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Ich werde wie ein Hund Gassi geführt (allerdings ohne Leine)
I rgendwann an meinem dritten oder vierten Tag in Gefangenschaft tauchte vor meiner Zellentür eine Elfe in ungefähr meinem Alter auf.
»Ich soll mit dir … na ja, mal an die Luft gehen oder so«, sagte sie verlegen. »Nicht, dass du ein Haustier wärst oder so …«
Ich musste tatsächlich lachen. Weniger, weil es witzig war, dass sie mich mit einem Hund verglich, den sie Gassi führen sollte, sondern eher vor lauter Erleichterung, dass zum ersten Mal seit Tagen ein anderes Lebewesen mit mir redete.
»Bitte«, sagte ich, stand von der Pritsche auf und ging auf die Gitterstäbe zu. »Ich möchte so gern mal hier raus. Von mir aus an der Leine, ist mir egal.«
Sie lachte nicht über meinen Witz, sondern trat einige Schritte zurück und hielt sich den Ärmel vors Gesicht.
»Äh, vielleicht lass ich dich zuerst von den Wachen in den Duschraum bringen«, sagte sie durch ihren Hemdärmel.
Nachdem ich geduscht hatte (in einem antiken und unheimlichen Gefängniswaschraum), wurden mir saubere Kleider gebracht. Ich zog Jeans und ein lila Star Wars- Sweatshirt mit einem Aufdruck an, der aussah wie aus den Siebzigerjahren.
Bald darauf kam die junge Elfe zurück. Sie hatte ihre langen dunklen Haare zu einem unordentlichen Knoten gebunden, aus dem etliche wilde Strähnen wie Tentakel herunterhingen, hatte hellbraune Haut und war groß, jedenfalls größer als ich. Sie trug eine enge grüne Hose und ein überdimensionales grünes Sweatshirt, das sie umhüllte wie ein Kleid. Irgendwie kam sie mir bekannt vor, aber ich wusste nicht so recht, wieso.
»Fertig?«, fragte sie.
»Rieche ich jetzt besser?«, fragte ich.
»Ein bisschen.«
Ich lachte, obwohl ich unsicher war, ob das wirklich ein Witz gewesen war. Die Zellentür sprang auf und die Elfe winkte mich zu sich heraus. Mir war fast schwindelig vor Aufregung, weil ich endlich meine Zelle verlassen konnte. Vielleicht hüpfte ich sogar etwas, als ich ihr durch die leeren Gänge des Gefängnisses folgte.
»Keine Wachen?«, fragte ich, als mir aufging, dass wir allein waren.
»Meinst du nicht, ich kann auf mich selbst aufpassen?«
»Das habe ich nicht gesagt …«
»Aber angedeutet«, sagte sie mit vielsagendem Grinsen. »Außerdem, sagen wir, du greifst mich an und kannst mich besiegen und abhauen. Wohin fliehst du dann? Wir sind hier auf einer Insel.«
Ich zuckte mit den Schultern. Sie hatte nicht ganz unrecht.
Wir gingen weiter und kamen durch einen Raum, in dem einige Elfen ihre Bogensehnen spannten. Sie schauten kurz auf und wirkten bei meinem Anblick eher überrascht als abgestoßen oder wütend.
Endlich waren wir draußen auf der Gefängnisinsel. An den Wanderwegen aus Beton gab es Sockel mit historischen Informationstafeln für die Touristen, die zu der berühmten Insel anscheinend keinen Zutritt mehr hatten.
»Und wohin jetzt?«, fragte ich.
»Entscheide du«, sagte die Elfe. »Das hier ist dein Freigang.«
Ich schaute mich um. Auf dem alten Gefängnisdach waren mehrere Elfenwachen postiert. Andere liefen zielstrebig durch das Gelände, auf dem Weg von oder zu einer Besprechung, als ob sie alle mit etwas Wichtigem beschäftigt wären. Und nach allem, was Edwin gesagt hatte, waren sie auch mit etwas Wichtigem beschäftigt: die Magie von der Erde zu vertreiben.
Einige der vorübergehenden Elfen starrten mich an. Manche verzogen das Gesicht oder schnitten Grimassen. Aber die meisten beschränkten sich auf einen neugierigen Blick.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte ich schließlich. »Oder darf ich das nicht fragen?«
Sie lachte. Es klang melodisch, fast wie von einem seltsamen Instrument, das noch erfunden werden musste.
»Warum solltest du das nicht dürfen?«, fragte sie zurück.
»Na ja, ich dachte, weil ich ein Gefangener bin oder so.«
»Das heißt ja nicht, dass Höflichkeit und Anstand aufhören«, sagte sie. »Lixiss Lurora.«
»Hä?«
»So heiße ich«, sagte sie. »Meine Freunde nennen mich Lixi. Aber du kannst mich Eure Elfische Hoheit die große und strahlende Prinzessin Lurora nennen. Bis auf Weiteres.«
Alles, was sie sagte, hatte einen ironischen Unterton – als ob sie sich die ganze Zeit über sich selbst lustig machte (und über mich). Als ob ich nichts wörtlich nehmen dürfte. Es war vollkommen ungewohnt, nachdem ich in den vergangenen Monaten fast nur mit Zwergen zusammen gewesen war – Zwergen, die kaum zu irgendwelchen Untertönen fähig waren, im Guten wie im Bösen.
»Äh, na gut. Weißt du meinen Namen?«
»Wieso, glaubst du, du bist berühmt oder so?«, fragte sie. Wieder machte sie sich mit einem Grinsen über mich lustig, statt beleidigt zu sein.
»Na ja, irgendwie schon«, sagte ich. Schließlich hatte ich kürzlich entdeckt, dass ich wirklich berühmt war (in Zwergenkreisen jedenfalls). »Als einziger Gefangener in diesem riesigen Gefängnis bin ich doch eindeutig etwas Besonderes!«
»Komm schon, Greg«, sagte Lixi trocken. »Du hast nur eine Stunde, also setz dich lieber in Bewegung, wenn du dir die Füße vertreten willst.«
Ich befolgte ihren Rat und ging drauflos. Da ich noch nie auf Alcatraz gewesen war (oder überhaupt an der Westküste), wusste ich nicht, wohin. Deshalb wanderte ich ziellos am Rand des Gefängnisgeländes entlang und sog die Sonne, den Anblick der Bucht und die frische Meeresbrise in mich auf. Ich genoss es einfach, mich durch einen Raum bewegen zu können, der größer war als eine Besenkammer.
Lixi ließ mich den ersten Teil meines Ausgangs schweigend genießen, abgesehen von den Geräuschen der Vögel und Wellen.
»Also, Eure Elfische Hoheit die große und strahlende Prinzessin Lurora«, sagte ich, als wir auf den alten Exerzierhof des Gefängnisses kamen, und drehte mich zu ihr um. Sie lachte, weil ich ihren »vollständigen Namen« benutzte, aber korrigierte mich auch nicht. »Wieso bist du zum Babysitten abkommandiert worden?«
»Was, wenn ich mich freiwillig gemeldet habe?«, fragte sie.
Meine Wangen wurden heiß und ich wandte mich ab.
»Natürlich habe ich das nicht«, sagte sie nun und sofort kam ich mir blöd vor, weil ich mich kurz geschmeichelt gefühlt hatte. »Edwin hat mich um einen Gefallen gebeten. Hat gesagt, ich wäre am besten geeignet, weil wir uns schon kennen.«
»Was soll das heißen?«, fragte ich.
»Du erinnerst dich noch immer nicht, oder?«, fragte Lixi und schüttelte den Kopf. »Du bist wirklich so begriffsstutzig, wie Edwin behauptet hat.«
»Ich kapier das nicht, kenne ich dich?«, fragte ich. »Ich meine, du kommst mir irgendwie bekannt vor, aber …«
»Edwin hat immer gesagt, es würde dich total fertigmachen, dass niemand an der PISS dich leiden kann«, sagte sie. »Er hat erzählt, du hast dich deshalb nie beklagt, das sei nicht deine Art, aber er wusste, dass es dir zu schaffen machte. Und er hat immer gesagt, dass du viel mehr Freunde haben könntest, wenn du dir ein bisschen Mühe gäbst. Statt davon auszugehen, dass wir dich alle hassten, hättest du mal mit Leuten aus der Klasse sprechen können, die dich angelächelt haben, oder zumindest nicht wegschauten, wenn es zu Blickkontakt kam … Ohne deine zwergischen Minderwertigkeitskomplexe hättest du fast so beliebt sein können wie Edwin.«
Ich starrte sie stumm vor Verblüffung an. Es stimmte, Edwin hatte mir das die ganze Zeit auf die eine oder andere Weise gesagt. Aber er hatte doch sicher gesehen, was passiert war, wenn ich einen seltenen Versuch unternommen hatte. Ich war einfach von Natur aus nicht so liebenswert wie Edwin – und damit konnte ich sehr gut leben. Wir können nicht alle so charismatisch sein; dann wäre die Welt unerträglich. Ich hatte immer angenommen, dass er mir das alles nur sagte, um nett zu sein und mich zu unterstützen, und nicht, weil er es wirklich ernst meinte.
»Greg, du hast mich ein ganzes Schuljahr lang jeden Tag gesehen«, erklärte Lixi endlich. »Ich war in der sechsten Klasse an der PISS in deinem Englischkurs. Scharfe Soße war unser Lehrer, weißt du noch? Er konnte dich und deine witzigen Sprüche nicht ausstehen. Aber ich habe über all deine lahmen Witze gelacht. Und zwar als Einzige.«
Und nun ging es mir auf.
»Oh Mann«, sagte ich. »Da liefst du unter dem Namen Alexis, oder?«
Lixi lächelte sarkastisch und rahmte ihr Gesicht mit ihren Händen ein.
»Ich dachte immer, du lachst über mich«, sagte ich. »Und nicht über meine Witze. Ich dachte, du hasst mich. Und hältst mich für einen fetten, albernen Nerd, der sich in den Vordergrund spielen will.«
»Das warst du ja auch«, sagte Lixi. »Aber das hat mir gefallen. Es war witzig. Deine tiefsitzende Unfähigkeit, auch nur annähernd cool zu wirken, war irgendwie … süß. Und das haben mehr Leute so gesehen, als dir wahrscheinlich bewusst ist.«
Ich seufzte.
Stimmte das wirklich? Oder war das ein elfischer Manipulationstrick? Jemandem das Gefühl zu geben, er wird gemocht, um dann zum Todesstoß anzusetzen, wenn er sich öffnet? Lixi schien mir ehrlich zu sein, aber das würde bedeuten, dass alles, was meiner Meinung nach meine Existenz an der PISS ausgemacht hatte, falsch war. Es würde bedeuten, dass meine gesamten zweieinhalb Jahre vielleicht ganz anders waren. Es würde meine Erinnerungen infrage stellen.
Und sie könnte tatsächlich recht haben.
Meine Erinnerungen an die PISS könnten durchaus irreführend sein. Wenn ich meine Erfahrungen damals anders gedeutet hätte, weniger zynisch, wie jemand, der hofft, Freunde zu finden, und nicht wie jemand, der ohnehin sicher ist, dass alle ihn hassen (oder ihn jedenfalls für einen Obertrottel halten), hätte ich dann eine andere Realität sehen können? Vielleicht hätte ich die ganze Zeit viel mehr Freunde haben können?
Ich hatte mit der Einstellung eines echten Zwergs an der PISS angefangen.
Wenn ich mehr so gedacht hätte wie Edwin oder wie mein Dad …
»Mann«, sagte ich.
»Das musst du jetzt erst mal verdauen, was?«, fragte Lixi mit einem Lächeln, das gleichermaßen Mitgefühl und Triumph zeigte. »Ich kenne eine Menge Leute, die gern mit dir und Edwin abgehangen hätten. Und mit euch den komischen Kram gemacht hätten, den ihr so gemacht habt. Sogar mit euch Schach gespielt. Einer hat mal versucht, einen Schachclub zu gründen, in der Hoffnung, dass ihr dann eintretet.«
»Echt? Davon hatte ich keine Ahnung.«
Lixi nickte. »Weil sie zu viel Schiss hatten, um euch direkt zu fragen. Sie dachten, ihr findet sie zu … normal oder so. Zu normal für euch zwei geniale Nerds. Und dass du irgendwie etwas Besseres wärst als sie, weil du clever genug warst, um ein Stipendium für die PISS zu ergattern. Weil sie ihre Leistungen nicht erarbeitet haben, sondern nur durch das Geld ihrer Eltern dort sind.«
»Ich …« Ich war sprachlos. Hatte ich an der PISS wirklich einen solchen Eindruck gemacht? Hatten mein Frust durch ein paar Mobbing-Erfahrungen und meine zwergischen Tendenzen mich wirklich hochnäsig und überlegen wirken lassen? War ich verbittert gewesen, weil ich die anderen nur als verwöhnte reiche Gören sah, und hatte mich das blind gemacht dafür, wie sie wirklich waren? Edwin hatte immer versucht, mich mehr mit seinen anderen Freunden zusammenzubringen. Und ich hatte fast jedes Mal abgelehnt. Die wenigen Male, wenn ich etwas mit ihnen unternommen hatte, war ich sofort ausgestiegen, sowie jemand über mich zu lachen schien. Aber was, wenn sie mich angelacht hatten, so wie Edwin das ja auch machte?
Wenn ich schon bei einer so einfachen Angelegenheit wie meiner Rolle in der Schule unsicher war, wie sollte ich mich dann noch auf irgendetwas verlassen, was ich glaubte? Ich hatte noch nie dermaßen an mir gezweifelt, und es war beängstigend. Wenn wirklich stimmte, was Lixi über mich an der PISS sagte, dann eröffnete das eine überaus erschreckende Möglichkeit:
Was, wenn ich mich in jeder Hinsicht irrte?