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aria machte einen Schritt nach vorn und wollte Caspar und ihren Freunden zu Hilfe eilen. Es hatte verdammt laut gekracht. Die beiden Autos waren frontal aufeinander zugefahren. Doch sie waren nicht ineinander verkeilt. Die Autos mussten in letzter Sekunde aneinander vorbeigerutscht sein. Der Jeep von Caspars Vater war gegen den Laternenmast vor der Fleischerei geknallt. Cedrics Auto war mitten auf dem Marktplatz direkt neben dem Brunnen zum Stehen gekommen. Es hatte keinen Kratzer abbekommen. Esras Hand lag plötzlich auf der von Daria.
„Setz dich wieder“, sagte sie mit einer Strenge in der Stimme, die Daria nicht von ihr kannte. „Es ist keiner von ihnen verletzt. Der Jeep hat nur einen Blechschaden. Gut gemacht. Warte ab, was jetzt passiert.“
Daria starrte auf den Marktplatz und traute ihren Augen kaum. Was redete Esra da? Gut gemacht? Was sollte das heißen? Sie hatte doch gar nichts gemacht, oder? Und warum sollte sie warten? Worauf denn?
In diesem Moment flog auch schon die Tür des Geländewagens auf. Caspar sprang aus dem Auto und fuhr sich durch die wirren blonden Haare, die ihm in alle Richtungen vom Kopf abstanden. Er fluchte lautstark und lief um das Auto herum, um sich den Schaden anzusehen.
Esra hatte recht. Er war unverletzt. Genauso wie Lea, die gerade mit erschrockener Miene aus dem Auto stieg. Ihre kurzen, schwarzen Haare ließen ihr Gesicht noch blasser wirken. Dann stieg Rosie aus, deren karottenrote Mähne hell im Schein der Morgensonne leuchtete.
Sie warf Henning einen besorgten Blick zu, der seine Tür aufgerissen hatte und gähnte, als ob er gerade noch geschlafen hätte und von dem unsanften Aufprall wach geworden wäre. Mit etwas Verspätung schien Henning jetzt zu bemerken, dass sie einen Unfall gehabt hatten. Er stieg hastig aus und sah ungläubig zwischen Cedrics Auto und dem Jeep hin und her.
Caspar stand plötzlich neben Henning und erklärte ihm, was geschehen war. Er gestikulierte reichlich und zeigte hektisch auf die Friedhofsgasse, aus der Cedric gekommen war. Daraufhin färbte sich Hennings Gesicht unter den drahtigen, schwarzen Locken knallrot. Henning geriet schnell aus der Ruhe und obwohl er sich Mühe gab, sein Temperament zu zügeln, gelang ihm das nur selten. Er funkelte Cedric wütend an, der immer noch in seinem Auto saß und das Geschehen mit kühler Miene musterte. Daria hatte beinahe den Eindruck, als ob er auf etwas zu warten schien.
Dann machte Henning ein paar wütende Schritte auf Cedric zu. Er hatte die Hände in seine Seiten gestemmt. Rosie redete auf ihn ein und versuchte sich vor ihn zu stellen. Eigentlich schaffte sie es ziemlich oft, sein Temperament zu zügeln. Doch der Anblick des Jeeps, der mit der Straßenlaterne zusammengeknallt war, war wohl einfach zu viel für Henning. Keiner von ihnen hatte Geld und die Reparatur des Jeeps würde sicher teuer werden.
Henning schob Rosie und auch Caspar zur Seite. Lea stand immer noch stocksteif neben dem Auto und sah erschrocken dabei zu, wie Henning auf Cedric zulief. Er sah aus, als ob er ihn aus dem Auto zerren und verprügeln wollte.
Daria hielt die Luft an. Sie konnte nicht anders, als Cedric anzustarren. Was würde er jetzt tun? Würde er aussteigen und sich dem Kampf stellen? Oder würde er sich lieber in Sicherheit bringen? Henning war zwei Köpfe größer als Daria. Schon seit Jahren trainierte er mit seinen Hanteln und unterhielt sich gern und ausführlich mit jedem, der es hören wollte, über seine Trainingsfortschritte.
Doch Cedric schien Henning und die nahende Gefahr gar nicht zu bemerken. Er erwiderte Darias Blick. Das ungewöhnlich helle Grau seiner Augen schien regelrecht zu strahlen. Er sah sie durchdringend an, so als ob er sie das erste Mal wirklich wahrzunehmen schien. Gestern hatte er es eilig gehabt, zu verschwinden, doch jetzt fixierte er sie mit einer Ruhe, die Daria fast schon bedrohlich vorkam.
Erst jetzt fiel Daria auf, wie ungewöhnlich schön sein Gesicht war. Er war einer jener Menschen, die einen aus einem Katalog ansahen und die man niemals im Leben treffen würde, erst recht nicht in einem winzigen Ort wie Fresienstein. Der Schwung seiner Augenbrauen betonte die hohen Wangenknochen und selbst sein Kinn und seine Nase schienen wie aus Stein gemeißelt zu sein.
Sein ernster Blick unterstrich die markanten Linien in seinem Gesicht. Darias Herz machte einen Sprung und gleichzeitig spürte sie den Impuls, vor Cedric davonzulaufen. Henning kam immer näher. Warum sah Cedric sie immer noch an? Ahnte er etwas? Aber er konnte nicht wissen, was sie getan hatte. Das war einfach unmöglich.
Henning klopfte an die Scheibe von Cedrics Auto. Er drehte den Kopf zu ihm um und der Blickkontakt brach endlich ab. Daria holte tief Luft, während Cedric seine Fensterscheibe nach unten fahren ließ. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte.
Mit rotem Gesicht und lauter Stimme redete Henning auf Cedric ein. Der verzog keine Miene. Stattdessen griff er in die Innentasche seiner Jacke und zog ein Bündel Geldscheine hervor. Er drückte es Henning in die Hand. Der verdutzte Ausdruck auf seinem Gesicht sprach Bände. Henning starrte abwechselnd das Geld und dann Cedric an. Die Röte war aus seinem Gesicht verschwunden. Er öffnete den Mund, als ob er etwas sagen wollte. Dann schloss er ihn wieder und sah das Geld wieder an.
Cedric nickte Henning mit gelassener Miene zu, als ob alles gesagt war, was es zu diesem Thema zu besprechen gab. Dann ließ er seine Scheibe nach oben fahren, startete den Motor seines Sportwagens, der mit einem lauten Grollen wieder zum Leben erwachte. Er drückte aufs Gas und der Wagen schoss viel zu schnell über den Marktplatz davon. Dann war Cedric verschwunden und die Stille auf dem Marktplatz war beinahe unheimlich.
Daria ließ sich zurück auf ihren Stuhl sinken. Sie fühlte sich völlig erschöpft und spürte, wie Esra nach ihrer Hand tastete und sie beruhigend drückte. Das war auch bitter nötig. Daria verstand die Welt nicht mehr.
„Was ist da gerade passiert?“, fragte sie mit zitternder Stimme. Die Ereignisse waren kaum zu begreifen und unendlich viele Fragen schossen Daria in den Kopf. Was war mit Cedric los? Warum war er hier? Warum hatte er sie so angesehen? Sie kannte ihn doch gar nicht. Woher hatte Esra gewusst, dass das alles passieren würde?
Esra holte tief Luft. Daria wandte den Kopf und sah ihre Freundin an. Ihr Gesichtsausdruck sagte eigentlich schon alles. Daria wollte gar nicht wissen, was Esra ihr gleich erklären würde. Ein wenig hatte sie es schon geahnt. Schon seit heute Morgen. Doch wenn Esra es jetzt aussprach, dann wurde es zur Gewissheit, und Daria wusste nicht, ob sie das aushalten würde.
Schnell wandte sie ihren Blick ab, um den Moment hinauszuzögern. Sie sah über den Marktplatz hinweg. Caspar und Henning versuchten gerade, den Jeep wieder zu starten. Er sprang ohne Probleme an. Lea war wieder eingestiegen und es wirkte alles ziemlich normal. Nicht einmal die Straßenlaterne stand schief. Bis auf eine Delle an der Stoßstange des Jeeps war nichts geschehen. Daria konnte es immer noch nicht glauben. Sie ging in ihren Erinnerungen den Moment noch einmal durch, als die beiden Autos auf den Marktplatz geschossen waren. Und wieder kam sie zu dem Schluss, dass es unmöglich gewesen war, den Zusammenprall noch zu vermeiden.
„Du hast Caspar gerettet.“ Esras Stimme zerschnitt die Stille zwischen ihnen und lieferte Daria die Antwort, die sie nicht hatte hören wollen.
Daria nickte, obwohl ihr eher danach war, heftig den Kopf zu schütteln. Ihre Finger wurden kalt und eine nervöse Unruhe grub sich in ihren Magen. Doch es half nichts, wenn sie sich länger einredete, dass das alles nur ein Zufall war. Dafür waren seit gestern zu viele Zufälle geschehen.
Mit zitternden Fingern griff Daria nach ihrer Kaffeetasse. Sie musste irgendetwas Normales tun, damit sie nicht vor Angst schreiend davonlief. Sie nahm einen Schluck Kaffee und schluckte ihn, obwohl sie eigentlich nichts schmeckte. Mit zitternden Fingern stellte sie die Tasse wieder ab und holte tief Luft. So absurd diese Situation jetzt war, sie musste da jetzt durch.
Daria sah zu ihrer Hand hinab. „Es ist der Ring, nicht wahr?“ Der Nebelstein an dem Ring glänzte milchig hell. Aber etwas war anders. Sie runzelte die Stirn. Der Stein hatte sich verändert. Es war nur ein wenig, aber es fiel deutlich auf. Dunkle Striche zeichneten sich wie Adern auf der Oberfläche des Steines ab.
„Ja, es ist der Ring.“ Esra drückte Darias Hand, als ob sie sich an ihr festhalten wollte. Ihre Stimme war rau und zitterte. Sie schien sich bis zu diesem Moment zusammengerissen zu haben. Doch plötzlich wich die Kraft aus ihr. „Ich glaube, dass er dir deine Wünsche erfüllt.“
Daria presste die Lippen aufeinander, während sie Esras kalte Finger an ihrer Hand spürte. Esra ging es nicht gut und Daria fiel es schwer, ihr jetzt die Hilfe zu sein, die sie brauchte. Doch sie musste sich zusammenreißen, allein schon wegen Esra. Sie konnten jetzt nicht beide die Nerven verlieren.
„Du denkst also, dass dieser Ring wirklich meine Wünsche erfüllen kann?“ Daria versuchte ernst zu bleiben. Doch das war gar nicht so einfach. Ihre eigenen Worte klangen einfach nur absurd.
„Ja.“ Esra nickte und presste die Lippen fest aufeinander.
„Ganz ehrlich.“ Daria sah Esra fest in die Augen. „Glaubst du wirklich, dass dieser Ring Wünsche erfüllen kann? Das klingt doch alles wie aus einem Märchen. Können das nicht doch nur ein paar dumme Zufälle gewesen sein?“
Esra erwiderte Darias Blick, während ihr Griff um Darias Hand fester wurde. Eine ernste Miene schlich sich in ihr Gesicht. „Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass das alles nur ein Zufall ist. Aber es wäre dumm, weiter so zu tun, als ob alles normal wäre, wenn es das nicht ist.“ Esras Stimme klang weich und Daria merkte, wie ihre Freundin langsam wieder ihre Fassung zurückgewann.
„Aber es ist so …“ Daria versuchte ein passendes Wort zu finden.
„Unmöglich? Unbegreiflich? Unerträglich?“ Esra sah Daria fragend an.
„Ja, von allem ein bisschen.“ Daria sah wieder auf und ließ ihren Blick über den Marktplatz schweifen. Ein paar Leute standen neben Caspars Auto und betrachteten den Schaden. Der Krach hatte wohl Zuschauer angelockt.
Daria schloss einen Moment die Augen und zog eine ihrer schwarzen Locken aus ihrem Zopf. Dann drehte sie die Haarsträhne unruhig um ihren Finger. Das tat sie immer, wenn sie nervös war. Sie wäre gern zu Lea und Rosie hinübergegangen und hätte mit ihnen gesprochen. Wäre alles normal, dann hätte sie sich erkundigt, wie es ihnen ging und ob sie Hilfe brauchten. Doch im Moment war sie sich nicht sicher, ob sie einen vernünftigen Satz herausbringen würde. Sie starrte den Ring an und versuchte den Gedanken zuzulassen, dass er magische Kräfte besaß.
Daria ließ die Locke wieder fallen. Sie musste jetzt irgendwie damit klarkommen. Sie konnte ja nicht ewig hier sitzen. Das Leben musste weitergehen. Die mahnende Worte ihrer Mutter klangen ihr in den Ohren, dass Aufgeben keine Option war und dass sie besser nach vorn als zurück schauen sollte. In diesem Moment ließ Daria den Gedanken das erste Mal wirklich an sich heran, dass da an ihrer Hand ein Ring steckte, der ihre Wünsche erfüllen konnte.
Seitdem sie erfahren hatte, dass ihre Mutter im Lotto gewonnen hatte, war dieser Gedanke unbewusst in ihrer Nähe gewesen. Er war wie eine Vorahnung, derer sie sich gewahr war, die sie aber nicht zugelassen hatte, damit sie nicht zur Gewissheit werden konnte.
Daria starrte den Ring an. In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken im Kreis. Sie hatte Angst, und zwar so sehr wie noch nie. Doch gleichzeitig war da noch etwas anderes. Inmitten des Chaos in ihrem Kopf wurde sie sich einer Empfindung bewusst, die aus alldem herausstach.
Sie sah mit einem Mal zu Esra auf und ein breites Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Das ist doch eigentlich eine gute Sache, oder?“
Esra zuckte mit den Schultern, als ob ihr der Gedanke bis jetzt gar nicht gekommen wäre. Dann holte sie tief Luft.
Jetzt war es Daria, die Esras Hand drückte. „Ich erinnere mich daran, dass ich mir gestern gewünscht habe, dass du in die Zukunft sehen kannst. Ich meine, ich habe das nur so dahergesagt, aber ist es etwa passiert?“
Esra schluckte und sah zu Boden, dann nickte sie. „Ja, genau das muss passiert sein. Es gibt keine andere Erklärung für das, was mit mir seit gestern geschehen ist.“
„Gibt es keins deiner Bücher, in denen so etwas schon einmal passiert ist?“
„Doch, die gibt es, aber das waren doch nur Bücher.“ Esra schüttelte den Kopf, als ob Daria etwas wirklich Absurdes gesagt hätte.
„Bist das wirklich du, Esra?“ Daria sah ihre Freundin ungläubig an. Diese Worte konnten doch nicht ernsthaft aus ihrem Mund gekommen sein. Wer hatte Daria denn jahrelang von den vielen Abenteuern vorgeschwärmt, die man zwischen zwei Buchdeckeln erleben konnte. „Hast du dir nicht immer gewünscht, dass dir so etwas wie in deinen Büchern mal im wirklichen Leben passiert?“
„Ja, schon“, gab Esra zu und wirkte mit einem Mal unentschlossen.
„Dass es die Helden in deinen Büchern nicht leicht haben, wenn sie eine neue Fähigkeit bekommen, das weißt du doch. Du musst jetzt herausfinden, was du kannst und wie du deine neuen Fähigkeiten am besten benutzt. So geht das doch, oder?“
„Ähm, na ja, da hast du schon recht.“ Esra drehte ihre Kaffeetasse unruhig im Kreis, als ob sie die Sache bisher noch nicht von dieser Seite betrachtet hatte. „Da kenne ich schon einige Geschichten, in denen das so ähnlich gelaufen ist. Ach, Daria, so einfach ist das nicht. Es ist das eine, davon zu lesen, wenn man gemütlich in seinem Bett liegt, aber es ist etwas ganz anderes, wenn einem das wirklich passiert.“
„Ja, das ist mir klar, aber wenn sich jemand sein Leben lang perfekt auf diese Situation vorbereitet hat, dann bist das du.“ Daria lächelte Esra zu. Sie spürte, wie ihre aufmunternden Worte bei ihrer Freundin ankamen und sie beruhigten. Es war immer gut, wenn man versuchte, die positive Seite an einer Sache zu sehen. Auch wenn es Daria schwerfiel, jetzt zu lächeln, tat sie es. „Also, was machen wir jetzt mit unseren neuen Begabungen? Du kannst in die Zukunft sehen und ich kann mir wünschen, was ich will. Das wird der Sommer unseres Lebens.“ Darias Grinsen wurde breiter.
Esra runzelte die Stirn, doch dann ließ sie sich auf die Worte ein und lächelte zögernd. „Das klingt nicht schlecht. Aber so einfach ist das bestimmt nicht. Wenn ich eine Sache in meinen Büchern gelernt habe, dann ist das die, dass Magie immer einen Preis hat. Es gibt ein Gleichgewicht zwischen Gut und Böse. Wenn du dir etwas wünschst, dann wird es vielleicht jemand anderem weggenommen oder es geschieht etwas anderes. Meist gibt es irgendwann ein böses Erwachen.“
„Okay.“ Daria zog das Wort in die Länge. „Das ist ein berechtigter Einwurf. Was schlägst du vor?“
„Da wir wissen, dass der Ring an allem Schuld hat, sollten wir etwas über ihn herausfinden und über das, was er kann.“ Esra sah hinüber zu der schmalen Gasse, wo sich der Antiquitätenladen befand.
Daria folgte Esras Blick. „Denkst du, dass Herr Droste etwas über die Kraft dieses Ringes wusste?“
Esras mandelförmige Augen verengten sich. „Ich kenne Herrn Droste nicht, aber ehrlich gesagt kann ich mir das nicht vorstellen. Wer würde denn so einen Ring aus der Hand geben? Er könnte sich damit alle seine Wünsche erfüllen. Ob er auch bei mir funktioniert?“ Esra betrachtete den Ring mit nachdenklicher Miene.
„Probiere es doch einfach aus.“ Daria griff kurzerhand nach dem Ring. „Zieh ihn an und wünsche dir etwas. Du hast ja gesehen, dass sich manche Wünsche sofort erfüllen. Für andere scheint es etwas mehr zu brauchen. Alles, was ich mir gestern noch gewünscht habe, war, dass meine Mutter glücklich sein soll. So wie es aussieht, hat sie sich Geld gewünscht.“ Daria zog fester an dem Ring. „Der klemmt irgendwie.“
Esra beugte sich mit Kennermiene über Darias Hand. „Nein, der klemmt nicht. Der steckt fest. Es ist dein Ring und du bist die Einzige, der er Wünsche erfüllt.“
„Bist du sicher?“ Daria verharrte mitten in ihrer Bewegung. Dann hörte sie auf, an dem Ring zu ziehen. Stattdessen sah sie ihn mit einem unguten Gefühl im Bauch an. „Das ist irgendwie unheimlich. Was das wohl zu bedeuten hat? Kann ich mir jetzt den Rest meines Lebens etwas wünschen?“ Daria sah Esra fragend an.
„Vielleicht.“ Esra zuckte mit den Schultern und trank ihren Kaffee aus. „Ich sehe zumindest nichts darüber, falls du das meinst. Aber darauf gebe ich keine Gewähr. Bei dem Durcheinander in meinem Kopf kann ich das wirklich nicht zuverlässig sagen. Komm, lass uns zu dem Antiquitätenladen gehen. Vielleicht haben wir Glück und Herr Droste ist da.“
„An einem Sonntagmorgen?“ Daria runzelte die Stirn.
„Hast du eine bessere Idee?“ Esra sah Daria fragend an.
Daria schüttelte den Kopf. Nein, eine bessere Idee hatte sie wirklich gerade nicht und eigentlich war sie froh, dass es etwas zu tun gab, und sei es nur loszugehen und nach Herrn Droste zu sehen. Das war allemal leichter, als weiter hier zu sitzen und wie gelähmt über das nachzugrübeln, was geschehen war. Sie nickte und leerte ebenfalls ihre Tasse, während Esra die Kellnerin herbeiwinkte und bezahlte. Daria wollte schon aufstehen, da fiel ihr etwas ein.
„Warte einen Moment.“ Sie ließ sich wieder auf ihren Stuhl fallen, von dem sie schon halb aufgestanden war. „Was ist mit diesem Cedric? Er ist genauso unheimlich wie dieser Ring.“
„Cedric.“ Esra setzte sich ebenfalls wieder hin, als ob es etwas länger dauern würde, um dieses Thema zu besprechen.
„Warum hat er mich vorhin so angesehen, als ob er wüsste, was passiert ist?“
„Hat er das?“
„Ich bin mir absolut sicher.“ Daria nickte entschlossen. „Wenn du etwas über ihn weißt, dann sag es mir bitte.“
Esra holte tief Luft, als ob es sie einige Kraft kostete, die nächsten Worte auszusprechen.
„Ist es etwas Schlimmes?“ Daria sah Esra mit großen Augen an.
„Ja und nein.“ Esra sah zu ihren Schuhen hinab.
„Jetzt sag mir schon, was du siehst. Es muss ja nicht wirklich wahr werden. Den Unfall habe ich ja auch noch in letzter Sekunde verhindert. So ist es doch, oder?“
„Nicht ganz, ich habe gesehen, dass du dir wünschen wirst, dass niemand verletzt wird, und dass die Autos dann nicht zusammenstoßen. Ich habe dir nur nichts davon gesagt, damit ich wirklich sicher sein konnte, dass du das tatsächlich tun würdest. Bis zur letzten Sekunde hatte ich da Zweifel.“
„Du meinst also, alles, was du siehst, wird auch genauso passieren?“ Daria holte tief Luft. Das musste sie erst einmal verkraften.
„Ich denke schon. Zumindest ist es bis jetzt so gewesen.“ Esra sah Daria entschuldigend an. „Ich habe das noch keine vierundzwanzig Stunden. Ich weiß noch nicht viel darüber.“
„Dann müssen wir das eben herausfinden. Also, was siehst du über Cedric?“ Daria beugte sich ein wenig über den Tisch.
Esra erwiderte ihren Blick für eine ganze Weile. Daria sah, dass sie zögerte. Doch schließlich holte sie tief Luft.
„Er wird dich küssen.“ Esra hatte schnell gesprochen, als ob sie die Worte endlich loswerden wollte.
„Küssen?“ Daria schnappte laut nach Luft, so sehr überraschte sie diese Enthüllung. Der Gedanke, dass Cedric ihr nahkommen und sie küssen könnte, löste eine Menge verwirrender Gefühle in ihr aus. Sie war neugierig, wie das passieren sollte. Sie war aufgeregt, weil der Gedanke, dass sie dieser gut aussehende Mann küssen könnte, einfach völlig absurd war. Warum sollte er das wollen? Außerdem spürte sie diese unerklärliche Angst, die sie vorhin schon gespürt hatte, als er sie angesehen hatte. Fürchtete sie sich etwa vor Cedric? „Ist der Kuss die gute oder die schlechte Sache?“, fragte sie mit belegter Stimme.
Esras Gesichtsausdruck wurde ernst. Viel zu ernst für Darias Geschmack. Das Gefühl der Angst schwoll in ihr an.
„Du musst dich vor ihm in Acht nehmen.“ Esras mandelförmige Augen weiteten sich. Hinter ihrer Brille wirkten sie plötzlich riesig. „Er ist nicht einfach nur ein harmloser Junge aus der Parallelklasse. Er taucht da auf, wo es Ärger gibt.“
„Du meinst, er ist so eine Art düsterer James Dean?“
„Wer?“ Esra sah Daria fragend an.
„So ein Typ aus alten Filmen.“ Daria winkte ab. Mit ihrer Urgroßmutter Helga hatte sie immer diese uralten Filme gesehen, aber Esra hatte davon mit Sicherheit noch nichts gehört. „Was meinst du damit? Ist er gewalttätig? Ein Krimineller vielleicht?“
„Nein, das ist es nicht.“ Esra sah angestrengt auf den Boden hinab und kaute dabei auf ihrer Unterlippe, als ob sie nicht die richtigen Worte fand.
Das war ja kaum zum Aushalten. „Was ist es denn dann?“ Daria musterte ihre Freundin mit unruhiger Miene.
Esra hob den Kopf und sah Daria ernst an. Sie holte noch einmal Luft. „Cedric wird sterben, und zwar in deinen Armen.“ Esra hatte so schnell gesprochen, dass Daria sie kaum verstanden hatte. Es dauerte einen Moment, bis die Worte in ihrem Kopf Gestalt annahmen.
„Was?“ Daria krächzte das Wort.
„Es ist nur eine kurze Szene, die ich sehen kann, aber sie ist sehr klar.“ Esra räusperte sich. „Es wirkt alles sehr dramatisch. Es gab einen Schuss und er wurde in die Brust getroffen. Dann liegt er leblos in deinen Armen. Du scheinst außer dir vor Trauer zu sein. Ich sehe, wie du weinst, und das würdest du nicht tun, wenn er dir nichts bedeuten würde.“
Daria schwieg und blickte eine Weile einfach nur zu Boden, während sie versuchte zu begreifen, was Esra ihr da gerade gesagt hatte. Cedric sollte ihr etwas bedeuten? Aber wie war das möglich?
„Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.“ Daria schüttelte den Kopf.
„Das kann ich dir leider auch nicht sagen.“
„Denkst du, dass man das verhindern kann?“ Daria richtete sich auf. Der Gedanke, der Zukunft nicht hilflos ausgeliefert zu sein, gab ihr Kraft. „Wenn du siehst, was passiert, dann kann ich immer noch entscheiden, in die Situation einzugreifen.“
„Ich weiß, was du meinst, aber ich bin mir nicht sicher, ob es funktioniert.“
„Warum nicht? Wenn ich Cedric das nächste Mal treffe und er versucht, mich kennenzulernen, was an sich schon völlig absurd ist, dann werde ich ihn einfach abblitzen lassen. Das ist doch nicht schwer. Wenn wir uns niemals näher kennenlernen, dann werden wir uns auch nicht küssen. Und dann wird das alles auch nicht geschehen. So einfach ist das.“ Daria erhob sich hastig. Dabei stieß sie gegen den Tisch und der Zuckerstreuer fiel um. Schnell hob ihn Daria auf und wischte die Zuckerkrümel vom Tisch, die danebengegangen waren.
„Einen Versuch ist es wert, aber ich habe gesehen, wie er dich angestarrt hat. So als ob er alles wüsste.“
„Das habe ich auch gedacht.“ Daria hatte gar nicht gemerkt, dass Esra das auch aufgefallen war.
„Vielleicht weiß er ja wirklich etwas über den Ring.“ Esra riss die Augen auf.
„Das kann schon sein. Warum sonst sollte er mich anstarren? Vielleicht kennt er die Macht des Rings und will ihn haben.“
„Ja, genau, das wäre möglich.“ Esra fuhr sich aufgeregt durch die langen, dunklen Haare.
„Ob er auch weiß, dass er an meinem Finger festklebt?“ Daria sah besorgt zu dem Ring hinab.
„Wir müssen mit ihm reden und es herausfinden.“ Esra war ernst geworden.
„Das müsstest du dann aber übernehmen.“
„Ja, das geht klar.“ Esra nickte. Sie schien erleichtert zu sein, dass sie alle ihre Sorgen und Gedanken los geworden war und dass es nun einen Plan gab, auch wenn er nicht sehr umfangreich war. Doch da war noch etwas, was ihr auf der Seele lag. Daria sah, wie sie zögerte.
„Was ist noch?“ Das nervöse Kribbeln in Darias Bauch flammte schon wieder auf.
„Du solltest mit deinen Wünschen vorsichtig sein, bis wir Genaueres wissen.“ Esra sah sich um, als ob sie schon die nächste Gefahr witterte.
„Du denkst, dass die Wünsche Auswirkungen haben, die wir nicht kennen.“ Daria musterte Esra ganz genau. „Siehst du noch etwas?“
Esra schüttelte den Kopf. „Es sind nur Bildfetzen ohne Sinn. Aber mir kommt das alles ziemlich gefährlich vor.“
„Ich werde mich zurückhalten, bis wir mehr wissen“, versprach Daria, auch wenn es ihr schwerfiel, das zu tun. Der Gedanke, was mit einem Mal alles möglich war, war wirklich verlockend. Konnte sie die Menschheit von allen Problemen heilen? Konnte sie die Welt zu einem besseren Ort machen?
„Wir fangen mal mit dem Antiquitätenladen an“, sagte Esra, als ob sie spürte, was Daria dachte, und sie zurück auf den Boden der Tatsachen holen wollte.
„Einverstanden.“ Daria schob den Gedanken an die vielen Möglichkeiten erst einmal zur Seite. Sie drehte sich um und sie verließen die Sitzecke vor dem Café. Caspars Jeep war weg und auch die Menschen hatten sich zerstreut. Daria war so mit Esra in ihr Gespräch vertieft gewesen, dass sie es nicht einmal gemerkt hatte. Je näher sie der Stelle kamen, an der der Beinahe-Unfall geschehen war, umso heftiger schlug Darias Herz. Wo war Cedric nur hergekommen?
Vermutlich wohnte er in einem der Häuser in der Nähe des Friedhofs. Viele schöne Häuser befanden sich dort nicht mehr, aber Daria erinnerte sich an eine opulente Villa, in der einst einer der Webereibesitzer mit seiner Familie gewohnt hatte. Sie war eine der wenigen, die instandgehalten worden war. Sie passte zu Cedric und der Art, wie er auftrat. Daria würde einiges darauf wetten, dass er genau dort wohnte. Doch wann war er dorthin gezogen? In einer kleinen Stadt wie Fresienstein geschah doch selten etwas, ohne dass es nicht ziemlich schnell zum Stadtgespräch wurde und jeder über jeden Bescheid wusste.
„Was ist denn da los?“ Esra war vor dem Brunnen stehen geblieben.
„Ist Caspar dagegengefahren?“ Daria betrachtete die Figuren des Brunnens. Wenn hier ein Schaden entstanden war, dann würden Caspar und Cedric richtig Ärger bekommen. Eine verbeulte Stoßstange war nichts im Vergleich zu dem historischen Erbe der Stadt, das seit Jahrhunderten gepflegt wurde.
„Siehst du es nicht?“ Esra klang verwundert.
Doch Daria sah tatsächlich keine kaputte Stelle. Weder an den Gnomen war eine der schiefen Nasen abgeplatzt, noch fehlte der Schnabel eines Raben.
„Eine Elfe fehlt und zwei Raben.“ Esra zeigte auf eine leere Stelle.
„Oh.“ Jetzt war es Daria auch aufgefallen. Tatsächlich. Die Stelle war leer. Aber sie sah aus, als ob dort nie eine Figur gestanden hätte. Die anderen Elfen und Raben waren alle noch da. Daria musterte sie nachdenklich. Im Gegensatz zu den hübschen, feenähnlichen Wesen aus den Filmen waren diese Elfen spitzohrige, gebeugte Gestalten mit einem grimmigen Blick und düsteren Gesichtern. Niemand stellte sich so eine Figur freiwillig in den Garten.
„Es gibt keine Bruchstelle.“ Daria kniete sich nieder und fuhr mit den Fingern über den glatten Stein. Wo sollte die Elfe hingekommen sein? Daria erhob sich langsam und ließ ihren Blick über den Marktplatz schweifen. Es war immer noch recht früh am Morgen, doch langsam kamen die Leute aus ihren Häusern.
„Wir sollten besser gehen“, sagte Esra besorgt.
„Warum? Wir haben doch nichts getan?“
„Glaub mir, das ist besser so.“
Daria überlegte kurz, dann steuerte sie hastig auf die Friedhofsgasse zu. Wollte sie wissen, was Esra gesehen hatte? Würden sich die Fresiensteiner Bürger in einen wütenden Mob verwandeln und Unschuldige einer Tat bezichtigen, die sie nicht verübt hatten? Daria wusste nicht mehr, was sie glauben sollte oder nicht.
„Da hängt ein Geschlossen-Schild.“ Esras Worte unterbrachen Darias Gedanken. Sie standen am Eingang der Gasse und schon von dort konnte man das Schild sehen.
„Verdammt.“ Daria betrachtete die verschlossene Eingangstür. In diesem Moment erinnerte sie sich an die Geschichte, die ihr Herr Droste erzählt hatte. „Der Ring soll mich daran erinnern, im richtigen Moment das Richtige zu tun.“ Daria starrte den Ring an. Jetzt war ihr wieder eingefallen, was ihr Herr Droste zum Abschied mit auf den Weg gegeben hatte. Wenn man sie in Verbindung zu den Ereignissen der letzten Stunden brachte, dann erschienen sie Daria in einem ganz anderen Licht.
„Das hat Herr Droste gesagt?“ Esra war zu Daria getreten und betrachtete den Ring.
Daria nickte. „Ja, das hat er gesagt.“
„Also wusste er etwas“, schlussfolgerte Esra.
„Das glaube ich auch.“ Daria schluckte. Sie würden den Besuch bei Herrn Droste wohl oder übel auf Montag verschieben müssen. Das würde ein langes Wochenende werden.