Kapitel 3
G leißender Sonnenschein fiel auf Darias Kopfkissen und die Helligkeit verwob sich mit ihrem wirren Traum. Sie fuhr erschrocken hoch. Doch es war nicht die Sonne, die sie so früh am Morgen geweckt hatte. Es war der schrille Schrei ihrer Mutter, der sie aus dem Schlaf gerissen hatte.
Irgendetwas Schlimmes war passiert. Darias Herz raste, als sie hastig aufstand und erst einmal über die Schulsachen stolperte, die sie gestern Abend achtlos neben das Bett hatte fallen lassen. Bis tief in die Nacht hinein hatte sie versucht, die Kurvendiskussion zu lösen. Aber es war bei dem Versuch geblieben. Mehr als ein Drittel der Aufgaben hatte sie wieder einmal nicht geschafft.
Doch nichts interessierte sie jetzt weniger als Mathe. Daria hastete weiter zur Tür. Was war nur los? Sie riss ihre Zimmertür auf und hörte, wie ihre Mutter schluchzte. Das Geräusch ließ etwas tief in ihr erbeben. Oh nein! Darias Körper fühlte sich eiskalt an. Seit Daria denken konnte, hatte sie ihre Mutter noch nie weinen gesehen.
Nicht, als Urgroßmutter Helga gestorben war, und auch nicht, als ihre eigenen Eltern mit dem von Oma Helga geerbten Geld zwei Wochen später ein neues Haus in Südspanien gekauft hatten und ihre Tochter mitsamt dem alten Haus und all den Problemen in Fresienstein alleingelassen hatten.
Ihre Mutter hatte alles mit stoischer Ruhe hingenommen. Sie hatte immer gesagt, dass sie schon einen Weg finden würden, und sie hatte recht behalten.
Daria stolperte und wäre beinahe die breite Wendeltreppe hinabgestürzt. In letzter Sekunde konnte sie sich am Geländer festhalten. Das Holz fühlte sich glatt und kühl an. Das vertraute Gefühl bremste Darias Eile. Etwas langsamer lief sie weiter. Sie würde ihrer Mutter keine große Hilfe sein, wenn sie mit gebrochenen Knochen unten im Flur landete.
Das Schluchzen kam aus der Küche. Daria bog nach rechts ab und drückte die Küchentür auf. Sie hatte Angst, was sie jetzt zu sehen bekam. Hatte ihre Mutter erfahren, dass sie schwer krank war? Waren ihre Eltern gestorben, ohne dass sie sich noch von ihnen hätte verabschieden können, oder hatte sich Darias Vater gemeldet und wollte plötzlich das alleinige Sorgerecht für seine Tochter beantragen?
Die Tür schwang auf und mit schweren Schritten betrat Daria die Küche. Vorsichtig sah sie sich um. Ihre Mutter stand neben dem Küchentisch. Ihre Tasse Kaffee stand unberührt auf ihrem Platz. Neben dem Fresiensteiner Wochenblatt lag ein geöffneter Briefumschlag. Ein Brief am Sonntag? Das war seltsam. Aber noch viel schlimmer war der Anblick ihrer Mutter.
Sie stand von Weinkrämpfen geschüttelt neben dem Tisch. In den Händen hielt sie einen Brief. Sie starrte ihn ungläubig an und schluchzte so heftig, dass Daria von einer unerträglichen Angst ergriffen wurde. Langsam ging sie zu ihrer Mutter. Sie musste jetzt stark sein, ihre Mutter war schließlich immer für sie stark gewesen.
„Was ist passiert?“ Darias Stimme war leise. Trotz ihrer Angst war es ihr gelungen, ruhig zu sprechen.
Dennoch zuckte ihre Mutter zusammen. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass Daria hereingekommen war. Daria versuchte, auf dem Brief zu erkennen, welche Hiobsbotschaft angekommen war. Doch genau in diesem Moment ließ ihre Mutter den Brief sinken und wandte sich um.
Daria erschrak und die Angst vor dem, was geschehen war, wuchs ins Unermessliche. Ihre Hände fingen an zu zittern. Die Augen ihrer Mutter waren rot gerändert. Sie schluchzte immer noch so heftig, dass sogar ihre dunklen Locken zitterten. Doch gleichzeitig lachte sie.
Moment mal! Daria stutzte. Irgendetwas stimmte hier nicht.
„Was ist los?“ Darias Stimme klang, als wäre sie eingerostet und müsste dringend geölt werden.
Ihre Mutter sprang auf Daria zu und fiel ihr um den Hals. Daria keuchte erschrocken, während ihre Mutter sie fest an sich drückte, laut lachte, dann wieder weinte, schluchzte und ihr zum Schluss einen Kuss auf die Wange gab.
„Ich mache mir ernsthaft Sorgen“, sagte Daria etwas lauter. „Sag mir bitte endlich, was los ist. Was stand in dem Brief?“
Ihre Mutter strahlte sie an und holte tief Luft. Das Schluchzen war verebbt. Sie trat einen Schritt zurück und hielt den Brief hoch, den sie immer noch fest umklammert hielt. Sie strich sich die dunklen Locken hinters Ohr und holte tief Luft.
„Ja?“ Daria sah sie erwartungsvoll an.
„Ich habe im Lotto gewonnen.“ Das Grinsen von Darias Mutter wurde breiter.
„Du spielst Lotto?“ Daria sah ihre Mutter ungläubig an. „Hattest du einen Dreier oder einen Vierer?“
„Nein, du verstehst mich nicht.“ Darias Mutter schüttelte heftig den Kopf. „Ich habe im Lotto gewonnen.“
„Wie meinst du das?“ Daria runzelte die Stirn. Nein, sie verstand wirklich überhaupt nicht, was gerade los war.
„Ich habe den Jackpot geknackt.“ Darias Mutter zog sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf sinken, als ob sie am Ende ihrer Kräfte angelangt war.
„Den Jackpot?“
„Ja, genau. Ich habe mich vor zwei Wochen für das Dauerspiel angemeldet.“
„Du?“ War das wirklich ihre sparsame Mutter, die da vor ihr saß und die normalerweise jeden Euro dreimal umdrehte, bevor sie ihn ausgab? Lotto? Und dann auch noch ein Dauerspiel?
Ihre Mutter sah sie entschuldigend an. „Es war so eine spontane Idee, weil meine Kollegin das auch gemacht hat und schon einmal etwas gewonnen hat. Ich wollte das Dauerspiel am Montag eigentlich schon wieder kündigen, aber jetzt kriege ich so einen Brief.“ Darias Mutter hatte hastig gesprochen, jetzt holte sie tief Luft.
„Wie viel?“ Daria krächzte die Worte. Mehr brachte sie gerade nicht zustande.
„Sechs Millionen.“ Die Stimme von Darias Mutter klang heiser und so als ob sie Mühe hatte, die Worte auszusprechen. Dann ging ein Leuchten über ihr Gesicht. Sie sprang auf und zog Daria lachend in ihre Arme. „Ich kann es nicht glauben, aber wenn das wirklich stimmt, dann bin ich endlich alle meine Sorgen los. Ich kann das Haus renovieren lassen und ich muss nicht wegziehen. Ich kann hierbleiben und du auch, wenn du willst. Wir müssen nicht weg. Wir können uns ein ganz neues Leben aufbauen. Du hast ja keine Ahnung, welche Last das von mir nimmt. Das hier ist meine Heimat und ich wollte hier nie weg. Und jetzt muss ich auch nicht.“ Darias Mutter lachte erneut. „Ich muss gleich auf meinem Konto nachsehen. Sie haben geschrieben, dass sie das Geld schon überwiesen haben.“ Darias Mutter hielt den Brief hoch. „Und dann rufe ich diese fürchterliche Frau Gremmer an und sage ihr, dass sie dieses Haus niemals bekommen wird. Oh, wie ich mich darauf freue. Wir können endlich das Dach reparieren lassen und dann die Außenfassade und die Tür. Es gibt so viel zu tun.“ Darias Mutter faltete den Brief ordentlich zusammen und lief dann in den Flur hinaus und ins Arbeitszimmer hinüber, wo ihr Laptop stand. „Ich bin gleich zurück, Schatz.“
„Ja, na klar.“ Daria murmelte die Worte und setzte sich dann auf den Stuhl ihrer Mutter. Sie brauchte noch einen Moment, um wirklich begreifen zu können, was gerade geschehen war. Sechs Millionen? Das war unfassbar viel Geld. Jetzt würde sich alles ändern. Ein lockerleichtes Gefühl begann sich in Darias Bauch auszubreiten. Es war ein glückliches Kitzeln, das mit jedem Moment stärker wurde. Daria begann zu grinsen.
Kein Wunder, dass ihre Mutter so heftig reagiert hatte.
Hoffentlich stimmte das auch mit dem Lottogewinn. Der Gedanke kam Daria in den Sinn, dass sich jemand einen Scherz mit ihnen erlaubt haben könnte. Schließlich war der Brief an einem Sonntag gekommen. Aber es war auch gut möglich, dass ihre Mutter gestern den Briefkasten nicht geleert hatte. Das vergaß sie regelmäßig. Daria sprang auf und lief in den Flur. Sie musste mit eigenen Augen sehen, wie der Kontostand ihrer Mutter war.
Sie war schon im Flur und lief auf das Arbeitszimmer zu, als sie ein leises Klingeln vernahm. Daria kam es seltsam vertraut vor. Mit etwas Verspätung begriff sie, dass es der Klingelton von ihrem Handy war. Doch das konnte eigentlich gar nicht sein.
Daria wechselte die Richtung und rannte die Treppe hinauf. Je näher sie ihrem Zimmer kam, umso lauter konnte sie ihr Handy hören. Sie hatte sich nicht verhört. Seit knapp einer Woche trocknete sie es nach allen Regeln der Kunst. Sie hatte es auseinandergebaut, in Reis gelegt, in Salz und auf die Heizung. Nun hatten ihre vielen Bemühungen doch noch Erfolg gezeigt. Daria legte einen letzten Sprint zu ihrem Schreibtisch ein. Auf dem Display erschien Esras Name. Sie nahm ab.
„Du glaubst nicht, was gerade passiert ist“, rief Daria ins Telefon.
„Deine Mutter hat im Lotto gewonnen und außerdem funktioniert dein Handy wieder, obwohl es eigentlich total im Arsch war.“ Esra klang kühl und distanziert.
Daria stockte der Atem.
„Und? Habe ich recht?“ Das Zittern in Esras Stimme machte Daria Angst.
„Ja, das stimmt“, hauchte sie. „Woher weißt du das?“ Erst jetzt fiel Daria ein, dass Esra ganz genau wusste, dass ihr Handy seit einer Woche kaputt war, und es eigentlich unmöglich war, dass es wieder funktionierte. Dennoch hatte sie heute Morgen angerufen.
„Keine Ahnung.“ Esras Stimme war ein kalter Hauch. „Ich weiß plötzlich so viele Sachen und das macht mir Angst. Zum Beispiel der Typ gestern, der dich gerettet hat, das ist Cedric Carter. Ich weiß zwar nicht, wo er herkommt, aber er lebt jetzt in Fresienstein und er wird noch für eine ganze Menge Ärger sorgen. Komm bitte her! Irgendetwas ist passiert und ich weiß nicht, mit wem ich sonst darüber reden soll.“
„Ich komme sofort.“ Daria legte auf, griff hastig nach ihrer Jeans und zog sie sich auf dem Weg zur Tür an. Dann rannte sie erneut mit einem kalten Gefühl im Bauch die Wendeltreppe hinab. Cedric Carter? Diesen Namen hatte sie noch nie gehört. Wo kam er her? Aus England? Aus Amerika? Was wollte er hier und warum würde er für eine ganze Menge Ärger sorgen?
„Das Geld ist da.“ Die Worte ihrer Mutter bremsten Darias Eile. Sie bog nach links in das Arbeitszimmer ihrer Mutter ein. Der große Raum war von Bücherregalen gesäumt, in denen sich die Bücher ihrer Urgroßeltern befanden. Sie hatten eine regelrechte Bibliothek angelegt. Esra war schon oft hier gewesen und hatte eine Menge der Bücher gelesen.
Ihre Mutter saß an dem großen Eichenholzschreibtisch vor dem Fenster. Eine weitflügelige Glastür führte von hier aus zu einer Terrasse. Ihre Urgroßmutter hatte gern dort draußen auf einer Liege gelegen und gelesen. Daria konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie oft bei ihr gesessen und ihren Geschichten gelauscht oder ihr dabei zugesehen hatte, wie sie Tagebuch schrieb. Die endlos vielen Bände standen noch immer im obersten Regal und Daria hatte sich nicht nur einmal vorgenommen, sie zu lesen. Doch es war bei dem guten Vorsatz geblieben. Für das Lesen hatte Daria einfach nichts übrig.
Der blasse Gesichtsausdruck ihrer Mutter erinnerte Daria ein wenig an Urgroßmutter Helga. Sie hatte dieselben braunen Augen besessen, an denen man jede Gefühlsregung ablesen konnte.
„Das Geld ist da“, wiederholte ihre Mutter mit monotoner Stimme und so als ob sie sich selbst davon überzeugen musste, dass das alles wirklich geschah.
Daria konnte nicht anders. Sie ging um den Schreibtisch herum. Dabei hörte sie jeden ihrer Schritte laut auf dem Parkett. Endlich stand sie hinter ihrer Mutter und blickte auf den Bildschirm des Computers. Die Zahlen verschwammen kurz vor ihren Augen und es dauerte einen Moment, bis sich Daria konzentrieren konnte.
Doch dann sah sie alles mit absoluter Klarheit. Dort stand der Name ihrer Mutter, Penelope Hellersheim, und neben dem Wort Guthaben befand sich eine sehr, sehr große Zahl. Die Lottogesellschaft hatte auf das Konto ihrer Mutter tatsächlich sechs Millionen Euro überwiesen. Daria zählte mehrmals die vielen Nullen.
Ganz langsam legte Daria eine Hand auf die Schulter ihrer Mutter, die unablässig murmelte, dass das Geld da wäre. „Beruhige dich, Mama.“
„Es ging mir nie besser.“ Mit einer schnellen Bewegung klappte Darias Mutter den alten Laptop zu. Plötzlich schien sie absolut klar und konzentriert zu sein. Dann griff sie zum Telefon. „Ich rufe jetzt Frau Gremmer an und dann gehe ich zu Helena. Wir haben eine Menge zu besprechen.“
„Das ist eine gute Idee.“ Daria war froh, dass ihre Mutter zu ihrer besten Freundin ging. Helena war die Geschäftsführerin des einzigen Bauunternehmens in Fresienstein und schon seit einer Ewigkeit mit Darias Mutter befreundet. Die beiden hatten oft darüber gesprochen, was man aus diesem Haus alles machen konnte, wenn man genügend Geld hatte.
Ihre Mutter hatte eine Visitenkarte aus dem obersten Schubfach des Schreibtisches genommen und gab eine Nummer ein.
„Ich gehe mal zu Esra rüber. Sie hat irgendein Problem, bei dem sie meine Hilfe braucht.“ Daria steuerte auf den Flur zu.
„Mach das, Schatz.“ Darias Mutter drehte die Visitenkarte zwischen den Fingern, während das Freizeichen ertönte. „Wir können ja dann zusammen mittagessen.“
„Bis dahin bin ich auf jeden Fall zurück.“ Daria lächelte ihrer Mutter zu und verließ dann das Arbeitszimmer, während ihre Mutter mit einer ihr ganz fremden Überlegenheit Frau Gremmer erklärte, dass sie sich nie im Leben von ihrem Haus trennen würde und dass sie es ja nicht noch einmal wagen sollte, ihre Tochter über den Haufen zu fahren.
Daria hielt kurz vor dem Spiegel im Flur an und kämmte sich schnell die Haare, dann schlang sie einen Haargummi um ihre wilden Locken, um sie wenigstens halbwegs zu bändigen. Sie griff nach ihrem Hoody und verließ das Haus.
Eine dünne Wolkendecke bedeckte den Himmel, als Daria die Auffahrt hinabschlenderte. Die Vögel zwitscherten laut und es versprach wieder ein schöner, warmer Tag zu werden.
In Darias Kopf herrschte immer noch ein völliges Durcheinander. Wieder und wieder ging sie die Ereignisse dieses Morgens durch und ganz langsam begriff sie, was dieser Lottogewinn bedeutete. Alles würde sich jetzt ändern, einfach alles, und zwar auf eine gute Weise. Daria lächelte. Sie konnte nichts dagegen tun, dass sich die Freude auf ihrem Gesicht ausbreitete. Grinsend erreichte sie die Rosenstraße und bog nach links ab.
Gemütlich schlenderte sie den Gehweg entlang. Ihre Gedanken beruhigten sich allmählich wieder, doch sie spürte deutlich, dass sie noch eine Weile brauchen würde, bis sie diese neue Normalität begriffen hatte.
Sicherlich würde sich nicht jeder darüber freuen, dass sie so ein Glück gehabt hatten. Auch in Fresienstein gab es viel Neid. Daria musste nur daran denken, wie Esra von manchen ihrer Mitschüler und Mitschülerinnen behandelt wurde. Die Bezeichnung als Streberin war da noch das Netteste, was Esra zu hören bekam. Besonders Elania und ihr Freund Marcello waren ein teuflisches Gespann, wenn es darum ging, andere zu quälen.
Doch es gab auch nette Menschen. Daria beruhigte sich mit dem Gedanken, dass diese hoffentlich in der Überzahl waren. Ein kühler Wind strich durch die leere Straße. So früh am Sonntagmorgen waren kaum Menschen unterwegs. Am anderen Ende der Straße erkannte Daria Herrn Grauland, der so wie jeden Morgen seine beiden Dackel ausführte, die auf die respekteinflößenden Namen Ares und Hades hörten. Herr Grauland war pensionierter Geschichtslehrer und hatte eine große Vorliebe für griechische Mythologie.
Daria bog zügig in die Uferstraße ein und legte einen Zahn zu. Herr Grauland war kein freundlicher Zeitgenosse und nutzte jede Gelegenheit, um auf die verdorbene Jugend zu schimpfen oder seinen Mitmenschen Episoden vom Olymp zu erzählen, und da geschah selten etwas Neues.
Endlich erreichte Daria das Gartentor, ohne dass Herr Grauland sie bemerkt hatte. Sie wollte schon nach der Klinke greifen, als die Tür aufschwang. Einen Moment erstarrte Daria und blickte das Gartentor ungläubig an. Das war jetzt einfach zu viel für den Moment. Erst der Lottogewinn und dann auch noch Esras seltsamer Anruf. Wenn die Gesetze der Physik jetzt auch noch außer Kraft gesetzt waren, dann hatte Daria wohl oder übel den Verstand verloren.
„Lass uns eine Runde gehen.“ Esra stand plötzlich vor Daria und in diesem Moment begriff Daria voller Erleichterung, dass ihre Freundin schon hinter der Gartentür auf sie gewartet hatte.
„Gern.“ Daria atmete aus. Dann musterte sie Esra und erschrak. Ihre Freundin hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sie sah aus, als ob sie die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, und nicht nur das. Esra war total nervös. Sie knetete ihre Hände, schob sich die Brille immer wieder ein Stück höher auf die Nase und kaute auf ihrer Unterlippe.
„Was ist los?“ Daria lief langsam neben Esra, die die Juulstraße eingeschlagen hatte.
Esra seufzte. „Mein Kopf ist voller Bilder.“
„Was für Bilder?“ Daria runzelte die Stirn, während sie versuchte zu begreifen, was mit Esra los war. „Wie meinst du das?“
„Ich sehe lauter Dinge, also Dinge, die noch geschehen werden.“ Esras Stimme war heiser.
Daria schwieg und presste die Lippen fest aufeinander. Das konnte Esra doch nicht ernst meinen?
„Ich habe gesehen, wie deine Mutter einen Brief von der Lottogesellschaft bekommt, und ich habe gesehen, dass dein Handy wieder funktioniert. Sonst hätte ich dich doch heute gar nicht angerufen.“
„Okay.“ Daria zog das Wort weit auseinander, um sich selbst Zeit zu geben, das alles auf sich wirken zu lassen. Sie beschloss, erst einmal nicht darauf zu beharren, dass das eigentlich alles nicht sein konnte. Das wusste Esra auch selbst. Doch es gab bestimmt eine logische Erklärung für das, was geschehen war. „War das alles?“
Esra schüttelte den Kopf. „Nein.“ Sie klang, als ob es sie eine Menge Kraft kostete, mit Daria zu sprechen.
„Was hast du denn noch gesehen?“
„Eine Menge Bildfetzen, die keinen Sinn ergeben haben.“ Esra seufzte. „Ich weiß, wie albern das klingt. Ich komme mir ja selbst total durchgedreht vor. Aber ich habe schon einen Verdacht, wie das alles zusammenhängen könnte.“
„Bist du sicher, dass es kein Traum war?“ Daria konnte sich nicht verkneifen, diese Möglichkeit zumindest zu erwähnen. Esra hatte eine lebhafte Fantasie und nach dem Beinahe-Unfall gestern war sie bestimmt immer noch total durcheinander.
„Ich habe heute Nacht kein Auge zugetan“, fauchte Esra. „Es kann kein Traum sein.“
„Schon gut.“ Daria hob abwehrend die Hände. „Was hast du für einen Verdacht?“
„Das verrate ich dir gleich.“ Esra hakte sich bei Daria ein. „Ich brauche erst noch einen letzten Beweis, damit ich weiß, dass ich nicht spinne.“
„Und der wäre?“
„Ich habe eine Sache ziemlich klar gesehen.“ Esra sah sich um, als ob sie befürchtete, dass ihnen jemand zuhörte. Doch zwischen der Apotheke und der Bibliothek war niemand unterwegs. „Es wird einen Unfall geben, und zwar genau um acht Uhr auf dem Marktplatz. Lea und Caspar werden in dem Auto sitzen. Und dieser Cedric Carter wird auch daran beteiligt sein.“
„Ernsthaft?“ Daria stutzte. Lea und Caspar gingen in Darias Klasse. Die beiden waren schon ein Paar, seitdem sie vierzehn Jahre alt waren, und außerdem gehörten sie zu Esras und Darias besten Freunden. Aber was wollte dieser Cedric hier?
„Henning und Rosie sind auch da.“ Esras Stimme wurde fester, als ob sie sich ihrer Sache absolut sicher war.
„Aber die vier wollten doch am Wochenende wegfahren, damit sie im Wochenendhaus von Leas Eltern ungestört lernen können.“ Daria war nicht mitgefahren, weil ihre Mutter Geburtstag hatte und sie außerdem mehr davon profitierte, wenn sie mit Esra lernte. Irgendwie kapierte sie Mathe dann schneller und besser, als wenn sie mit so vielen Leuten zusammensaß.
„Verdammt, ich habe den Geburtstag von meiner Mutter ganz vergessen.“ Daria fluchte und tastete an ihren Hals. Die Kette hing nicht mehr dort. Daria hatte sie gestern Abend noch schön verpackt und in einer Schreibtischschublade versteckt. Doch heute Morgen hatte sie völlig vergessen, ihrer Mutter zu gratulieren und ihr ihr Geschenk zu überreichen.
„Das kannst du doch später machen.“ Esra winkte ab, als ob der Geburtstag von Darias Mutter jetzt wirklich nicht wichtig war. „Jedenfalls habe ich gesehen, dass etwas geschieht, und wenn das wirklich passiert, dann ist das der endgültige Beweis für meine Theorie.“
„Ein Unfall?“ Daria kam das wirklich unwahrscheinlich vor. Lea, Rosie und Henning hatten noch keinen Führerschein. Sie wollten die Fahrprüfung erst nach dem Abi machen. Und Caspar war ein absolut vorbildlicher Fahrer. „Bist du sicher?“
„Nein, aber wir werden es ja sehen.“
„Du machst es ja wirklich spannend.“ Daria sah nach vorn, wo die Juulstraße in den Marktplatz mündete. Sie waren gleich da. Daria zog ihr Handy aus der Hosentasche. „Wir haben noch zehn Minuten Zeit.“
Esra nickte. „Genug Zeit, um sich einen guten Platz zu suchen. Ich brauche jetzt erst einmal einen Kaffee, um richtig wach zu werden. Komm, ich lade dich ein, auch wenn du es jetzt vermutlich gar nicht mehr nötig hast.“ Esra grinste ganz leicht und Daria nahm es erleichtert zur Kenntnis. Vielleicht war das alles nur ein riesiger Irrtum. Das musste so sein. Es waren alles nur ein paar Zufälle, die glücklich oder unglücklich zusammengekommen waren. Esra war vielleicht doch für ein paar Minuten eingenickt, ohne es zu merken, und dabei hatte sie von ihrem Handy und dem Lottogewinn geträumt, weil Geld und ihr Pech im Umgang mit elektronischen Geräten nun einmal Themen waren, über die sie in der letzten Zeit viel gesprochen hatten.
Der Eindruck, dass Esra auf dem Holzweg sein musste, wurde noch verstärkt, als sie den Marktplatz betraten und weder von ihren Freunden noch von diesem Cedric etwas zu sehen war. Sie schlenderten am Brunnen vorbei zu dem kleinen Café hinüber, das draußen auf dem Marktplatz Schirme und Tische aufgestellt hatte, um die ersten Frühstücksgäste zu begrüßen.
Esra und Daria suchten sich einen Platz, von dem aus sie den Marktplatz gut im Blick hatten. Dann bestellten sie sich zwei Tassen Milchkaffee. Als die Kellnerin gegangen war, räusperte sich Daria.
„Erzählst du mir von deiner Theorie?“ Sie sah ihre Freundin fragend an.
Esra schüttelte den Kopf. „Noch nicht.“ Sie warf einen Blick auf ihr Handy. Es war fünf Minuten vor acht Uhr. „Vielleicht ist das alles auch absoluter Blödsinn und ich will nicht, dass du mich für völlig durchgeknallt hältst.“ Esra seufzte.
„Das würde ich nie tun.“ Daria lächelte Esra aufmunternd zu. In diesem Moment brachte ihnen die Kellnerin ihren Kaffee. „Dann erzähle mir, was du von Cedric Carter weißt.“ Daria konnte nicht verhindern, dass sie Esra neugierig ansah.
„Nicht viel.“ Esra seufzte und trank einen Schluck Kaffee. „Außer, dass du besser einen Bogen um ihn machst. Er ist ein übler Typ.“
„Das glaube ich nicht. Er hat mir gestern geholfen. Warum soll ich einen Bogen um ihn machen?“ Daria hob ihre Tasse und sah Esra fragend über den Rand hinweg an. Ihre Einschätzung kam ziemlich unerwartet.
„Das erzähle ich dir vielleicht später.“ Esra sah unruhig über den Marktplatz hinweg und Daria wurde das ungute Gefühl nicht los, dass Esra vielleicht doch recht haben könnte. Ihre Sicherheit, dass Esra sich das alles eingebildet haben könnte, schwand und Daria wusste nicht einmal genau, warum.
Vielleicht lag es daran, wie überzeugt Esra war. Doch vielleicht war da noch etwas anderes. Ein übler Verdacht stieg in Daria auf. Es war mehr ein Gefühl, das sie schon seit dem Moment begleitete, in dem der Schrei ihrer Mutter sie geweckt hatte, und es wurde immer stärker. Doch das konnte nicht sein. Das war einfach unmöglich.
Daria nahm ihre Tasse und trank einen großen Schluck Kaffee. Bitter und heiß rann er ihre Kehle hinab und lenkte sie von dem Unbehagen ab. Daria wollte gerade einen weiteren Schluck Kaffee trinken, als sie plötzlich laute Motorengeräusche vernahm, die sich schnell näherten. Hastig stellte sie die Tasse ab.
Ein kalter Schauer lief ihren Rücken hinab, denn sie kannte das Geräusch, das gerade näher kam. Es war das Auto von Caspars Vater, ein uralter Geländewagen, in dem viel Platz war und der einen fürchterlichen Krach machte. Es gab keinen Zweifel.
Auch Esra hatte es gehört und wurde noch blasser. Doch sie zwinkerte nicht einmal, sondern stellte in aller Ruhe ihre Tasse Kaffee ab. Daria starrte auf den Marktplatz und in diesem Moment hörte sie ein weiteres Motorengeräusch. Es war ein tiefes Grollen und kam aus der anderen Richtung.
Es dauerte kaum fünf Sekunden und zwei Autos fuhren aus entgegengesetzter Richtung zügig auf den Marktplatz.
Der eine Wagen war tatsächlich der olivgrüne Geländewagen von Caspars Vater, der andere ein schwarzer Sportwagen, dessen tiefes Grollen über den ganzen Marktplatz dröhnte. Daria erstarrte. Sie kannte den Mann, der am Steuer saß. Es war Cedric Carter, der hübsche Kerl, der ihr gestern den schmerzhaften Zusammenprall mit dem Heck der Nobellimousine von Frau Gremmer erspart hatte. Es schien, als ob der Unfall, den er gestern verhindert hatte, nun doch noch stattfinden musste.
Die Autos waren beide zu schnell und das alte Kopfsteinpflaster schimmerte noch nass von der Nacht. Wusste Cedric nicht, was das zu bedeuten hatte? Er hatte doch gestern miterlebt, wie schnell man die Kontrolle über seinen Wagen verlieren konnte. Daria wollte am liebsten wegschauen, doch stattdessen starrte sie mit weit aufgerissenen Augen auf den Markt.
Plötzlich geschah alles in Zeitlupe. Daria hörte, wie die Bremsen der Autos blockierten, als sie den drohenden Zusammenstoß noch verhindern wollten. Sie sah Esras bleichen Gesichtsausdruck, die dem Geschehen mit einer geisterhaften Ruhe folgte. Sie erkannte Caspar, der am Steuer des Geländewagens saß und mit weit aufgerissenen Augen auf den schwarzen Sportwagen starrte, der für ihn aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schien.
Und da wusste Daria, dass sie irgendetwas tun musste. Die beiden Autos würden mit so viel Schwung aufeinanderkrachen, dass es garantiert Verletzte geben würde, und dieses Mal würde keiner von ihnen schnell genug sein, um die Tragödie zu verhindern. Daria war es Cedric schuldig, etwas zu tun.
Sie erkannte sein Gesicht und sah den Schreck in seinen Augen. Durch den ganzen Irrsinn hindurch hörte Daria Lea schreien und dieser Laut bohrte sich tief in ihr Herz. Leas hohe Stimme war unverwechselbar. Es war die pure Angst, die in diesem verzweifelten Laut lag. Sie wusste, dass sie der Kollision nicht mehr ausweichen konnten.
Mit einem Ruck sprang Daria auf und schrie: „Ich wünsche mir, dass niemand verletzt wird.“
Dann gab es einen lauten Knall und Daria wusste, dass sich ab heute einfach alles ändern würde.