Kapitel 22
D aria hatte den Rest des Tages mit Esra, Rosie und Lea in ihrer WG verbracht. Anfangs hatten sie noch über die Elfen, Raben, Zaubereien und Rosies neue Fähigkeiten geredet, doch nach und nach hatten sich ihre Gespräche wieder ganz alltäglichen Themen zugewandt. Sie hatten über die Akademie gesprochen und wie es war, mit seinem Freund in einer WG zusammenzuwohnen. Daria hatte den Nachmittag genossen. Sie hatten viel gelacht und gemeinsam Nudeln gekocht. Daria war erst spät zu Hause gewesen. Das Gefühl, dass vielleicht doch alles nicht so schlimm war, wie sie manchmal gedacht hatte, begleitete sie immer noch wie ein warmer Umhang, während sie mit ihrer Mutter in der Küche saß und Karten spielte. Die Dunkelheit war schon hereingebrochen, als es an der Tür klingelte.
„Erwartest du noch Besuch?“ Darias Mutter ließ die Karten sinken und sah ihre Tochter fragend an.
„Nein, eigentlich nicht.“ Daria stand auf. „Ich sehe mal nach, wer das ist.“ Sie ging in den Flur und ein ungutes Gefühl überkam sie. Der ganze Tag war schön gewesen, viel zu schön. Klopfte jetzt jemand vom Liberalis-Orden an die Tür?
Daria holte tief Luft und öffnete die Tür. Sie erstarrte, denn vor der Tür stand niemand, der ihr Böses wollte, sondern Cedric.
„Guten Abend, meine Schöne.“ Er grinste sie an. Dann griff er einfach nach ihrer Hand und zog sie auf sich zu.
Daria wehrte sich nicht, als er sie in seine Arme zog und sie zur Begrüßung an sich drückte. Sie war überrascht von seinem Auftauchen, aber sie wollte sich auch nicht mehr gegen das drängende Gefühl wehren, das sie immer heftiger zu ihm zog. Es war viel zu schön. Sie schlang ihre Arme um seine Mitte und verharrte kurz in dem wohligen Moment. Cedrics Körper war warm und stark. Er trug ein leichtes Hemd und roch nach dem teuren Parfüm, das Daria unter Tausenden wiedererkennen würde.
Er drückte ihr einen leichten Kuss auf ihr Haar und Daria erschauerte. Der Gedanke daran, wie sich seine Lippen auf ihren anfühlen würden, überrollte sie mit einer Macht, gegen die sie sich kaum noch wehren konnte. Nur mit Mühe schaffte sie es, einen Schritt zurückzutreten und sich aus Cedrics Umarmung zu winden.
„Hattest du Sehnsucht nach mir?“ Sie konnte gar nicht anders, als ihn anzulächeln, so viel Wärme lag in seinem Blick. „Oder gibt es einen anderen Grund für deinen Besuch?“
„Wenn ich ehrlich sein soll, dann hatte ich Sehnsucht nach dir. Es gefällt mir nicht, wie Esra mir ständig verbieten will, Zeit mit dir zu verbringen.“ Er wurde ernst.
Daria presste die Lippen aufeinander. „Sie meint es nur gut. Sie macht sich eben Sorgen.“
„Also siehst du das auch so wie Esra und ich sollte besser gehen?“ Er senkte den Kopf.
„Nein, ich bin froh, dass du gekommen bist.“ Sie lächelte ihn an und fühlte sich gleich ein Stückchen freier. „Ich fand das heute Nachmittag auch ein bisschen abrupt.“
„Hast du Lust auf einen Spaziergang? Wenn wir in Bewegung bleiben, dann sieht uns Esra vielleicht nicht.“ Er grinste.
„Gern.“ Daria nickte.
„Dann komm.“ Er streckte seine Hand aus und Daria griff einfach zu. Sie rief ihrer Mutter zu, dass sie noch eine Runde drehen wollte, und ging einfach los. Entgegen jeder Vernunft ließ sie sich auf ihn ein, drängte die mahnende Stimme in ihrem Kopf einfach fort. Es würde schon nichts passieren. Sie musste das alles einfach etwas lockerer sehen, sonst würde sie noch verrückt werden. Das süße Gefühl in ihrem Bauch, das sie zu Cedric zog, war einfach viel zu stark.
Die Tür fiel hinter Daria ins Schloss und es war ihr egal, dass sie keinen Schlüssel und kein Handy dabeihatte. Alles war egal. Nur Cedric zählte in diesem Moment.
Sie dachte an den schönen Garten hinter seinem Haus. Dort könnten sie einfach nur sitzen, in den Himmel hinaufsehen und Zeit miteinander verbringen.
Cedric schloss seine Hand fester um die von Daria und sie lächelte ihn glücklich an. In der Ferne hörte Daria ein Donnergrollen. Das war das Gewitter, das für heute Nacht angekündigt worden war, und Daria spürte die Spannung, die in der Luft lag.
Cedric bog nach links ab und sie liefen die Straße entlang Richtung Stadt. Von Weitem konnte Daria lautes Bellen hören, als sie in die Juulstraße einbogen. Die Dackel von Herrn Grauland jagten sich über den Bürgersteig. Daria musste zweimal hinsehen. Irgendwie waren die Tiere größer geworden und bedrohlicher.
Herr Grauland lief ihnen entgegen. Er hatte einen lockeren Schritt und folgte problemlos seinen Dackeln.
„Die sind aber kräftig geworden.“ Daria nickte anerkennend, als sie an Herrn Grauland vorbeiliefen.
„Nicht nur sie.“ Herrn Graulands Stimme war tiefer, als Daria sie in Erinnerung hatte. Er nickte Daria und Cedric zu und lief dann zügig weiter.
„Was ist denn mit den Hunden los?“ Daria sah ihnen nach. „Ares und Hades waren noch nie so groß.“
„Keine Ahnung, wie groß ein Dackel werden kann.“ Cedric zuckte mit den Schultern. „Ich kenne mich mit Hunden ziemlich schlecht aus. Man kann eben nicht in allem gut sein.“ Cedric grinste.
„Dafür bist du unglaublich bescheiden.“ Daria lachte und der Klang ihres eigenen Lachens kam ihr fremd vor. Ihr war schon lange nicht mehr nach Lachen zumute gewesen. Sie verstärkte ihren Griff um Cedrics Hand und lehnte sich im Gehen immer wieder leicht an ihn.
„Ich habe einen Entschluss gefasst.“ Cedrics Stimme wurde feierlich.
„Jetzt bin ich aber gespannt.“
„Ich habe lange überlegt, was ich in Zukunft so mit meinem Leben anstellen werde, und ich habe beschlossen, dass ich erst einmal in Fresienstein bleiben möchte.“
Darias Herz machte einen Sprung und das Glück schien in ihrem Bauch zu explodieren, so sehr freuten sie seine Worte.
„Es ist ein netter, friedlicher Ort mit einer Menge Energie.“ Er zwinkerte Daria verschwörerisch zu.
„Die hat er tatsächlich“, murmelte Daria und musste ganz unwillkürlich an die Wand in Herrn Drostes Antiquitätenladen denken.
„Aber hauptsächlich will ich wegen der netten Leuten bleiben, die ich hier kennengelernt habe.“ Cedric blieb stehen. Sie waren mitten auf dem Marktplatz angelangt. Über ihnen donnerte es und ein Blitz zerriss die Nacht. Das Gewitter war schneller näher gekommen als gedacht. „Eigentlich bleibe ich nur wegen dir.“ Cedric stellte sich vor Daria und umfasste ihre Hände. „Ich habe vom ersten Moment an gewusst, dass wir zusammengehören, und ich habe keine Lust mehr, mich immer nur zurückzuhalten und vorsichtig zu sein.“
Ein warmer Wind fuhr über den Marktplatz und ließ seine Haare durcheinanderwirbeln. In Cedrics Augen sah Daria einen Ernst, der ihr Herz schneller schlagen ließ. Sie wollte und musste endlich offen zu ihm sein.
„Wir gehören tatsächlich zusammen“, murmelte Daria und sah zu Cedric auf. Sie konnte ihn stundenlang ansehen, ohne dass ihr dabei langweilig wurde.
„Es tut gut, zu hören, dass du dir da genauso sicher bist wie ich.“ Um Cedrics Augen spielte ein ernster Zug.
„Ich weiß es sogar“, sagte Daria. „Meine Mutter hat sich gewünscht, dass ich die Liebe meines Lebens treffe und glücklich werde. Bis jetzt sind ihre Wünsche alle in Erfüllung gegangen und so ist es auch mit diesem. Denn ich stehe jetzt hier mit dir und ich bin unfassbar glücklich.“ Daria hatte Mühe, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. Es tat so gut, Cedric gegenüber endlich offen zu sein. Die Worte hatten ihr schon lange auf den Lippen gelegen. „Du bist die Liebe meines Lebens.“
„Bin ich das?“ Cedric sah Daria überrascht an.
„Ich hoffe, das ändert nichts zwischen uns.“ Die Sorge überkam sie, dass Cedric vielleicht nicht wollte, dass seine Gefühle mit einem Wunsch manipuliert worden waren.
„Das erklärt, warum ich mir von Anfang an absolut sicher gewesen bin, dass du die richtige Frau in meinem Leben bist.“ Er trat ein wenig näher auf Daria zu.
Der Wind war stärker geworden und blies in sein helles Hemd hinein. Sein Blick wanderte kurz zu ihren Lippen. Ein Blitz zerriss die Dunkelheit und das Donnern, das kurz darauf folgte, war so heftig, dass Daria die Vibration in ihrem ganzen Körper spüren konnte. Dann traf sie der erste Regentropfen und innerhalb von Sekunden war der Regen so stark, dass Daria sich vorkam, als ob sie unter der Dusche stand.
Cedric sah zum Himmel empor und lachte. Nach der Hitze der vergangenen Zeit war der Regen eine pure Erholung. Er war warm und floss in unzähligen Bächen an Darias Körper hinab. Sie lachte, weil sie so glücklich war in diesem Moment. Sie gehörten zusammen und jetzt war es irgendwie offiziell.
Cedric schlang seine Arme um Darias Mitte und drückte sie an sich. Sie spürte seinen Körper warm, nass und lebendig an ihrem. Einen Moment lang war da ein ungutes Gefühl.
„Wir sollten das nicht tun. Ich will dich nicht verlieren.“
„Ich habe keine Angst vor dem Tod.“ Cedric lächelte sanft. „Wenn ich dich geküsst habe, dann kann ich glücklich sterben.“
„Mach keine Witze darüber.“
„Das ist kein Witz, Daria.“ Cedrics Stimme war ernst und rau. „Ich sehne mich so sehr nach dir. In meinen Träumen habe ich dich schon tausendmal geküsst und jetzt kann ich einfach nicht länger warten.“
Er zog sie an sich und dann lagen seine Lippen auf ihren. Daria hatte sich diesen Kuss schon so oft vorgestellt. Doch jede Vorstellung war weit weg von dem prickelnden Gefühl, das sie verspürte, als es tatsächlich geschah. Cedrics Lippen waren weich und fordernd. Daria spürte die Leidenschaft, mit der er sie küsste. Ihr Körper schien nur noch aus gleißendem Licht zu bestehen. Sie fühlte sich mit Cedric auf eine Weise verbunden, die sie nie für möglich gehalten hatte. Ihr ganzer Körper schien unter Strom zu stehen und Daria wischte alle Bedenken fort. Jede Zelle ihres Körpers sehnte sich nach mehr. Sie schlang ihre Arme um Cedrics Schultern und erwiderte seinen Kuss voller Hunger und Zärtlichkeit.
Dieser Moment durfte niemals enden, denn er war zu perfekt, um wahr zu sein.
Ein weiterer Blitz explodierte über ihren Köpfen und der Donner, der ihm folgte, ließ den ganzen Marktplatz erbeben.
Cedrics Lippen lösten sich von Darias und er lächelte sie sanft an. „Siehst du, es ist nichts passiert.“
Darias sah sich um. Richtig, es war nichts passiert. Daria lächelte, während sie ihren Blick schweifen ließ. Hier war niemand, der Cedrics Leben bedrohte. Sie waren ganz allein auf dem Marktplatz.
Der Regen prasselte auf ihre Köpfe. Die Szene erinnerte Daria mit aller Gewalt an die Vision, von der Esra ihr erzählt hatte. Aber sie hatte nicht recht behalten. Cedric ging es gut. Er hatte seine Arme immer noch um Daria geschlungen.
In diesem Moment zerriss Scheinwerferlicht die Nacht. Ein Auto kam angerollt und ihm folgten weitere. Es waren allesamt große, teure Limousinen. Daria löste sich aus Cedrics Umarmung und trat zur Seite, damit sie niemand in der Dunkelheit übersehen konnte. Die Autos fuhren direkt auf sie zu.
Daria verfolgte den ersten Wagen mit ihrem Blick und registrierte dann verwundert, wie das Auto neben Cedric stehen blieb. Ein älterer Mann mit den Gesichtszügen eines Adlers und kurzem, weißem Haar saß am Steuer und sah Cedric ehrerbietend an.
Er ließ die Scheibe herunterfahren. „Guten Abend, Herr Carter, der Großmeister ist auf dem Weg.“
„Guten Abend, Großmarschall, da entlang.“ Cedric zeigte auf die Friedhofsgasse. Seine Stimme war nur noch ein kalter Befehlston, eisig und gefühlskalt. Daria konnte kaum glauben, dass derselbe Mann ihr gerade noch zärtlich seine Gefühle gestanden hatte. War das derselbe Cedric Carter?
Der Großmarshall nickte. Der Ton, in dem Cedric mit ihm sprach, schien ihn nicht zu verwundern. Also war das nicht ungewöhnlich. Er ließ die Scheibe wieder nach oben fahren. Dann steuerte er seinen schwarzen Wagen durch die Friedhofsgasse hindurch und die anderen Autos folgten ihm.
Daria sah ihnen fassungslos hinterher. Das kalte Gefühl stieg in ihr auf, dass sie sich entweder verhört haben musste oder dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
„Großmeister?“ Sie sah Cedric fragend an. Ihre Stimme war eiskalt. „Was soll das bedeuten?“
„Kannst du dir das nicht denken, meine Schöne?“ Cedric legte den Kopf schief und sah Daria mit einem liebevollen Blick an. Jetzt war er wieder ganz sanft.
Daria machte ganz automatisch einen Schritt zurück, als sie ein Verdacht befiel, der so unfassbar war, dass er einfach nicht sein konnte. Die Zeit schien stehen zu bleiben. Daria spürte nicht, wie der Regen über ihr Gesicht lief und sich mit ihren aufsteigenden Tränen mischte. Sie fühlte nicht einmal mehr ihre brennenden Lippen, die von Cedrics Kuss noch immer empfindlich waren. Sie spürte nur noch den Verrat, der sich tief und kalt in ihr Herz bohrte. Sie war so dumm gewesen. Cedric war zu perfekt, um wahr zu sein.
„Du gehörst zum Liberalis-Orden?“ Mühsam brachte sie die Worte hervor, auch wenn sie absolut absurd klangen. „Es ist dein Vater, der das Amt geerbt hat.“
„So ist es.“ Cedric nickte. „Mein Vater ist der Großmeister des Ordens.“ Er deutete eine Verbeugung an, als ob er sich ihr noch einmal ganz offiziell vorstellen wollte.
„Du hast mich die ganze Zeit hinters Licht geführt.“ Darias Stimme wurde kalt.
„Nein, das habe ich nicht.“ Cedric schüttelte energisch den Kopf. „Ich habe dir vielleicht nicht alles über mich erzählt, aber du hast mich auch nicht danach gefragt. Das ist kein Vorwurf. Du hattest in der letzten Zeit eine Menge um die Ohren. Da ist es nur verständlich, dass deine Gedanken um deine Probleme kreisen.“
„Warum hast du das getan?“ Daria versuchte sich zusammenzureißen und zu verstehen, was hier gerade passierte. „Warum hast du das getan?“
„Ich bin wegen dem Nebelstein gekommen, den wir noch hier vermutet haben, und ich bin wegen dir geblieben, Daria.“ Seine Stimme wurde wieder weich und hatte nichts von ihrem Gefühl verloren.
Meinte er das ernst oder versuchte er sie einzuwickeln und hinters Licht zu führen? Daria wusste nicht mehr, was sie noch glauben konnte. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Welt plötzlich Kopf stand.
„Lass mich dir ein paar Dinge erklären.“ Cedrics bittender Blick ließ Daria innehalten.
„Was willst du mir denn erklären?“
„Ich weiß ein paar Dinge mehr über den Nebelstein. Vielleicht interessieren sie dich.“ Er warf dem Ring an ihrer Hand einen nachdenklichen Blick zu.
Daria wusste, dass sie gehen sollte. Sie sollte einfach davonrennen und sofort die Stadt verlassen. Doch sie konnte nicht einen Fuß vor den anderen setzen. Ihr Herz brannte und es fühlte sich an, als ob Cedric mit einem Hammer daraufgeschlagen hatte. Aber gleichzeitig war da noch das irrige Gefühl, dass er sie trotz allem von ganzem Herzen liebte und wollte, dass sie ihm die kleine Schummelei verzieh. Entgegen jeder Vernunft verschränkte Daria die Arme vor der Brust und sah Cedric herausfordernd an.
„Jetzt bin ich aber mal gespannt, was du mehr weißt als ich.“ Sie versuchte sich nicht von seinem weichen Blick und dem versöhnlichen Lächeln einwickeln zu lassen.
„Also gut.“ Cedric nickte, zufrieden mit der Tatsache, dass sie ihm eine winzige Chance gab. „Du weißt ja schon, dass die Magie vor langer Zeit aus dieser Welt verschwand.“ Cedric sah Daria durchdringend an. Er richtete sich auf und wirkte plötzlich größer und mächtiger, als sie es jemals wahrgenommen hatte. War er nur zu ihr so nett gewesen und gegenüber allen anderen benahm er sich wie ein herrischer Despot?
„Ja, das weiß ich schon.“ Daria schaffte es, eine vernünftige Antwort zu formulieren, obwohl ihr eher danach war, schreiend davonzulaufen. Ihr Herz raste und Cedrics einschüchternde Art ließ ihr einen kalten Schauer über den Rücken rieseln. Angst stieg in ihr auf, und gleichzeitig faszinierte sie jedes Wort, das er sagte.
Cedric legte den Kopf schief. „Sie verschwand, weil Aileen ihre Macht und ihr Leben opferte, um die Magie zu verbannen.“
„Auch das weiß ich bereits. Die Elfen waren so nett, mir das zu zeigen.“
„Ja, sie stehen auf deiner Seite. Sie gehören zu den Guten, wenn du es so nennen willst. Sie sind deine kleinen Helfer.“
„Und du gehörst nicht zu den Guten?“ Darias Stimme zitterte.
Cedric grinste. „Das kommt ganz auf den Blickwinkel an. Du musst wissen, dass Glen nicht sehr glücklich darüber war, dass die Magie verschwunden war. Er und seine Anhänger waren wütend, weil sie ihrer Macht beraubt waren und sie nun als einfache Menschen durch die Welt gehen mussten, sterblich und verletzbar, nur noch ein Schatten ihrer selbst. Seine Wut ist verständlich. Er gründete den Orden, um die Alba-Bruderschaft zu jagen und den Nebelstein in seine Gewalt zu bringen, den die Brüder in ihre Obhut genommen hatten. Dabei sind viele Alba-Brüder gestorben.“
„Aber es gibt sie noch?“ Daria sah Cedric fragend an und hob die Hand mit dem Ring an ihrem Finger.
Wieder nickte Cedric mit einer so knappen Geste, dass seine Bewegung kaum wahrzunehmen war. „Obwohl der Liberalis-Orden die Bruderschaft ausrotten wollte, nachdem sie den Nebelstein endlich hatten, schafften es die Alba-Brüder, sich zu verstecken. Aber mehr auch nicht. Sie haben den Nebelstein nie zurückbekommen und sein Geheimnis konnten sie auch nicht wahren.“
„Was für ein Geheimnis ist das denn?“ Daria betrachtete den Ring an ihrer Hand.
Cedric streckte den Arm aus und seine Hand schwebte über Darias. Daria hielt die Luft an. Sie spürte ein Kribbeln in ihrer Hand. Dann berührte Cedric mit einer federleichten Geste den Nebelstein.
„Dieser Stein hat viele Geheimnisse. Er ist verflucht. In ihm steckt die letzte Magie auf dieser Welt. Es ist nur ein winziges Quäntchen, aber es reicht, um das Tor wieder zu öffnen.“ Cedric zog den Arm zurück und Daria holte Luft.
„Das Tor im Antiquitätenladen deines Onkels?“ Ihre Stimme klang erstaunlich fest, obwohl ihre Hand glühte, als ob Cedric sie tatsächlich berührt hatte.
„Aileen hat die Magie in eine andere Dimension verbannt. Der Nebelsteinring ist der Schlüssel und das Tor hast du ja bereits gesehen. Dieser Stein ist die einzige Möglichkeit, das Tor wieder zu öffnen.“ Cedric sah den Nebelsteinring versonnen an. „Das Tor entsteht dort, wo man es heraufbeschwört, aber dazu ist die Nähe des Nebelsteins notwendig. Er liefert die nötige Energie dafür.“
„Und was passiert, wenn sich das Tor wieder öffnet? Hat Esra mit ihren Visionen recht?“
„Das hat sie.“ Ein winziges Lächeln huschte über Cedrics Gesicht. „Die Magie wird sich wieder auf alle Menschen unseres Volkes verteilen.“
„Unseres Volkes? Wen meinst du damit?“
„Auf die Nachfahren der Menschen, die damals vor einigen Jahrtausenden zwischen Elbe und Oder gelebt haben und sich gegen die einmarschierenden Römer gewehrt haben. Hätte man Glen nicht seiner Macht beraubt, sähe die Welt heute mit Sicherheit anders aus. Es war nur ein kleines Volk, das diese Magie in ihrem Blut hatte, aber sie haben überlebt, und die, in dessen Adern noch immer dieses Blut fließt, werden wieder Macht bekommen.“ Cedrics Blick wurde scharf. „Du hast ja gesehen, was alles möglich ist.“
„Du meinst Rosie?“
Cedric nickte. „Ihre neuen Kräfte kommen aus einer anderen Welt und auch Herr Grauland und seine Dackel sind nur so fit, weil ihnen eine Energie aus einer ganz neuen Quelle zur Verfügung steht.“
„Das ist es also, was du willst? Du willst Macht? Du willst die sieben Todsünden zur neuen Weltreligion erheben?“
„Nein, darum geht es mir nicht.“ Cedric sah Daria ernst an. Eine Spur Zorn schwang in seiner Stimme mit, auch wenn sie in seinem Gesicht nicht zu sehen war. „Das mit den Todsünden hat sich nur ein Geistlicher im Mittelalter ausgedacht, um die Geschichte ein bisschen salonfähiger zu machen. Dass ich die Dinge alle etwas lockerer sehe, ist allein meine Entscheidung.“
„Worum geht es dir dann?“
„Um Gerechtigkeit. Aileen hat beschlossen, die Welt zu verändern. Dabei war sie einmal im Gleichgewicht. Sie hatte nicht das Recht dazu, so eine Entscheidung zu treffen.“
„Aber du weißt, was richtig und was falsch ist? Vielleicht hat sie damals die richtige Entscheidung getroffen und hat die Welt vor einer Menge Unheil bewahrt.“
Cedric schmunzelte. „Nein, mein kleiner Sturkopf.“ Er legte den Kopf schief und musterte Daria mit einer nachsichtigen Miene, die sie ganz nervös machte. „Ich korrigiere einen Fehler, denn das ist die Aufgabe, die mir übertragen wurde. Die Magie wird die Welt zu einem besseren Ort machen.“
„Aber es wird keine Gleichheit mehr geben. Es wird Menschen mit Macht geben und Menschen ohne Macht.“
„Das ist doch jetzt schon so.“ Cedric zuckte mit den Schultern. „Du weißt, was die Menschheit für Kriege geführt hat. Du kennst die Wahrheit. Die Welt ist kein schöner Ort, und ein gerechter schon gleich gar nicht.“
Daria zögerte. „Und was soll die Magie daran ändern?“
„Alles.“ Cedric lächelte. „Ich will die Macht dazu nutzen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.“
„Das willst du also?“ Daria sah Cedric fragend an. „Und du weißt sicher, was passiert, wenn sich das Tor öffnet?“
„Ja, Daria, das weiß ich.“ Cedrics Stimme war warm. „Ich werde endlich der sein, zu dem ich geboren wurde. Ich spüre schon die Macht in mir aufsteigen und auch du hast es schon gefühlt. Du kannst Magie bewirken, auch ohne den Ring.“
Daria musste schlucken. Sie dachte an das Wasser zu ihren Füßen und an das Schloss zu Herrn Drostes Laden, das sie ohne Mühe hatte öffnen können.
Der Blick aus Cedrics Augen wurde noch wärmer und bannte Daria auf eine unerklärliche Weise.
„Was hat das alles mit mir zu tun?“ Daria sah zu dem Nebelsteinring hinab, der fest an ihrem Finger steckte.
„Du bist etwas Besonderes, auch wenn du dir dieser Tatsache nicht bewusst bist.“
„Ich bin nichts Besonderes. Im Gegenteil. Ich bin sogar ziemlicher Durchschnitt. Also, warum ist der Nebelstein bei mir gelandet? Warum wollte er unbedingt nach Fresienstein zurück?“
„Weil er hier an der richtigen Stelle ist. Der Orden hat deiner Urgroßmutter den Ring aus einem bestimmten Grund gegeben. Ihr seid direkte Nachfahren von Aileen.“ Cedric lächelte Daria vielversprechend an. „Es hat sehr lange gedauert, bis der Orden deine Urgroßmutter ausfindig machen konnte. Mein Orden hat so viele Jahrhunderte lang den Nebelstein an vielversprechende junge Männer und Frauen gegeben. Doch keiner von ihnen hat es geschafft, den Fluch zu brechen. Nachdem er bei deiner Urgroßmutter nichts bewirkt hat, waren wir uns eigentlich sicher, dass deine Familie nicht die richtige ist, beziehungsweise dass das Blut deiner Vorfahren schon zu verwässert durch eure Adern fließt. Wir hatten uns anderen Familien zugewandt. Dummerweise hatte deine Uroma Helga den Stein verschwinden lassen. Deine Urgroßmutter hatte ganze Arbeit geleistet, als sie das Amulett verändern und den Ring nach Ägypten bringen ließ. Davon wusste niemand etwas. Doch dann tauchte der Ring mit dem Nebelstein plötzlich hier auf und dann auch noch an deiner Hand. Das konnte kein Zufall sein. Dessen war ich mir ziemlich sicher und mein erster Verdacht hat sich schnell bestätigt.“
„Wie soll der Fluch denn nun gebrochen werden?“ Daria versuchte sich Zeit zu verschaffen, um ein paar Momente zu haben und ihre Gedanken ordnen zu können. War Cedric jetzt der Böse oder der Gute? Was er sagte, klang so nachvollziehbar, aber warum hatte er sie dann die ganze Zeit belogen?
„Es ist eigentlich gar nicht schwer, den Fluch zu brechen, aber dennoch scheint es fast unmöglich zu sein. Es braucht jemanden, der durch und durch anständig ist, denn man darf nur selbstlose Wünsche äußern und Gutes für andere tun. Man muss all die Tugenden an den Tag legen, die Aileen einst gehabt haben soll. Man muss bescheiden sein, darf nicht eitel werden und man muss das Gebot der Nächstenliebe beachten. Man muss das Wohl der anderen immer über das eigene stellen. Du siehst, das ist wirklich schwer. Keiner hat es in den vielen Jahrhunderten geschafft, den Fluch zu brechen. Ein einziger selbstsüchtiger Wunsch reicht schon aus, und der Fluch kann nicht gebrochen werden und dann müssen wir wieder hundert Jahre auf die nächste Chance warten.“
„Und bis jetzt ist das wirklich noch niemandem gelungen?“ Daria konnte kaum glauben, dass sie die Erste sein sollte.
Cedric nickte. „Es gab so viele missglückte Versuche. Manche sind erst im letzten Moment gescheitert, andere schon am Anfang. Einigen der Auserwählten hat man gesagt, was der Nebelstein bewirkt, und manchen nicht. Die kamen selbst darauf. Anfangs lief es oft gut, doch dann irgendwann wurden ihre Wünsche selbstsüchtig und maßlos. Der Neid trieb sie an oder die Gier. Da war immer etwas Selbstsüchtiges in ihnen, das sich schließlich seinen Weg gebrochen hat. Der Stein hat garantiert einen großen Anteil daran gehabt, die Menschen in Versuchung zu führen. Aber du hast dem widerstanden.“
„So ist das also. Meine Großmutter hat die falschen Wünsche ausgesprochen.“ Daria fiel es immer noch schwer, das zu glauben. Doch das war genau das Puzzlesteinchen, das ihr gefehlt hatte, um zu begreifen, was jetzt anders war. Sie erinnerte sich an die Liste der Wünsche ihrer Urgroßmutter. Sie hatte sich einige Dinge nur für sich selbst gewünscht und genau das hatte den Unterschied gemacht.
„So ist es und wer sollte sonst so rein in seinem Wesen sein wie ein Kind? Es hat alle verwundert, dass deine Urgroßmutter nicht die Richtige war. Niemand hätte auf dich gesetzt, aber sie haben sich alle geirrt. Es liegt dir im Blut, gut zu sein, und jetzt ist genau das geschehen, was wir uns erhofft haben.“ Cedric lächelte.
„Und warum erzählst du mir das überhaupt?“ Daria sah Cedric fragend an. „Dir ist schon klar, dass ich mir jetzt einfach etwas total Egoistisches wünschen werde, und dann war es das mit deinem Tor. Dann muss dein Orden eben wieder hundert Jahre warten, bevor er sein Glück noch einmal versuchen kann.“
„Ich erzähle dir das, weil wir am Ziel sind, Daria.“ Cedrics Stimme wurde weich. „Es fehlt nur noch ein letzter Wunsch. Sieh dir den Nebelstein an. Er ist beinahe schwarz.“
Daria konnte nicht anders, als die Hand zu heben und den Stein anzustarren. Cedric hatte recht. Drei Viertel des Steins hatten ihre Helligkeit verloren.
„Ich werde das nicht zulassen.“ Darias Stimme bebte.
„Wir können die Welt regieren, Daria.“ Cedrics Blick gewann an Tiefe. Er verband sich mit ihrem und Daria hatte plötzlich das Gefühl, dass er ihr tief in ihre Seele schauen konnte. „Ich liebe dich von ganzem Herzen. Was das angeht, war ich von Anfang an ehrlich zu dir. Du weißt, dass meine Gefühle nicht gespielt sind. Ich weiß, dass du das spürst. Ich möchte dieses neue Zeitalter mit dir an meiner Seite erleben. Mein Vater wird uns alle Freiheiten lassen.“
„Niemals.“ Daria trat einen Schritt zurück.
Cedric ließ sich von Darias Zurückweichen nicht beeindrucken. Das hatte er ja noch nie getan. „Überlege dir, was du alles bewirken kannst. Du hättest Kräfte, mit denen du allen Menschen helfen könntest.“
„Und was willst du?“ Daria kam es seltsam vor, dass Cedric plötzlich an das Wohl der vielen Menschen denken sollte, denen Daria helfen könnte.
„Ich will einfach nur diese neue Welt erleben und sie gestalten.“ Cedric grinste und trat einen Schritt auf Daria zu. Er stand ganz nah vor ihr. „Spürst du nicht, wie stark die Anziehungskraft zwischen uns ist? Wir gehören zusammen.“ Cedric strich mit einer leichten Bewegung über Darias Wange. „Und dass es mit einem Wunsch besiegelt wurde, macht die Sache für mich noch klarer. Ich liebe dich.“
Sofort schoss Daria die Hitze in den Kopf. Ihr Atem stockte und dann keuchte sie.
„Das geht nicht.“ Sie wollte einen Schritt von Cedric wegmachen. Doch es kam ihr vor, als ob sie die Gewalt über ihren Körper verloren hatte. Etwas zog sie zu ihm und sie musste alle Kraft aufwenden, um sich gegen seine Anziehung zu wehren.
„Und ob das geht.“ Cedric schlang seinen Arm um Darias Mitte und zog sie an sich. Dann senkte er den Kopf und küsste sie erneut.
Daria stemmte sich gegen ihn. Doch sie tat es nur mit halber Kraft. Ihr Körper sprach eine eindeutige Sprache und Cedric verstand es genau, sie zu lesen. Ihr erster Kuss war zärtlich und zurückhaltend gewesen. Doch dieser war es nicht.
Cedrics Kuss war hart und leidenschaftlich. Ihr ganzer Körper schien mit einem Mal in Flammen zu stehen, während sie die Augen schloss und ihre Arme um seine Schultern schlang. Warum fühlte es sich nur so verdammt gut an, ihn zu küssen?
Daria vergaß alles, was sie sagen und tun wollte. Es zählte jetzt nur noch das warme, pochende Gefühl in ihrer Mitte, das sich in ihrem ganzen Körper auszubreiten begann. Daria spürte die Lust, die sie lockte, und sie spürte auch, dass Cedric immer fordernder wurde. Sein Kuss wurde noch stürmischer und Darias Lippen brannten. Seine Hände erkundeten ihren Rücken und wanderten immer weiter nach unten. Nur ihre eigenen Bedenken sorgten dafür, dass sie nicht alles um sich herum vergaß.
Es gab keinen Grund, warum sie länger stillstand und ihn weiter küsste.
Doch da war eine Stimme in Darias Kopf, die sie fragte, wie es wäre, wenn sie all das zuließ, was er ihr gerade versprochen hatte. Wenn sie an seiner Seite eine neue Welt gestaltete? Der Gedanke lockte sie. Doch sie konnte sich ihm nicht hingeben.
Es hatte doch einen guten Grund für Aileens Entscheidung gegeben. Sie hatte die dunkle Magie gefürchtet, die dieser Glen praktiziert hatte. Was wollte Cedric wirklich? Konnte sie ihm vertrauen, nachdem er ihr eine ganze Menge Dinge verschwiegen hatte? Seine Hände brannten heiß auf ihrer Haut. Daria spürte den Widerhall seiner Berührung als unerträglich süßes Brennen in ihrer Mitte. Sie wollte Cedric. Sie begehrte ihn, wie sie noch nie jemanden begehrt hatte, und dass er ihr gestanden hatte, dass er sie liebte, machte es noch viel schwerer, ihm zu widerstehen.
Cedrics Zunge drang forsch in ihren Mund ein und Daria hatte das Gefühl, vor Hunger zu vergehen. Sie schob ihre Hände unter sein T-Shirt und spürte den starken Muskeln nach, die sich unter seiner warmen Haut verbargen.
Nein, das war nicht richtig.
Ach was! Eine Stimme in ihr schlug vor, endlich all den Anstand über Bord zu werfen und sich einfach nur diesem betörenden Gefühl hinzugeben. Sie wehrte sich schon so lange gegen seine Anziehungskraft und sie hatte genug davon. Ein Hunger war in Daria erwacht, den sie nicht kannte. Sie wollte mehr, viel mehr. Was war schon dabei?
„Bald gehörst du mir.“ Cedric flüsterte die Worte so leise, dass Daria sie erst mit einiger Verspätung verstand. „Wir werden die Welt regieren mit unserer neuen Macht.“
Doch dafür begriff sie sie umso heftiger. Sie nahm all ihre Kraft zusammen und löste ihre Hände von Cedrics Haut. Es bereitete ihr beinahe körperliche Schmerzen, sich zurückzuziehen. Doch endlich gelang es ihr, ihn von sich zu schieben.
„Niemals.“ Daria keuchte. Sie funkelte Cedric so wütend an, wie sie konnte. „Ich werde nicht mit dir die Welt regieren. So ein Unsinn.“
Doch er grinste lediglich. In seinen Augen lag ein schwärmerischer Glanz, seine Haare waren durcheinander und Daria spürte das sehnsuchtsvolle Brennen sofort wieder in sich, als sie ihn ansah.
„Überlege es dir noch einmal, meine Schöne.“ Cedric wollte wieder auf Daria zugehen.
Doch sie wich weiter zurück. Glücklicherweise war es bereits dunkel und auf dem Marktplatz war niemand mehr unterwegs. Der Regen prasselte immer noch unaufhörlich vom Himmel.
„Lass mich einfach nur in Ruhe.“ Daria brachte noch etwas mehr Sicherheitsabstand zwischen sich und Cedric.
„Du kannst es nicht mehr aufhalten.“ Ein Donnergrollen unterstrich Cedrics Worte.
„Doch, das kann ich.“ Daria hob die Hand, als ob der Ring an ihrem Finger eine Waffe wäre. „Ich werde das alles beenden, bevor es überhaupt begonnen hat. Ich werde mir einfach ein Auto wünschen oder ein Pony.“ Sie sah Cedric herausfordernd an.
Cedrics Gesichtsausdruck veränderte sich. Das Leichte und Lustige verschwand und er sah Daria ernst an. Vermutlich merkte er, dass sie keine Scherze machte.
„Daria, bitte.“ Es war mehr ein Flehen als ein Bitten.
Daria nahm es überrascht zur Kenntnis. Es kam ihr vor, als ob sich Cedric wirklich wünschte, dass sie nachgab. Warum war er sich nur so sicher, dass sie das tun würde? Warum hatte er ihr das alles erzählt? Hatte er wirklich gehofft, dass sie ihn bei seinem Plan unterstützen wollte?
Doch das kam gar nicht infrage. Daria konnte nicht zulassen, dass sich eine Macht in der Welt ausbreitete, von der sie kaum eine Ahnung hatte. Plötzlich ging alles ganz schnell.
Daria sah Cedric fest in die Augen. „Nein. Ich kann das nicht tun. Ich werde einen Schlussstrich setzen. Ich wünsche mir, dass …“
Daria kam nicht weiter, denn in diesem Moment hob Cedric die Hand und gleichzeitig ertönte ein lauter Knall.
Daria zuckte zusammen und sah sich erschrocken um.
„Es tut mir leid.“ Cedric sah sie mit ernstem Bedauern an. „Ich hatte gehofft, dass es nicht so weit kommen muss, aber du hast anders entschieden.“
Darias Blick huschte erschrocken über den Marktplatz. Dorthin, wo der Knall hergekommen war. Irgendwo hinter einer Hausecke hörte Daria das Geräusch davoneilender Schritte.
Es war ein Schuss gewesen. Das wurde ihr in diesem Moment bewusst, aber nicht nur das. Daria sah Cedric an. Das sanfte Lächeln lag immer noch auf seinen Lippen. Doch sein Gesichtsausdruck war erstarrt.
Daria sah hinab und erkannte einen dunklen Fleck auf seiner Brust, der sich in rasanter Geschwindigkeit ausbreitete. Cedric war von einer Kugel getroffen worden. Esras Vision war zur Wahrheit geworden. Aber nicht so, wie Esra es vorhergesehen hatte.
Darias Blut gefror ihr in den Adern. Das war kein Zufall und es waren auch keine Feinde von Cedric, die seinen Tod gewollt hatten. Er hatte das alles selbst geplant. Sie konnte nicht glauben, dass er das wirklich getan hatte. Daria starrte Cedric an. Ungläubig sah sie, wie das Leben aus seinen Augen wich. Das Lächeln lag immer noch weich auf seinen Lippen, als ob er die Erinnerung an ihren stürmischen Kuss mit in den Tod nehmen wollte.
Cedric taumelte und jetzt verließen ihn seine Kräfte. Er sank zu Boden. Daria starrte ihn an. Sie brauchte keinen Arzt mehr rufen. Dafür war keine Zeit mehr. Sein Leben hing an einem seidenen Faden. Er würde sterben, wenn Daria nichts dagegen unternahm. Sie war die Einzige, die sein Leben jetzt noch retten konnte, und sie musste sich schnell entscheiden.
In all das Durcheinander in ihrem Kopf mischte sich ein giftiger Gedanke. Was war, wenn er nicht nur diesen letzten Schritt geplant hatte, sondern wenn er die ganze Zeit schon auf diesen Moment hingearbeitet hatte? Was war, wenn er hinter all den Gefahren steckte, die Daria ein um das andere Mal einen ihrer kostbaren Wünsche entlockt hatten?
Was war, wenn er sie von Anfang an in diese Richtung gesteuert hatte? Hatte er den Unfall von Caspar auf dem Marktplatz provoziert? Hatte er die Raben auf das Auto von Caspars Vater gehetzt, sodass es in die Menschenmenge gerast war? Und hatte er das Tor mit Absicht angefasst, weil er wusste, dass es ihn schwer verletzen würde?
Ein kalter Schauer nach dem anderen rieselte Daria über den Rücken, als sie begriff, dass es genauso gewesen sein musste. Daria hasste sich für ihre Dummheit. Wie hatte sie das nicht bemerken können?
Was war, wenn alles eine Lüge war und er sie nur umgarnt hatte, um sie jetzt an diesen Punkt zu bringen und sie zu zwingen, ihren letzten Wunsch für ihn zu geben? Das Leben eines Menschen zu retten, war vermutlich die selbstloseste Sache, die man tun konnte. Waren seine Gefühle nur Teil einer riesigen Lüge?
Daria sah Cedric an. War er dazu fähig? Trotz der Schmerzen, die er haben musste, blieb er ganz ruhig und ließ sie nicht aus den Augen.
„Daria, bitte, rette mich.“ Die Worte aus seinem Mund waren kaum zu hören, aber dennoch gingen sie wie ein Stromschlag durch Darias Körper. Ihre Hände zitterten und sie spürte ihre Beine kaum noch.
Gleichzeitig rasten ihre Gedanken. Was sollte sie jetzt tun? Wenn sie nicht das Opfer seiner Intrigen gewesen wäre, hätte Daria Cedric für die Genialität seines Planes beglückwünschen müssen. Er hatte alles genau bedacht.
Darias Herz brannte vor Schmerz. Es schien sich in ihrer Brust zu winden, als ob es ihr aus dem Körper springen wollte. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Daria ließ sich zu Boden sinken. Alles war jetzt egal, denn ihre Gefühle für Cedric konnte sie nicht einfach so abschalten. Ja, verdammt, auch sie fühlte so unglaublich viel für ihn und dass er jetzt hier vor ihr im Sterben lag, zerriss ihr das Herz.
Sie musste sich entscheiden, und egal wie sie sich entschied, es würde alles ändern. Entweder war sie verantwortlich für Cedrics Tod oder dafür, dass er Unheil über die Welt bringen würde.
Im trüben Schein der Laternen wirkten Cedrics Gesichtszüge weich und warm. Doch er lag leblos auf dem Boden. Er nahm ihre Hand und drückte sie ganz sanft. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als ob es ihm reichte, sie einfach nur anzusehen, um glücklich zu sein. Seine Augen fielen ganz langsam zu und dann verlor er das Bewusstsein.
Darias Herz schien stehen zu bleiben. Sie schluchzte und drückte seine Hand, als ob das reichen würde, um ihn zurückzuholen, und da wurde ihr klar: Nein, sie würde es nicht ertragen können, wenn er starb. Sie konnte ihn nicht verlieren, selbst wenn sie ihn dann auch nicht mehr lieben konnte.
Hastig sah sie hinab. Sein Atem ging flach und es würde eine Sache von Sekunden sein, bis er starb. Kein Rettungswagen konnte schnell genug hier sein, um sein Leben noch zu retten. Sie war die Einzige, die das noch vermochte. Tränen liefen ihr über die Wangen und ein heftiges Schluchzen ließ ihren Körper erbeben.
Es gab nur noch einen Weg.
Daria spürte, wie sich die Vernunft in ihr dagegen auflehnte, ihm zu helfen. Er hatte das alles vorbereitet und sie war blind und taub in seine Falle getappt. Die Wut, die Daria spürte, richtete sich nun gegen sie selbst.
Einen Moment lang waren da noch die Bedenken, dass sie mit diesem Wunsch das Schicksal der Welt besiegelte. Sie wusste nicht, was sie anrichten würde, wenn sie diesen letzten Wunsch äußerte.
Sie wusste es wirklich nicht, sie wusste nur, dass sie neben einem Menschen saß, der ihr unfassbar viel bedeutete und der im Sterben lag, und dass sie sein Leben retten konnte. Sie nahm Cedrics Hand in die ihre. Noch war sie warm. Es gab nur eine Entscheidung, die sie treffen konnte, und Cedric hatte es von Anfang an gewusst.
„Ich wünsche mir, dass Cedric unverletzt ist.“ Daria hatte die Worte klar und deutlich gesprochen. Dann schloss sie die Augen und betete still, dass sich auch dieser Wunsch erfüllen würde, so wie es die vergangenen getan hatten.
Ein Schauer wanderte über Darias Kopf und kroch ihren Nacken hinab.
Langsam öffnete sie die Augen und legte Cedrics leblose Hand auf seine Brust.
Wie hatte sie sich nur in all das hineinziehen lassen können?
Sie würde Cedric nicht verzeihen, was er getan hatte. Doch wenn er starb, dann konnte sie sich selbst nicht verzeihen, dass sie zu lange gezögert hatte. Cedrics Hand blieb leblos auf seiner Brust liegen und ein mörderischer Schmerz schnürte Daria die Kehle zu. Der Nebelsteinring war nicht allmächtig. Daria hatte die Grenzen seines Könnens schon ausgelotet. Er konnte keine Toten wieder zum Leben erwecken und vielleicht war Cedric schon einen Schritt von der Welt der Lebenden zu weit entfernt gewesen.
Daria erhob sich. „Wie konntest du das nur tun?“ Ihre Stimme kratzte, während sie Cedrics toten Körper anschrie. „Du hast dich selbst umgebracht, um dein glorreiches Werk zu vollenden.“ Die Worte klangen laut und kalt über den Marktplatz. „Es war der größte Fehler meines Lebens, dass ich dir vertraut habe.“ Daria schrie ihm die Worte entgegen. Es war leichter, wütend zu sein, als den Schmerz zuzulassen, der in ihrem Herzen brannte. Sie wusste, dass sie das nicht ertragen konnte. Aber das musste sie wohl.
Sie schwieg augenblicklich und eine gespenstische Ruhe breitete sich um sie herum aus, die nur vom leisen Rauschen des Regens unterbrochen wurde. Sie wusste nicht, wie lange sie da gestanden hatte, sie wusste nur, dass sie sich von ihm verabschieden musste. Ein allerletztes Mal. Ein heftiges Schluchzen nach dem anderen ließ ihren Körper erbeben. Sie kniete sich neben ihn und zog Cedric in ihre Arme. Sie wiegte ihn still, während in ihr alles zerriss. Der Regen prasselte auf sie hinab und ihre Tränen mischten sich mit den Regentropfen.
Und da hörte es Daria. Cedric holte tief Luft, erst einmal, dann noch einmal. Es dauerte nur einen kurzen Moment, dann richtete er sich ganz langsam auf.
Daria sah Cedric einfach nur an. Das konnte nicht sein. Ein siegessicheres Lächeln lag auf seinen Lippen. Er sah zu seiner Brust hinab und registrierte zufrieden, dass seine Schussverletzung verschwunden war. Dann sah er ihr in die Augen, das Grau seiner Iris wirkte dunkel. Er grinste Daria an. Dann stand er auf und streckte sich, als ob er nur kurz geschlafen hätte.
Hastig sprang Daria auf und stolperte von ihm fort.
Cedric folgte ihr. „Danke. Ich wusste, dass du dasselbe für mich fühlst wie ich für dich.“ Ein weicher Blick lag in seinen Augen. „Unsere Liebe wird das alles überstehen. Es tut mir leid, dass ich diesen Weg wählen musste, aber ich hatte keine andere Wahl.“
Daria bekam kein Wort heraus. Alles in ihr war erstarrt. Sie war erleichtert, dass Cedric nicht tot war, gleichzeitig war sie entsetzt über das, was sie getan hatte. Der letzte Wunsch war verbraucht und Daria hatte keine Ahnung, was nun geschehen würde. Doch am allermeisten verletzte es sie, dass Cedric sie hereingelegt hatte.
„Wie konntest du mir das nur antun?“ Daria hatte es endlich geschafft, ihre Wut in Worte zu fassen.
„Ich habe es getan, weil ich dich liebe und weil das der richtige Weg ist. Komm mit mir.“ Er hielt ihr seine Hand entgegen.
Daria starrte sie an. Es wäre so einfach, jetzt mit ihm zu gehen. Etwas in ihr schrie danach, es einfach zu tun. Aber es war nicht richtig.
„Niemals, Cedric.“ Sie schüttelte den Kopf. „Verschwinde! Geh mir aus den Augen!“
„Wie du willst.“ Cedric zuckte mit den Schultern. „Ich warte auf dich. Du weißt, wo du mich finden kannst. Du wirst schon noch einsehen, dass dein Platz an meiner Seite ist.“ Cedric zwinkerte Daria zu. Dann ging er auf den Durchgang zu und verschwand schon bald in der Dunkelheit.