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Es ist irgendwie peinlich, eine Freundin zu bitten, dir beim Ertränken eines anderen Freundes zu helfen
E agan lag schwer verletzt (und vielleicht sterbend) an einem seichten Hang ein Stück entfernt von den eigentlichen Kampfhandlungen und den Gefängnisgebäuden.
Ich hockte bei ihm und wartete, während meine Freunde auf uns zugerannt kamen. Mein Herz machte einen Sprung, als ich hinter ihnen Stoney sah, der ein paar letzte Kobolde beiseitewarf wie tote Blätter. Er war unversehrt! Als ich ihn zuletzt gesehen hatte, war er unter einer eingestürzten Gefängnismauer lebendig begraben worden.
Aber ein rascher Blick zurück zu Eagan machte jegliche Erleichterung zunichte. Ari sah ebenfalls sofort, wie ernst die Lage war. Sie blutete selbst aus mehreren Wunden, die ziemlich schwerwiegend aussahen, aber darauf achtete sie nicht.
»Wir müssen ihn hier rausschaffen und zu einem Arzt bringen«, sagte sie. »Unser Boot liegt da unten.«
Ich nickte.
»Stoney, kannst du ihn tragen?« Ich zeigte auf Eagan.
Der Felstroll, der aus einer Kopfwunde blutete, nickte feierlich. Sein Blut war dick und grau wie klumpige Wandfarbe.
»Vorsichtig«, sagte Glam, als Stoney sich hinkniete, um Eagan aufzuheben, und ihr schmutziges, zerschrammtes Gesicht war vor Sorge verzerrt.
»STONEY ERKENNT GRAVIERENDE TRAUMATA«, donnerte der Felstroll und hob unseren bewegungslosen Freund mit einer Hand hoch, als ob er manierlich eine Tasse Tee zum Mund führte.
Ein Teil von mir wollte noch immer weiterkämpfen, wollte Edwin und seine Leute den Kampf gegen VG und die Monsterarmee nicht allein ausfechten lassen. Aber ich wusste auch, dass ich hier wegmusste. Und wenn wir blieben, um zu helfen, was würde dann am Ende passieren? Egal, wer den Sieg davontrug, wir würden in einer ziemlich verzwickten Lage ein. Außerdem musste der Rat auf den neuesten Stand gebracht werden – ich hatte schließlich so einiges darüber herausgefunden, was die Zukunft mit sich bringen würde.
Also schwieg ich und folgte Ari, Lake, Glam, Froggy, den vier NOLA-Zwergen und Stoney (der Eagan trug) hinab zu einer versteckten Stelle unter den riesigen Anlegern, wo ein großer Schlepper vertäut war. Zwei kräftige Paddel von Baumgröße lehnten an der Kajütenwand. Stoney legte Eagan im Heck auf eine Plane. Dann packte er die Paddel und ließ sich mitten auf dem Schlepper nieder, bereit, uns wegzubringen.
Wir konnten den Motor nicht benutzen; offenbar war eine riesige Welle aus Magie über diese Gegend hereingebrochen und hatte ihn lahmgelegt.
Ehe wir das Tau kappten, rief mir eine Stimme zu:
Äh, hast du nicht irgendwas vergessen, du Abweichler?
Ich schaute am Ufer hoch. Ein blaues Leuchten auf den Felsen über uns fing meinen Blick ein.
Aderlass.
Ein Teil von mir wollte ihn einfach dort liegen lassen. Aber das wäre verantwortungslos gewesen. Er war zu mächtig, um ihn einfach auf einer von Elfen besetzten Insel zu vergessen. Ich sprang aus dem Boot, rannte zu den Felsen und packte ihn, und meine Hand schloss sich um den Griff, als ob sie dorthin gehörte. Es war fast, als ob mir ein Glied gefehlt hätte und ich das erst jetzt merkte. Was alles noch enttäuschender und herzzerreißender machte, denn ich wusste, was ich zu tun hatte.
Eine Sekunde lang hab ich tatsächlich geglaubt, du würdest mich zurücklassen, Greggdroule! Und das nach allem, was ich für dich getan habe!
Ich antwortete nicht, als ich zum Boot zurückrannte, das Tau löste und den anderen half, uns vom Ufer abzustoßen. Der große Schlepper war mit zehn Zwergen und einem riesigen Felstroll fast schon überladen. Das Wasser stand nur einige Fingerbreit unter dem Seitendeck.
Stoney nahm den meisten Raum ein, wie er da in der Mitte saß und die riesigen, improvisierten Ruder betätigte, die offenbar aus einer Werbetafel für etwas namens Trick Dog fabriziert worden waren.
Als wir uns schweigend von der Insel entfernten, hatten wir einen guten Blick auf den noch immer anhaltenden Kampf. Vom Wasser aus, vor dem düsteren Hintergrund des stürmischen Himmels, sah er – ähm – magisch aus. Es wäre atemberaubend schön gewesen, wenn ich nicht gewusst hätte, was für entsetzliche Dinge sich dort oben abspielten.
Und so war es einfach nur atemberaubend.
Hunderte von Harpyien und Flugdrachen jagten wie schwarze Schatten über den Himmel und ihre Glieder und Flügel waren nur dann zu erkennen, wenn in den Wolken hinter ihnen Blitze zuckten. Vom Gefängnisgelände wurde gelbe, grüne und blaue magische Energie auf sie abgeschossen und illuminierte den Himmel wie ein teures Feuerwerk.
Unten auf der Insel leuchteten weitere Blitze aus Magie und Feuer, und auch im Inneren der Gebäude waren durch die wenigen Fenster welche zu sehen. Eine Explosion erschütterte die Insel und ich fragte mich, wie lange es noch dauern würde, bis die Polizei der modernen Welt eintraf. Hätte die nicht schon längst hier sein müssen? Der Kampf tobte nun seit mindestens einer Stunde. Warum reagierten die Menschen nicht?
War es mit der modernen Welt wirklich schon so weit gekommen?
Ich war seit Wochen von allem abgeschnitten gewesen, deshalb hatte ich einfach keine Ahnung.
Aber für den Moment spielte das für mich keine Rolle. Während Stoney uns immer weiter von der Insel und von der gewaltigen Schlacht wegruderte, die vielleicht das Ende meines ehemals besten Freundes bedeuten würde, dachte ich nur daran, was ich nun tun musste, hier und jetzt. Es war nichts, was ich gern tat. Doch es musste einfach sein. Um meinetwillen. Und vielleicht auch für die ganze Welt.
Tu es nicht, Greggdroule, bettelte Aderlass. Das darfst du nicht!
Ich muss, dachte ich zurück. Das weiß ich jetzt.
Aber wir sind so ein gutes Team, vorhin hast du das doch gesehen. Im Kampf waren wir zwei nicht aufzuhalten. Wir sind eine mächtige Kraft, die alles ändern könnte. Die den Krieg gewinnen könnte. Die Legenden sagen das doch voraus. Du und ich, wir sind die Legende. Die Legende von Greg und Carl. Du erfüllst mein Schicksal. UNSER Schicksal.
Du irrst dich, dachte ich zurück. Es ist nicht mein Schicksal, die Elfen zu besiegen. Das weiß ich jetzt. Ich habe überhaupt kein Schicksal. Zusammen bringen wir nur Gewalttätigkeit und Finsternis hervor. Du bist eher wie ein Fluch.
Und was hast du vor? Hä? Sie zum Tee einladen? Diese Armee aus VG-Elfen und Monstern zu einer Abendgesellschaft in den Untergrund bitten, bei der dann Avocadoschnittchen serviert werden und ihr höflich über eure unterschiedlichen Ansichten diskutiert und Scherze macht? Ohne mich werden sie euch in Stücke reißen, Greggdroule. Euch alle. Ich bin zum Retter der Zwerge in ihrer finstersten Stunde bestimmt. Und das hier kommt mir vor, als wäre diese Stunde gekommen, oder etwa nicht?
Ich hatte keine Antwort. Aderlass hatte gute Argumente, brachte aber auch eine Menge Probleme zur Sprache, ohne Lösungen vorzuschlagen. Diese Lösungen würde ich allein finden müssen.
Ohne meine Axt.
»Ari, du musst etwas für mich tun«, sagte ich endlich, um das düstere Schweigen zu brechen. Ari sah mich an, müde und misstrauisch. »Nimm mir Aderlass aus der Hand und wirf ihn in die Bucht.«