf der ich lag, einem an der Wand befestigten Tischchen gleich daneben und einer alten Toilette in der Ecke. Irgendwo in der Nähe fielen träge Wassertropfen zu Boden.
Sonnenschein bemalte den Boden in dem breiten Gang hinter Edwins lächelndem Gesicht.
Irgendwo in der Nähe krächzten riesige Vögel.
Ich war also nicht im Untergrund.
Meine Gedanken wirbelten wild durcheinander. Bedeutete das, dass Edwin doch der Anführer dieser Elfengruppe in New Orleans war? So musste es sein – mein Gehirn konnte keine andere vernünftige Erklärung finden. Aber mein dröhnender Schädel und meine nebligen Erinnerungen deuteten darauf hin, dass mein Gehirn derzeit nicht so richtig funktionierte.
»Willst du gar nichts sagen?«, fragte Edwin. »Vielleicht bist du noch total durcheinander von diesem Schlag, der dich am Hinterkopf getroffen hat. Der war ganz schön hart, habe ich gehört. Ein Mensch hätte den nicht überlebt. Aber ihr Zwerge habt stabile Knochen. Ihr seid wie Kakerlaken mit hartem Panzer.«
»Wo sind meine Freunde?«, fragte ich endlich mit heiserer Stimme.
Edwin zeigte auf ein Glas Wasser auf dem kleinen Tisch neben der quietschenden Pritsche. »Du hast sicher Hunger. Und bist total erschöpft. Ich lass dir etwas zu essen bringen, und wenn du dann wieder bei Verstand bist, können wir reden, Greg. Es überrascht dich vielleicht, aber du hast mir wirklich gefehlt. Du warst einmal mein bester Freund, ob du es glaubst oder nicht. Wie auch immer …«
Er drehte sich um und lief davon, als wäre es gefährlich, noch länger bei mir zu bleiben.
»Warte …«, versuchte ich zu rufen, denn ich hatte so viele Fragen, aber meine Stimme war nur ein heiseres Krächzen und kaum lauter als ein Flüstern.
Er war schon verschwunden.
Ich schloss die Augen und ließ mich wieder auf die Pritsche sinken. Mein Kopf dröhnte vor Schmerz. Der Hinterkopf fühlte sich an, als hätte ich dort eine Wunde. Ich fuhr mir mit den Fingerspitzen über den Schädel. Meine Haare waren verklebt von getrocknetem Blut.
Aderlass?, fragte ich noch einmal. Carl? Wo steckst du?
Schweigen.
Entfernung war bei unserem telepathischen Kontakt noch nie ein Thema gewesen. Aber ich hatte mich seit unserer ersten Begegnung auch nie weiter als fünf oder sechs Meilen von meiner Axt entfernt. Wie weit entfernt war ich also jetzt? Wo war ich? Wo war die Axt? War mit Aderlass alles in Ordnung? Es kam mir absurd vor, mir um das Wohlergehen einer Axt Sorgen zu machen. Vor allem, da ich noch immer nicht wusste, was mit meinen Freunden passiert war. Was überhaupt passiert war.
Carl, sag mir, dass es allen gut geht. Was ist passiert? Warum antwortest du nicht?
Da lag ich nun in meiner Zelle und wartete auf eine Antwort.
Aber es gab nur Stille.