Cupido stand draußen vor Witkop Jansens Büro, als er die WhatsApp las: Habe gerade einen Hinweis zu Callie bekommen. Eine Frau war sich ganz sicher, dass sie ihn vor einem Haus in der Brandwachtstraat gesehen hat. Ruf mich an!
Es war Veronica Adams von der Campus-Security.
Er blieb stehen und wählte ihre Nummer. »War der Tipp glaubwürdig?«, fragte er, nachdem sie sich gemeldet hatte.
»Unsere Mitarbeiterin, die den Anruf angenommen hat, sagt, dass die Frau sehr aufgeregt klang. Ja, sie hält sie für glaubwürdig.«
»Hast du die Nummer?«
»Von der Anruferin? Nein, sie hat sie uns nicht gegeben. Wollte sicher nicht mit hineingezogen werden. So ist das hier bei uns in Stellenbosch.«
»Mist! Also, was hat sie gesagt?«
»Zwei Männer hätten Callie am Freitagabend vor dem Haus aus einem Auto gezerrt. Die Frau ist vorbeigefahren, sie hat gesagt, sie wäre genau neben ihnen gewesen.«
»War das Fahrzeug ein Chevy Spark?«
»Das hat sie nicht gesagt.«
Cupido dachte einen Augenblick lang nach. »In Ordnung. Gib mir mal die Adresse, aber ich bin nicht überzeugt.«
»Immerhin etwas«, erwiderte Adams. »Das ist der einzige sachdienliche Hinweis, den wir in der ganzen Woche erhalten haben.«
Cupido machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück zu Witkop Jansens Büro.
Lettie Boonstra saß ganz hinten in dem Restaurant an einem Vierertisch, eine Flasche Weißwein in einem Kühler neben sich und ein volles Glas vor sich. Ein dicker Aktenordner lag neben ihrem Handy auf dem Tisch. Sie lächelte, als Sandra auf sie zukam.
»Bitte setz dich und schau nicht so besorgt. Ich glaube, dass wir gute Freundinnen werden können, du und ich.«
Sandra setzte sich. Lettie winkte einen Kellner herbei: »Bitte bringen Sie uns ein zweites Glas.«
»Ich möchte jetzt lieber keinen Wein trinken«, erwiderte Sandra. Sie bekam kaum Luft; sie erstickte fast vor Angst.
»Bringen Sie uns ein Glas«, sagte Lettie zu dem Kellner, »und die Speisekarte.«
Sandra legte ihre Handtasche auf den Stuhl neben sich. Sie wusste, dass ihre Hände zitterten, und umklammerte sie auf ihrem Schoß. Sie schaute die Frau ihr gegenüber an. Lettie musterte sie mit einem leichten, amüsierten Lächeln und sagte: »Ich brenne darauf, zu fragen, was du mit meinem Mann angestellt hast, aber dazu kommen wir später noch. Schau dir erst mal das hier an.«
Lettie Boonstra nahm ihr Handy, schaltete es ein, blickte sich prüfend um, ob jemand in der Nähe war, und reichte es Sandra. »Spiel das Video ab. Ich sag dir Bescheid, wenn jemand kommt.«
Sandra nahm das Handy.
»Ach, du Arme«, sagte Lettie. »Du zitterst ja! Beruhige dich, ich bin mir sicher, dass wir zusammen eine Lösung finden werden. Auf, und jetzt schau dir das Video an.«
Sandra startete es.
Man sah die Treppe in Jasper Boonstras Haus, aber sie war verlassen. Sie war von oben aufgenommen worden; die Kamera musste irgendwo an der Decke versteckt gewesen sein. Aber wo? Da war doch nur …
Dann kapierte sie es. »Der Ritter«, sagte sie zu Lettie.
»Genau. Im Brustpanzer des Ritters. Symbolisch, oder?«
Auf dem Video kam Sandra unten um die Ecke, Jasper Boonstra hinter ihr. Man hörte nichts; man sah nur zwei Leute, die die Treppe hinaufgingen und miteinander redeten. Das Gesicht der Frau war starr vor Anspannung, der Mann hatte die Augen auf ihren Hintern gerichtet und einen zynischen Zug um den Mund.
Jaspers Lippen bewegten sich. Niemals ist eine lange Zeit, Sandra – Sandra las es an seinen Lippen ab und erinnerte sich.
Auch an ihre Antwort: Wie bitte?
Du hast gesagt, ich würde niemals das Privileg haben, dich zu vögeln. Ich sage: Niemals ist eine lange Zeit.
Auf dem Video sah man, wie sich Sandras Augen bei der Erniedrigung verengten.
Du musst dich zwei Dinge fragen. Erstens: Wie sehr brauchst du die drei Millionen? Ich meine, wenn es hart auf hart kommt, wie es so schön heißt.
Fick dich! Ihr Gesicht war wutverzerrt.
Und jetzt erschien Jaspers Grinsen auf dem Display: Wir alle haben unseren Preis, Sandra. Welcher ist deiner? Sind drei Millionen nicht genug für dich? Für ein paar Tage Arbeit und ein bisschen Spaß?
Fick dich.
Dann stand sie genau vor der Kamera, als wolle sie vor Boonstra ausweichen; sie drehte sich um und die Schwerthand berührte ihren Po. Er stand hinter ihr, und man sah nur ihre Arme, als sie ihn stieß.
Sie sah die Überraschung in seinem Gesicht, eingefangen in einem einzigen Augenblick. Und während er das Gleichgewicht verlor und hintenüberfiel, einen Augenblick der Wut, des Wie-kannst-du-nur? Doch dann war sein Kopf nicht mehr zu sehen, und er stürzte die Treppe hinunter, rutschte ein Stück und blieb reglos liegen.
Das Video endete.
»Daher weiß ich es«, sagte Lettie.
Sandras Mund war trocken, und sie zitterte am ganzen Leib.
»Ich schwöre, es war keine Absicht! Es war ein Unfall! Er hat die ganze Zeit solche schrecklichen Sachen zu mir gesagt. Wenn man genau hinschaut, sieht man, wie er redet. Er hat gesagt …«
Lettie Boonstra nahm Sandra das Handy ab. »Ich weiß. Es gibt ein Audio zu dem Film, ich habe nur das Handy auf lautlos gestellt, weil hier so viel Publikum ist. Aber ich glaube, du verstehst mich nicht. Ich bin hier, um mich bei dir zu bedanken.«
»Er wollte mich … Ich dachte, er hätte mich begrapscht …« Der ganze Druck, die Anspannung, die Angst und der Stress ließen Sandra schließlich zusammenbrechen. Nicht langsam und allmählich, sondern wie ein Damm, der plötzlich brach. Sie zitterte, weinte und zuckte am ganzen Körper.
»Hast du gehört, was ich gesagt habe? Ich möchte dir danken; dein Geheimnis bleibt gewahrt.« Lettie Boonstra bedeutete dem Kellner, er solle noch einen Augenblick warten, bis er das Weinglas und die Speisekarte brachte.
Sie streckte den Arm aus und nahm Sandras Hand.
Griessel widerstrebte es, noch einmal zurück nach Baronsberg fahren zu müssen, weil er weder Lust auf den Zirkus noch auf die Suche nach einem Millionär hatte, der außer Landes geflüchtet war. Er wollte viel lieber an der Jagd auf Buddie Falk teilnehmen.
Er wusste, was seine Therapeutin dazu sagen würde.
Aber sein Eifer galt nicht nur der Rettung von Callie de Bruin, sondern es ging auch um seinen Sohn Fritz.
Wenn er Callie retten konnte, würde er auch seine Beziehung zu Fritz retten.
Oder so ähnlich. Die Therapeutin hatte ihm erklärt, dass er an »allmächtiger Verantwortungsschuld« litte. Allmächtig, weil er das Gefühl hatte, er habe die Fähigkeit, alles zu tun und alles und jeden zu schützen. Das sei typisch für Polizisten, weil sie sich an die Macht gewöhnt hätten, schützen zu können und der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Und das hatte einen großen Einfluss auf die Beziehung zu seiner Familie. Man sah Mord und Totschlag um sich herum, und man wusste, dass man dafür verantwortlich war, seine Frau und seine Kinder zu schützen. Doch dann erkannte man, dass man es nicht konnte. Das trieb einen in die Depression. Das trieb einen zum Saufen.
Das alles dachte er, während er nach Baronsberg fuhr, um das Videomaterial abzuholen, damit die Analysten in der Bezirkszentrale es sich ansehen konnten.
Cupido hatte Witkop Jansen von dem Hinweis auf das Haus in der Brandwachtstraat erzählt. Oberstleutnant Mbali Kaleni war immer noch da. Alle waren skeptisch, hatten aber zugestimmt, dass man es sich zumindest mal ansehen musste.
Deswegen hatte Vaughn Kaptein Rowen Geneke gebeten, bei Gericht die Anordnung nach Art. 205 zu besorgen, um Buddie Falks Handy überprüfen und orten zu können, damit er selbst unverzüglich zum Haus in der Brandwachtstraat fahren konnte.
Er machte sich auf den Weg. Zunächst fuhr er an dem Haus vorbei, mit etwa vierzig Stundenkilometern, einer unauffälligen Geschwindigkeit in geschlossenen Ortschaften. Er sah vier Autos vor dem Haus stehen.
Eines davon war der Chevrolet Spark.
Sandra wurde minutenlang von Weinkrämpfen geschüttelt, während Lettie Boonstra geduldig ihren Wein trank und hin und wieder mitleidige Laute ausstieß.
Dann sagte Sandra schließlich, mit dünner Stimme wie ein Kind, das Trost suchte: »Du willst dich bei mir bedanken? Du willst mich nicht verraten?«
Lettie holte Taschentücher aus ihrer Handtasche, sagte dann: »Richtig«, und winkte den Keller wieder herbei, damit er Glas und Speisekarte brachte.
Mit einem nervösen Blick auf Sandra reichte er ihnen die Karten und stellte das Glas auf den Tisch. Als er sich wieder entfernte, sagte Lettie: »Ich kann mir vorstellen, was du durchgemacht hast. Es tut mir leid, dass ich nicht früher etwas gesagt habe. Ich hätte nicht geglaubt, dass dieser heruntergekommene Leutnant von der Polizei so schlau wäre. Aber als er dich heute Vormittag allein zurückbehalten hat, war mir klar, dass er etwas wusste.«
Sandra trocknete ihre Tränen, wischte sich die verschmierte Mascara weg und nickte nur.
»So, und jetzt trinken wir einen Schluck Wein. Dann geht es dir gleich viel besser. Danach bestellen wir uns etwas Leckeres zu essen, und ich erzähle dir die ganze Geschichte von Anfang an.«
»Danke«, schluchzte Sandra, und dann flossen wieder die Tränen.
Griessel musste sich zwischen den bellenden Hunden der K9-Einheit aus Paarl hindurchdrängen, um zum Wachhäuschen von Baronsberg zu gelangen. Erin Riddles saß vor dem Videomonitor.
»Die Kollegen von der Hundestaffel möchten wissen, ob sie noch bleiben sollen.«
»Nein«, sagte Bennie. »Sie können gehen. Der Suchtrupp auch.«
Erin Riddles stand auf. »Dann schauen Sie sich doch schon mal die Aufnahmen an. Ich sage solange den Kollegen Bescheid.«
Griessel setzte sich. Der Mann von der Security zeigte ihm die beiden Ausschnitte; zuerst den, auf dem man sah, wie Sandra bei den Garagen ankam und außerhalb der Kamerareichweite parkte. Er ließ das Video noch einmal zurücklaufen bis zu der Stelle, an der man die beste Aussicht auf das Heck des EcoSports hatte. Er hielt ein Plastiklineal an den Bildschirm und maß den Abstand von der Reserveradabdeckung hinten auf der Heckklappe des Fords bis zum Boden. »Hier, sehen Sie, wie viel Platz da ist?«
Anschließend spulte der Wachmann vor zum folgenden Ausschnitt, auf dem Sandra rückwärts die Garage verließ, stoppte die Aufnahme und maß an derselben Stelle. »Sehen Sie? Da ist ein ganz deutlicher Unterschied.«
Griessel sah es. Und noch etwas fiel ihm auf, nämlich die Kofferraumabdeckung, die gerade so hinter der Heckscheibe erkennbar war.
»Bitte zeigen Sie mir noch mal den ersten Ausschnitt«, bat er.
Der Wachmann spulte zurück zu der Stelle, wo Sandra hineinfuhr.
Die Abdeckung saß ordentlich und gerade.
»Jetzt noch mal den zweiten.«
Griessel sah genau hin, als der EcoSport rückwärts ins Bild kam. Die Abdeckung war schief. Als ob irgendetwas – oder irgendjemand – ein wenig zu groß war, um darunter zu passen.
Und noch etwas fand er bemerkenswert …
Sandra Steenbergs Körperhaltung unterschied sich auf beiden Aufnahmen erheblich.
Auf der ersten, bei ihrer Ankunft, saß sie gelassen zurückgelehnt im Fahrersitz, eine Hand am Steuer.
Als sie die Garage wieder verließ, wendete und losfuhr, umklammerte sie das Lenkrad mit beiden Händen und war steif nach vorn gebeugt, als sei sie sehr in Eile. Und verängstigt.
Obwohl die Auflösung recht gut war, konnte man keine genauen Einzelheiten erkennen, daher verbot es sich, ihren Gesichtsausdruck zu interpretieren. Es hätte durchaus sein können, dass Griessels Phantasie ihm einen Streich spielte, wenn er meinte, ein Stirnrunzeln und Anspannung darauf zu erkennen.
Aber es gab keinen Zweifel daran, dass irgendetwas den Ford hinten hinunterdrückte. Irgendetwas, das ein klein wenig zu groß war, um in den Kofferraum zu passen, so dass die Abdeckung nicht gerade abschloss. Etwas wie ein Mann zwischen achtzig und neunzig Kilo.
Was Griessel störte, was er nicht richtig einordnen konnte, war die Nervosität der Frau. Hier erkannte er sie wieder, auf dem Video, durch ihre Haltung am Steuer. Und heute Morgen, dieses Schwitzen. Angenommen, sie hatte Boonstra tatsächlich geholfen, ungesehen das Weingut zu verlassen – das war doch keine Straftat. So etwas konnte man durchaus der Polizei gegenüber zugeben, wenn es hart auf hart kam. Sie hätte sagen können: »Ja, ich habe ihn herausgebracht. Er hat mich dafür bezahlt. Na und?«
Warum dann dieses offensichtliche Maß an Besorgnis?
Hatte sie Angst, ihr Mann würde es herausfinden?
Schon möglich. Aber warum?
Er fragte die Wache, ob die Internetverbindung ausreichend sei, und als der Mann dies bestätigte, bat ihn Griessel, die Videoausschnitte direkt an die KTU zu schicken.
Er war sich ziemlich sicher, dass Sandra Steenberg Jasper Boonstra in ihrem EcoSport hier herausgebracht hatte. Sobald die Kollegen von der Kriminaltechnik bestätigt hatten, dass ihr Wagen beim Herausfahren eine größere Zuladung gehabt hatte als zuvor, würde er sie damit konfrontieren, denn inzwischen hatte sie sich zumindest der Justizbehinderung schuldig gemacht.
»Weißt du«, sagte Lettie Boonstra, »ich war in einer unmöglichen Situation. Jasper und ich haben im Dezember 1984 geheiratet, mit Gütertrennung. Einen Monat, nachdem der Zugewinnausgleich bei uns Gesetz wurde. Das bedeutet, dass ich bei einer Scheidung die Hälfte dessen bekommen würde, was seit der Hochzeit an Vermögen hinzugekommen war. Jetzt denkst du sicher: Hat die ein Glück, sie hat für den Rest ihres Lebens ausgesorgt. Schließlich ist Jasper laut Presseberichten immer noch um die dreihundertfünfzig Millionen Dollar schwer. Das Problem ist allerdings, dass Jasper offiziell kaum etwas gehört. Na ja, was heißt kaum etwas, immerhin hat er an die drei Millionen auf dem Konto für die täglichen Ausgaben, die allgemeinen Lebenshaltungskosten. Alles andere aber läuft nicht auf seinen Namen, Immobilien, Bargeld, Aktien und was noch alles. Er hat sein Vermögen geschickt versteckt, in jedem Steuerschlupfloch auf der ganzen Welt, in Unternehmen, auf Konten und in Schließfächern. Meinhardt Sarazin, diese falsche Schlange, weiß über alles Bescheid, aber nur Jasper kannte die Einzelheiten, die Orte, Nummern und Codes.«
Sie trank einen Schluck Wein. »Damit du mich richtig verstehst: Nicht nur durch eine Scheidung hätte ich mittellos dagestanden. Auch wenn Jasper etwas zugestoßen wäre oder er das Land verlassen hätte, wären mir nur Peanuts geblieben. Und das, nachdem ich mein Leben lang für ihn Opfer gebracht habe und Demütigung erdulden musste. Wobei ich nicht der Meinung bin, dass sich eine Frau gottergeben mit ihrem Schicksal abfinden muss. Wenn man etwas haben will, muss man etwas dafür tun. Ich habe also einen Privatdetektiv engagiert, der mich beraten hat, und ich habe zwei Kameras im Haus versteckt. Eine in der Ritterrüstung und eine im Arbeitszimmer, im Bücherregal, denn ich wollte zwei Dinge herausfinden: um wie viel er mich betrügt und wo er das Schwarzbuch mit den Nummern und Codes versteckt. Sein Schwarzbuch. Er hat es gehasst, wenn ich es so nannte, aber der Name passt. Ich dachte mir, wenn ich das in die Hände bekommen könnte und dazu Kameraaufnahmen von ein, zwei Geliebten hätte, könnte das den Scheidungsrichter womöglich zu meinen Gunsten beeinflussen.
Das wären Beweise dafür gewesen, dass Jasper erstens Vermögen hatte und er mir zweitens untreu war. Ah ja, und einen Anwalt habe ich mir auch genommen, so einen blassen, ängstlichen jungen Mann in Durbanville, der mir riet, mir keine allzu großen Hoffnungen zu machen, denn Jasper sei schlau, und wenn das Schwarzbuch nur Codes enthalte, beweise es gar nichts. Außerdem habe Jasper genügend Geld, um eine Scheidung unendlich lange hinzuziehen und in der Zwischenzeit sein Vermögen anderswohin zu verlagern. Ich glaube, dieser Hasenfuß von einem Anwalt hatte einfach nur Angst, sich mit Jasper anzulegen, aber nun ja, was sollte ich machen? Das Buch war meine einzige Hoffnung. Aber da gab es noch einen Haken: Ich konnte auf der Kamera in seinem Arbeitszimmer zwar sehen, wo er das Buch aufbewahrte, aber den Schlüssel zu dieser Schublade hat er mit seinem Leben bewacht. Wohin er auch ging, er trug ihn in seinem Portemonnaie mit sich. Wenn er zu Hause war, hat er ihn in seiner Hose oder Jackentasche gehabt. Wenn er schlief, lag er in der Schublade neben seinem Bett. Egal, wie sehr ich es versuchte, ich konnte ihn nicht in die Hände bekommen.«
In diesem Augenblick klingelte durchdringend Lettie Boonstras Handy.
Sie warf einen Blick auf das Display und sagte zu Sandra: »Jetzt pass mal gut auf. Die nächsten zehn Minuten werden unser beider Leben für immer verändern. Ich werde diesen Anruf beantworten, und dann rufe ich diesen Bennie Dingsda an. Und dann, liebe Sandra, sind wir frei.«
Sie nahm den Anruf an: »Hallo?« Dann sagte sie nur: »Danke … Danke … Danke. Okay, vielen Dank …«, und beendete das Gespräch.
Als Griessel den Konferenzraum der Kripo betrat, herrschte bereits hektische Aktivität. Vaughn Cupido und Witkop Jansen saßen an einem Tisch, Rowen Geneke hielt mit ernstem Gesicht das Handy ans Ohr.
Er spürte die Elektrizität und wusste, dass etwas passiert war.
Cupido blickte von einem Computerbildschirm auf, auf dem Google Earth geöffnet war.
»Wir haben ihn, Partner!«, verkündete Vaughn und deutete auf den Monitor. »Buddie Falk ist hier, in einem Haus in der Brandwachtstraat. Sieht aus, als würde es über Airbnb vermietet; wir warten nur auf die Bestätigung. Und wenn er da ist, Benna, ist Callie auch da. Da wette ich mit dir.«
Rowen Geneke beendete den Anruf und sagte: »Meine Herren, das wird nicht so einfach sein. Die anderen Autos vor dem Haus – die Kollegen vom organisierten Verbrechen haben die Kennzeichen für uns überprüft. Es sind Fahrzeuge von Trojanern. Definitiv.«
»Mist!«, fluchte Cupido. »Söldner.«
»Genau«, sagte Geneke und fügte sarkastisch hinzu: »Ausgerüstet mit Waffen, die der SAPD ihnen besorgt hat.«
Witkop Jansen durchbrach das drückende Schweigen, das darauf folgte. »Rufen Sie Colonel Zamisa an«, sagte er. Er meinte Oberstleutnant Phila Zamisa, den Chef des Spezialeinsatzkommandos Boland. Der Mann, dem Griessel vor drei Monaten das Leben gerettet hatte. »Sag Bescheid, dass wir ihn und sein Team brauchen. Aber sie sollen unauffällig anrücken.«
Griessel wollte gerade ankündigen, dass er dabei sein wollte, wenn das SEK zuschlug, er habe das Recht dazu. Aber bevor er etwas sagen konnte, klingelte sein Handy. Die Nummer kam ihm irgendwie bekannt vor.
Lettie Boonstra schaute Sandra an. »Und jetzt folgt Schritt zwei. Hör gut zu und genieße es.«
Sandra verfolgte, wie Lettie eine Nummer in ihrer Anrufliste suchte, sie aufrief und wählte. Dabei sah sie Sandra an und lächelte.
»Hallo, Bennie? Hier ist Lettie Boonstra. Wie heißt noch mal das Formular, das man braucht, wenn die Suche nach einer vermissten Person abgebrochen werden soll? – Ja, genau. Also, Sie können schon mal ein SAPS92 vorbereiten. Jasper hat mich eben angerufen. Er hat nicht gesagt, wo er ist, aber die Nummer beginnt mit 264. Ich glaube, das ist Namibia. Er wird also nicht mehr vermisst, und Sie können die Suche mit sofortiger Wirkung abblasen. Nein, er hat nur gesagt, dass wir ihn nicht kriegen würden, denn die Polizei sei zu inkompetent und ich hätte nicht genügend Geld. Ja, natürlich, Augenblick …« Sie öffnete erneut die Anrufliste las langsam und deutlich die namibische Nummer vom Display ab. Sie hörte Griessel einen Augenblick zu. Dann sagte sie: »Natürlich. Wohin soll ich kommen, um zu unterschreiben? Okay. Passt Ihnen fünfzehn Uhr? Ah, ich verstehe. Ja, wenn es nötig sein sollte, werde ich die Presse informieren. Gut. Gut, vielen Dank, Bennie. Wiederhören.«
Lettie seufzte zufrieden, ihr Grinsen wurde noch breiter. Sie sagte zu Sandra: »Komm, bestellen wir uns schnell etwas zu essen, denn ich soll um drei auf der Wache sein.«
Griessel informierte seine Kollegen im Konferenzraum, dass sich Jasper Boonstra laut seiner Frau in Namibia aufhielte. »Sie will, dass wir die Suche nach ihm einstellen.«
»Verdammt!«, fluchte Cupido, und es war, als würde mit einem Mal die gesamte Luft aus dem Raum gesaugt.
Witkop Jansen rieb sich den Schnäuzer. »Herrje!«
Griessel wartete auf eine weitere Reaktion des Oberstleutnants.
»Diese bescheuerten reichen Whiteys!«, schimpfte Cupido. »Und dafür der ganze Einsatz! Die vielen Arbeitsstunden, die viele Manpower …«
»Typisch Stellenbosch«, seufzte Jansen. »Ich rufe den Commissioner an. Wir werden eine Pressekonferenz ausrichten müssen.«
»Mevrou Boonstra hat sich bereit erklärt, mit der Presse zu reden. Sie kommt um fünfzehn Uhr.«
»Sagen Sie dem Pressesprecher Bescheid. Die sollen das auf der Wache in der Innenstadt regeln, bloß nicht hier.«
»In Ordnung, Oberstleutnant«, sagte Griessel.
Aber er rief nicht als Erstes den Pressesprecher an, sondern wählte zuerst die Nummer in Namibia, die ihm Lettie Boonstra vorgelesen hatte.
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Bennie traute dem Braten nicht.
»Am besten fange ich ganz von vorn an«, sagte Lettie Boonstra. »Mein Vater war Klempner in Vredendal. Ich bin eines von drei Geschwistern. Jasper habe ich hier in Stellenbosch an der Uni kennengelernt. Ich habe auf Lehramt studiert. Er war damals … charmant, man kann es nicht anders sagen. Auch intelligent natürlich, aber hauptsächlich umwerfend charmant. Er war nicht hübsch und nicht hässlich, ganz normal eben. Er hatte ziemlich runde Wangen, doch sein Charme machte ihn attraktiv; er bezauberte einfach alle. Er besaß das Talent, Leute dazu zu bewegen, bestimmte Dinge zu tun, auf eine ganz subtile, unauffällige Art. Und er hatte einen wunderbaren Sinn für Humor. Schon damals gelang es ihm geschickt, Selbstvertrauen vorzutäuschen. Allerdings nicht so, dass er arrogant wirkte; sondern ganz natürlich. Man wusste sofort, dass er es einmal weit bringen würde. Man hat diesen Ehrgeiz gespürt, diesen unbedingten Willen zum Erfolg, und nie im Leben wäre man darauf gekommen, dass er Komplexe hätte. Ich habe mich in ihn verliebt. Es ging ziemlich schnell; ich war im zweiten Studienjahr. An dem Tag, an dem er mir einen Heiratsantrag machte, sagte er: ›Lettie, wir werden reich sein.‹ Ich habe nie daran gezweifelt. Und weißt du, die ersten fünf, sechs Jahre waren wirklich schön. Wir hatten nichts. Ich habe unterrichtet, er hat seinen Abschluss gemacht und angefangen zu arbeiten, wir haben uns eingerichtet, und wir waren glücklich. Es war dieses Gefühl: Wir arbeiten hart und werden dafür belohnt. Bis der Erfolg kam. Dann wurde es … Was mich an Jasper befremdete, war, dass er unbedingt so mit unserem Geld protzen musste. Die dicken Autos, das Haus, die Stereoanlage, die teuren Uhren, die reichen Freunde … Aber andererseits gönnte ich ihm diesen Erfolg, denn er hatte das Geld ja schließlich verdient, und ich war die mit dem mickrigen Gehalt. Ich hörte ihn reden: Dieses Auto hat soundso viel gekostet, und das Grundstück in Plettenbaai ist soundso viel wert, und ich erlebte, wie er alte Freunde zugunsten der neuen, reichen vernachlässigte, und allmählich wurde mir klar, dass er einen gewaltigen Sprung in der Schüssel hatte. Dass es ein Minderwertigkeitskomplex war, weil er aus einem so armen Elternhaus stammte, habe ich erst viel später begriffen. Und dann … Schau, ich weiß, dass ich wahrhaftig keine Schönheit bin. Ich glaube, als Studentin war ich auf meine Art durchaus sexy, aber … Ich meine, schau mich doch an: Lange Beine, große Brüste, wallendes Haar, das alles hatte ich nie zu bieten. Aber es kam der Punkt, an dem Jasper so eine Frau haben wollte. Um auch mit ihr anzugeben. Um seinen Komplex zu bekämpfen. Und … Ich erkläre das immer mit dem Bild vom Hummer im Topf, du weißt schon, aus dem Buch Zeit des Terrors von André P. Brink. Anfangs hockt man nichtsahnend in seinem Topf. Okay, es ist ein toller Topf, man hat alles, was das Herz begehrt, abgesehen davon, dass der eigene Mann einen nicht mehr begehrt. Du hörst Gerüchte, dein Mann würde dich betrügen, und du siehst, riechst und spürst etwas, aber du glaubst es nicht, und wenn das Wasser am Ende kocht, ist es zu spät, dann bist du eine Frau in den mittleren Jahren mit nichts auf der hohen Kante, und du hast weder die Energie noch das Geld, aus dem Topf herauszukrabbeln. Dann zerbricht der Topf, wenn du erfährst, dass dein Mann der größte Wirtschaftsbetrüger in der Geschichte dieses Landes ist. Und dann fragst du dich, nachdem du dich von dem Schock und der Ernüchterung erholt hast, wie zum Teufel finde ich einen neuen Topf?«
Sie fuhren an dem Haus in der Brandwachtstraat vorbei, alle zwanzig Minuten mit einem anderen, unauffälligen Fahrzeug.
Sie filmten das Gebäude heimlich mit Handys.
Im Laufe des Nachmittags benutzten sie das Motorrad eines Apothekenlieferanten, ein Ermittler verkleidete sich als bergie, als Stadtstreicher, und eine Kollegin im Businesskostüm mit Aktentasche klingelte bei den Nachbarn gegenüber, nebenan und dahinter. Beim Haus links neben dem Airbnb, dem von André und Joan Schoeman, die sich in Amerika befanden, machte niemand auf. Keiner im Team – nicht einmal Cupido – brachte das »Zu verkaufen«-Schild mit dem Logo und der Telefonnummer von Benson International Realtors mit Sandra Steenberg in Verbindung. Sie waren zu sehr auf das Airbnb konzentriert, das zweistöckige Einfamilienhaus, in dem Buddie Falk und die Bandenmitglieder der Trojaner vermutlich, hoffentlich, Callie de Bruin gefangen hielten. Jemand rief bei Benson International Realtors an, um sich zu erkundigen, aber die Dame am Empfang sagte, dass die zuständige Maklerin nicht im Büro sei.
Im Haus gegenüber war nur die Haushaltshilfe anwesend. Sie sagte, die Bewohner kämen erst nach siebzehn Uhr zurück. Sie baten sie um die Telefonnummern und kontaktierten den Mann und die Frau, die dort wohnten.
Im Haus hinter dem Airbnb meldeten sich zwei Schülerinnen der Höheren Mädchenschule Bloemhof an der Sprechanlage. Die Beamten baten die Kinder, ihre Eltern anzurufen, und erläuterten ihnen die Situation. Die Eltern erklärten sich widerstrebend damit einverstanden, dass die Polizei einen Observierungsposten in ihrem Haus einrichtete, ließen die Kinder jedoch von Freunden abholen.
Alle wurden eindringlich ermahnt, kein Sterbenswörtchen über den Einsatz auszuplaudern. »Es geht um Leben und Tod!«, schärften Cupido und seine Helfer ihnen ein.
Sie spürten den Besitzer des Airbnb-Hauses auf. Dieser wohnte in Pretoria. Er sagte, das Haus habe eine Alarmanlage, aber keine Kameras.
Vom Grundbuchamt erhielten sie Pläne des Hauses. Sie breiteten sie im Konferenzzimmer auf dem großen Tisch aus und bauten ein Modell vom Grundstück und vom Haus mit allem, was sie finden konnten: leeren KFC-Schachteln, Linealen, Stiften und unbenutzten Aktenmappen, die sie falteten und bogen. Auf diese Weise konnten Oberstleutnant Phila Zamisa und das SEK Boland ihren Einsatz genau planen, sobald sie eintrafen.
Den beiden Frauen im Restaurant »Decameron« wurde das Essen serviert, aber beide pickten nur ein wenig darin herum, obwohl es köstlich war.
Sandra hatte noch keinen Appetit, und Lettie Boonstra war zu beschäftigt mit ihrer Erzählung.
Sie sagte, Jaspers Betrug mit Schneider-König sei der Anfang vom Ende gewesen. Ungefähr zur selben Zeit bekam die Presse Wind von der Geliebten im exklusiven Haus in Franschhoek, und die Affäre wurde in den Printmedien wie im Internet weidlich ausgeschlachtet. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Ehemalige Kollegen von Jasper, Freunde und sogar Unbekannte fanden zum ersten Mal den Mut, Lettie von seinen außerehelichen Eskapaden zu erzählen. Erst da begriff sie den ganzen Umfang seines Betruges, erst da verstand sie, wie groß sein Komplex war und wie wenig sie ihren Mann im Grunde kannte, wie wenig sie von all seinen Schwächen wusste.
Nein, sie hasste Jasper nicht. Hass war eine sinnlose, destruktive Emotion. Nichts. Das empfand sie schließlich für ihn. Ein kaltes, leeres Nichts. Das ernüchterte sie so weit, dass sie gründlich nachdenken konnte; es verlieh ihr die Freiheit, ohne Angst oder Wut zu handeln und zu planen.
Doch es blieb das Dilemma: Was konnte sie unternehmen, um nach einer Trennung nicht vollkommen mittellos dazustehen? Denn die Scheidung wollte sie auf jeden Fall. Sie wollte weg von ihm, raus aus dem Rampenlicht, weg von den Demütigungen, von allem.
Sie hatte sich gründlich über Privatdetektive informiert und schließlich einen mit gutem Ruf gefunden, einen Engländer aus Kenilworth. Die Kameras waren seine Idee gewesen, um Informationen über Jaspers Geliebte und das Schwarzbuch zu sammeln. Als sie diese hatte, blieb noch die Suche nach dem verdammten Schlüssel, und da hätte sie beinahe aufgegeben, weil Jasper dieses Ding gehütet hatte wie seinen Augapfel. Daraufhin beschloss Lettie, Jasper mithilfe des Videomaterials mit den Geliebten und dem Schwarzbuch bei einer Scheidung unter Druck zu setzen und zu hoffen, dass sich dadurch ihre Chancen auf einen angemessenen Vermögensausgleich erhöhten.
Was sie zurück auf den gestrigen Tag brachte. Sie und Jasper hatten sich auf Baronsberg verabredet, um ernsthaft über eine Einigung zu diskutieren, und sie wollte ihm bei dieser Gelegenheit eröffnen, dass sie nicht ganz ohne Munition antrat.
Doch als sie eintraf, war Jasper nicht da. Sie rief ihn, suchte ihn im ganzen Haus, rief ihn an und hörte sein Handy oben im Arbeitszimmer klingeln. Als sie hinaufging, sah sie auf dem Schreitisch das Handy und den Schlüssel liegen. Einfach so, in dem halben Straußenei, auf den bunten Geleebohnen. Sie traute ihren Augen nicht. Hastig schloss sie die Schublade auf, sammelte fieberhaft das Schwarzbuch und ein paar weitere Mappen ein, in der Hoffnung, dass sie ihr auch nützlich sein konnten, verschloss die Schublade wieder, legte die Dokumente ins Auto und den Schlüssel wieder ins Straußenei und kehrte zurück ins Wohnzimmer.
Wo sie nach einer Weile zu dem Schluss gelangte, dass irgendetwas nicht stimmte. Jasper kam nie zu spät, und er hätte niemals im Leben den Schlüssel einfach so offen liegen gelassen.
Sie lud die Aufnahmen der Kameras auf ihr Handy und sah sie sich an. Erst da begriff sie, was passiert war.
Im ersten Augenblick war sie durchaus schockiert gewesen. Es hatte über eine Stunde gedauert, bis sie die Fassung wiedergewonnen, über alles nachgedacht und überlegt hatte, wie sie nun am geschicktesten weiter vorgehen sollte.
Und warum hatte sie der Polizei nicht erklärt, was geschehen war, und ihnen das Video gezeigt?
Wegen Meinhardt Sarazin, er war der Grund dafür.
Der Anwalt hätte dann nämlich gewusst, dass sie das Schwarzbuch hatte, da das Video zeigte, wie Sandra den Schlüssel aus Jaspers Morgenmantel holte und anschließend nach oben verschwand. Die Kamera im Arbeitszimmer bewies, dass der Schlüssel zur Schublade passte. Sarazin wusste, dass sich dort das Schwarzbuch befand, und er hatte ganz sicher in irgendeiner Weise Zugang zu dem geheimen Vermögen. Oder zumindest würde er es erfahren, wenn sich jemand daran vergriff: Wenn Lettie etwas von den Konten überwies oder abhob, wäre ihm klar gewesen, dass es nicht der tote Jasper gewesen sein konnte. Er war genauso ein Gauner wie ihr Mann; er würde Gerichtsbeschlüsse, Vorladungen oder einstweilige Verfügungen gegen sie erwirken, um sich das Buch zu verschaffen.
Die beste Lösung war, dass niemand Jasper für tot hielt. Jasper war geflüchtet. Er war es, der Geld abhob, Schließfächer öffnete oder was auch immer.
Lettie hatte am Abend zuvor den Privatdetektiv angerufen, und ihn lediglich gebeten zu arrangieren, dass jemand – irgendjemand – sie aus Karasburg in Namibia anrief, heute zwischen eins und zwei. Mit einem Prepaid-Handy. So dass sie einen Beweis hatte.
»Ich dachte, dass dein Geheimnis sicher wäre, Sandra, denn du hast so gute Arbeit geleistet, als du ihn abtransportiert hast. Aber als dieser Bennie heute Morgen anfing zu bohren und ich sah, welche Angst du hattest, fragte ich mich, ob du durchhalten oder einknicken würdest. Da dachte ich mir, das hast du nicht verdient. Du hast es nicht verdient, für den Rest deines Lebens Angst vor Entdeckung zu haben. Du brauchst mir übrigens nicht zu danken. Aber bitte erklär mir doch mal, warum du nicht die Polizei gerufen hast, nachdem er die Treppe runtergefallen war? Bei seinem Ruf hätte man dir doch geglaubt, dass es Notwehr war.«
Griessel ging draußen vor der Wache eine rauchen; frustriert über die Entwicklungen im Boonstra-Fall.
Dort fand ihn Witkop Jansen. »Der Commissioner will, dass Sie an der Pressekonferenz teilnehmen«, sagte er zu Griessel. Er wirkte niedergeschlagen, seine Stimme klang leise und entschuldigend. »Sie müssen der Presse sagen, dass die Ermittlungen der SAPD im Fall Boonstra in Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft gute Fortschritte machen. Sobald die Untersuchungen abgeschlossen sind, lassen wir ihn von Interpol ausliefern.«
»Aber wie sollen wir ihn finden, Oberstleutnant? Ihn mit seinem vielen Geld …«
Jansen zog hilflos die Schultern hoch: »Ich weiß, Leutnant. Der Commissioner sagt, Sie hätten gute Arbeit geleistet, das würde er sich merken. Er hat gesagt, Sie sollten daran denken, dass Sie von den Valke abkommandiert worden wären. Auch das würde er zu schätzen wissen.«
Griessel zog an seiner Zigarette
»Tut mir leid, Leutnant. Ich finde das auch nicht richtig. Ich wünschte, ich könnte etwas daran ändern.«
»Oberstleutnant«, sagte Griessel und schnippte seine Kippe ins hohe Gras, »ist schon in Ordnung. Ich habe heute Morgen, als der Commissioner und seine Leute so vor mir saßen, an das gedacht, was Sie gesagt haben, nämlich dass wir für die Bürger Stellenboschs arbeiten. Ich bin da anderer Meinung. Ich bin nicht deshalb Polizist, weil ich den Respekt der Bürger haben will, denn den werden wir nicht mehr bekommen. Und ich bin auch kein Polizist, weil ich befördert werden oder von meinen Vorgesetzten gelobt werden will. Das wird ohnehin nicht passieren. Ich bin Polizist, weil ich es sein will. Sonst nichts.«
So standen sie eine Weile nachdenklich da.
»Was wird aus uns, Bennie?«, fragte Jansen. »Was wird aus uns?« Es war das erste Mal, dass der Dienststellenleiter Griessel mit Vornamen ansprach.
Es war eine regelrechte Befreiung für Sandra, endlich die Wahrheit sagen zu können, sich jemandem öffnen und all die Lügen, den Druck und das Trauma teilen zu können. Die Last von ihren Schultern zu laden. Sie war dabei die ganze Zeit den Tränen nahe, blieb aber stark.
Sie erzählte Lettie Boonstra ganz genau, was geschehen war, vom ersten Anruf Jaspers über den Verkauf von Donkerdrif und die fortgesetzten Belästigungen bis hin zu dem Grund, warum Jaspers Leiche verschwinden musste: damit das Geschäft über die Bühne ging.
»Danke, dass du es mir erzählt hast«, sagte Lettie und schob den dicken Ordner über den Tisch zu Sandra hinüber. »Du hast ein Recht auf das hier. Es ist der Bericht von Jaspers Spionen über dich und deine Familie.«
»Hast du ihn gelesen?«
»Ich konnte nicht anders.«
»Mein Mann … Betrügt er mich?«
»Ach herrje, du hast doch nicht etwa Jasper geglaubt, oder? Das war nur eine seiner Gemeinheiten. Desinformation. Hier drin heißt es, er wäre unheimlich langweilig. Und jetzt muss ich mich beeilen; ich bin schon spät dran für die große Pressekonferenz.«
Griessel stand auf dem vertrockneten Rasen der Wache Stellenbosch vor den Kameras und Mikrophonen, Lettie Boonstra an seiner Seite. Er kniff die Augen gegen die blendenden Scheinwerfer und Blitzlichter zusammen und verlas die Erklärung, die der Pressesprecher zusammen mit ihm vorbereitet hatte.
»Am Abend des vierten Oktobers wurde ich von den Hawks abgestellt, um die Ermittlungen in einem Vermisstenfall zu leiten. Meneer Jasper Boonstra war von seiner Frau, Alet Boonstra, als vermisst gemeldet worden. Das Team des südafrikanischen Polizeidienstes arbeitete unermüdlich die ganze Nacht und den folgenden Tag hindurch. Dabei wurde ein allgemeiner Rundruf an die Strafverfolgungsbehörden und alle Grenzposten herausgegeben. Heute Morgen wurde festgestellt, dass Meneer Boonstra wahrscheinlich freiwillig und heimlich seinen Wohnsitz auf dem Weingut Baronsberg verlassen hat. Die Ermittlungen wurden heute gegen vierzehn Uhr eingestellt, nachdem Mevrou Boonstra uns mitgeteilt hatte, dass sie die Anzeige zurückziehen wolle. Sie hat Kontakt mit ihrem Mann gehabt, der angeblich außer Landes geflohen ist …«
Es ging ein Raunen durch die Menge der Journalisten, sie schnappten nach Luft, riefen durcheinander, hoben die Hände, stellten Fragen. Der Pressesprecher trat ans Mikrophon und rief das Publikum mit erhobener Hand zu Ordnung. »Bitte lassen Sie Leutnant Griessel und Mrs. Boonstra zunächst ihre Erklärungen verlesen. Im Anschluss haben Sie Gelegenheit, Fragen zu stellen.«
Es dauerte eine Weile, bis sich die Menge beruhigte.
Griessel fuhr fort: »Die südafrikanische Polizei wird in Zusammenarbeit mit der nationalen Anklagebehörde ihre Ermittlungen zu den mutmaßlichen betrügerischen Aktivitäten von Meneer Boonstra fortsetzen und eng mit internationalen Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass wir ihn finden und ausliefern lassen. Vielen Dank.«
Er verlas die Erklärung, ohne dahinterzustehen, und auch als Lettie Boonstra sprach und das Bombardement der Fragen von schreienden Journalisten zu beantworten versuchte, wurde er das Gefühl nicht los, dass da etwas gewaltig faul war.
Draußen vor dem Gebäude von Benson International Realtors saß Sandra in ihrem Ford und hörte sich auf CapeTalk die Pressekonferenz an. Als sie vorüber war, brach sie vor Erleichterung in Tränen aus. Auch wegen Josef. Ihrem langweiligen, lieben Josef. Ihrem treuen Mann.
Es war vorbei. Der Druck, die Anspannung, der Stress, alles vorbei.
Um 15:21 Uhr ging sie schließlich hinein, und die Frau am Empfang sagte ihr Bescheid, dass die Polizei angerufen habe. Sie solle einen Sergeant Julies zurückrufen, es sei dringend. Es ginge um das Haus in der Brandwachtstraat, dem von André und Joan Schumann.
Sandra blieb fast das Herz stehen. »Was ist denn damit?«, fragte sie und konnte ihre Angst nicht verhehlen.
»Das hat er nicht gesagt. Hier ist seine Nummer«, sagte die Frau und reichte ihr einen Zettel.
Sandra ging hinaus auf den Bürgersteig an der Dorpstraat. Sie wählte die Nummer.
Sergeant Julies meldete sich sofort. »Guten Tag, Mevrou«, sagte er, »danke, dass Sie zurückrufen. Es gibt ein Problem im Nachbarhaus, und wir brauchen dringend Zugang zu dem Haus, für das Sie zuständig sind, um dort einen Observierungsposten einzurichten und das Eingreifen des SEK vorzubereiten.«
»Ich …« Wieder fing Sandra an zu zittern und suchte verzweifelt nach einer Ausrede, einem Grund, warum das nicht möglich war. »Das Haus gehört nicht mir, ich bin dazu nicht befugt«, sagte sie. »Die Besitzer sind in Amerika.«
»Mevrou, wir wollen nur zwei Kollegen im Haus postieren, damit sie die Nachbarn beobachten können, das ist alles.«
»Ich kann nicht … Die Besitzer müssen ihre Erlaubnis geben, und in den USA ist es jetzt mitten in der Nacht.«
»Mevrou, die Situation fällt unter Kapitel zwei, Art. 26 des Strafgesetzbuchs, der besagt, dass wir keine Erlaubnis brauchen. Könnten Sie bitte herkommen und uns aufschließen? Und zwar unverzüglich.«
Oberstleutnant Phila Zamisa und das Team des SEK Boland trafen in verschiedenen Fahrzeugen bei der Wache Stellenbosch ein, um so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen.
Jetzt füllten sie den Konferenzraum. Als Bennie Griessel eintrat, erlöst von dem Boonstra-Fall, war kein Stuhl mehr frei und kaum noch Platz zum Stehen.
Sein Kollege Vaughn Cupido leitete den Einsatz. Er erklärte die Aufteilung des Hauses, zeigte die Karte der Nachbarschaft und das Modell, das sie gebaut hatten. Er sagte, sie hätten einen Beobachtungsposten im Haus hinter dem Airbnb stationiert und gerade erfahren, dass sie auch Zugang zu dem Haus direkt daneben erhalten würden. Das Observierungsteam war unterwegs. Aufgrund der Tatsache, dass sich Buddie Falk noch in Stellenbosch aufhielt und die drei anderen Fahrzeuge höchstwahrscheinlich Mitgliedern der Trojaner-Bande gehörten, glaubten sie, dass Callie de Bruin noch lebe und sich im Gebäude befinde. Das verkomplizierte die Lage insofern, als sie keine Geiselnahme provozieren wollten. Sie wollten Callie lebend. Und je länger sie warteten, desto größer würde das Risiko, dass ihre Aktivitäten bemerkt würden oder etwas darüber durchsickerte, denn die Presse sei noch immer überall in der Stadt wegen des Boonstra-Falles. Außerdem hätten sie Grund zur Annahme, dass Buddie Falk nicht als einziges Mitglied des SAPD an den Vorgängen beteiligt sei. Sollte ein hiesiger Kollege absichtlich oder unabsichtlich etwas verraten – der Polizeibuschfunk war weitreichend und schnell – und Informationen über die Situation Kollegen von Falk in Silverton zu Ohren kommen, gerieten sie in große Schwierigkeiten. Deswegen: je schneller, desto besser. Cupido sagte, seiner Meinung nach hätten sie zwei Möglichkeiten: Entweder sie schlugen um kurz nach siebzehn Uhr zu, wenn der Berufsverkehr im Wohnviertel seinen Höhepunkt erreicht hatte, oder sie warteten bis nach Einbruch der Dunkelheit.
Oberstleutnant Zamisa sagte: »Wir warten besser, bis es dunkel wird. Bringen Sie die Stadtwerke dazu, den Strom im Viertel abzuschalten, so dass wir Nachtsichtgeräte benutzen können und dadurch im Vorteil sind. Sonnenuntergang ist heute um Punkt 18:51 Uhr. Ich will, dass wir um 19:15 Uhr reingehen.«
»Cool bananas«, sagte Cupido. »Alle einverstanden?«
Alle waren einverstanden.
Sergeant Julies hatte Sandra am Telefon genau instruiert, was sie zu tun hatte. Sie sollte warten, bis zwei Kollegen zu ihr in die Firma kämen. Dort würden sie ihre Ausrüstung in ihren Wagen laden, sie würde die beiden zu dem Haus in der Brandwachtstraat fahren, weil man ihr Auto dort wahrscheinlich schon häufiger gesehen hatte und es daher keine Aufmerksamkeit erregen würde.
Sie müsse das Tor öffnen, hineinfahren und vor der Garage parken. Dann müsse sie aussteigen, die Haustür aufschließen, die Garage öffnen, wieder herauskommen, das Auto in die Garage fahren und das Tor schließen.
Sie würden in der Garage aussteigen und sich das Zimmer suchen, von dem aus sie die beste Aussicht auf das Nachbarhaus hatten.
Sobald der Observierungsposten eingerichtet sei, könne Sandra wieder fahren. Die Polizei würde sie informieren, sobald alles vorbei wäre. Wahrscheinlich irgendwann heute Nacht, vielleicht auch erst morgen früh.
Beinahe hätte Sandra vergessen zu fragen, weil sie es ja bereits wusste. Kurz bevor Julie das Gespräch beendete, fiel es ihr noch ein: »Was ist denn da eigentlich los?«
»Das darf ich nicht sagen, Mevrou. Und Sie dürfen ebenfalls nicht darüber reden. Es geht um Leben und Tod.«
Es war die Sache mit der Garage, durch die ihre Nerven wieder bis zum Zerreißen gespannt waren. Es bedeutete, dass zwei Polizeibeamte weniger als einen Meter von Jasper Boonstras Leiche in der Gefriertruhe entfernt sein würden.
Sie würden die Gefriertruhe laufen hören und fragen: »Wenn hier niemand wohnt und die Besitzer in Amerika sind, warum läuft dann die Gefriertruhe?«
Und dann würde sie lügen, Ausflüchte erfinden und versuchen müssen, ihren Stress zu verbergen, und dies in ihrem erschöpften, verängstigten Zustand. Sie konnte nicht mehr. Sie hatte einfach nicht mehr die Kraft.
Doch es lief ganz anders.
Die Polizisten kamen um 16:02 Uhr bei Benson International Realtors an, ein Mann und eine Frau mit vier Kisten Ausrüstung. Sie waren freundlich. Sie begleiteten Sandra zu ihrem Auto. Genau in dem Moment, als Charlie zufällig hereinkam.
»Was ist denn hier los?«, fragte er.
»Eine polizeiliche Angelegenheit, Meneer«, sagten die Beamten.
Charlie bemerkte Sandras Unbehagen und ihren Stress, und er raunzte die beiden Polizisten an: »Sie arbeitet für mich!« Dann fragte er sie hoffnungsvoll: »Bist du verhaftet worden?«
Sandra hätte ihm gern entgegengeschleudert: »Fick dich!«, aber sie beherrschte sich.
»Meneer, Mevrou Steenberg ist uns bei einer Untersuchung behilflich.«
»Oh.« Enttäuschung.
Charlie blickte sich noch einmal um, nachdem sie in ihren EcoSport gestiegen war. Er stand da, die Hände auf den schmalen Hüften, wie ein Schakal, der darauf wartete, an das Aas zu kommen, nachdem die größeren Raubtiere sich gütlich getan hatten.
In der Garage wurde Sandra klar, dass sie den Druck nicht viel länger aushalten würde.
Der Polizist stieg aus dem EcoSport, nahm eine der Kisten und stellte sie auf die Gefriertruhe.
Die Knie gaben ihr nach, ihr Kopf war wie mit Watte gefüllt, und sie erlitt eine Panikattacke, so dass sie sich an der Autotür festhalten musste, um nicht umzukippen. Sie drohte, in Ohnmacht zu fallen. O Gott, nicht jetzt! Sie roch ihren eigenen Schweiß, ihr Herz schlug zu schnell. Wie viel konnte ihr Körper, ihr ganzes Wesen, noch ertragen? Sie würde einknicken, nachgeben, aufgeben.
Die zweite Kiste, ebenfalls auf die Gefriertruhe.
»Mevrou, geht es Ihnen nicht gut?«, fragte die Polizistin.
Sandra stand da wie versteinert.
Bis der Mann die Heckklappe des Fords wieder zuschlug, die erste Kiste von der Gefriertruhe nahm und ins Haus ging. Die Eingebung kam aus ihren Körpergedächtnis, eine Erinnerung an das letzte Mal, als ihr so schwindlig gewesen war. »Ich glaube, ich bin schwanger.«
»Oh, wie schön! Herzlichen Glückwunsch!«
»Danke. Ich habe aber noch keinen Test gemacht.«
»Ich drücke die Daumen!«
Und so überlebte Sandra die Garage und die Panik, während die Polizisten Anstalten machten, nach oben zu gehen, mit je zwei Kisten auf einmal, und sie sich das Zimmer aussuchten, in dem die Schlüssel für die Gefriertruhe weit hinten im Kleiderschrank versteckt lagen.
»Was meinen Sie, wie lange es dauert?«
»Das dürfen wir nicht sagen.«
»Kann ich jetzt fahren?«
Sie sagten Ja und dankten ihr. Die Frau sagte beim Abschied: »Machen Sie einen Test!«
Sandra fuhr zum Kindergarten, um die Zwillinge abzuholen.
Nahm dieser Tag denn gar kein Ende?
Die Planung des Einsatzes in der Brandwachtstraat war abgeschlossen. Das Team hatte den Ablauf wieder und wieder durchgesprochen, so dass jeder genau wusste, was er oder sie zu tun hatte.
Phila Zamisa und sein SEK würden in vier Gruppen angreifen – von hinten, von den Seiten und von vorne.
Die ersten Teams sollten von hinten und an den Flanken kommen, das von vorn als letztes. Vaughn Cupido und Bennie Griessel waren dem vorderen Team zugeteilt. Auch sie erhielten Nachtsichtgeräte. Sie mussten erst damit üben, denn die Ausrüstung war neu und etwas ungewohnt.
In der Waffenkammer wählte Cupido auch diesmal wieder die RS200-Schrotflinte mit dem Pistolengriff.
»Bist du sicher?«, fragte Griessel, denn er erinnerte sich an das letzte Mal beim Transitüberfall.
»Das ist meine Glückswaffe, Pappie. Und außerdem sind wir diesmal drinnen.«
Oberstleutnant Zamisa gesellte sich zu ihnen. »Wie sieht’s aus, rettest du mir auch diesmal das Leben, Bennie?«
»Man weiß nie, Oberstleutnant. Sieht so aus, als wäre das meine Woche der Zufälle.«
Sandra und die Kinder fuhren nach Hause.
Dort angekommen, drängte sie sich an den Zwillingen vorbei und nahm Josef ganz fest in die Arme. Ihren Mann, ihren langweiligen, lieben, treuen Mann.
Er fragte: »Und, wie geht’s dir?«
»Ich bin schmutzig und müde und habe einen Bärenhunger. Und ich habe dich sehr lieb. Ich muss dir so viel erzählen!«
»Aber erst unsere Gutenachtgeschichte«, quengelte Anke. »Goldlöckchen!«
»Nein, Schneewittchen!«, rief Bianca.
»Ich erzähle euch nachher eure Gutenachtgeschichte«, versprach Sandra lachend. »Aber jetzt muss ich erst mal unter die Dusche, und dann muss ich eurem Papa erzählen, was heute alles passiert ist. Ich musste heute zweimal der Polizei helfen!«
Als das heiße Wasser über sie strömte, dachte sie an so viele Dinge. An die beiden Polizisten im Brandwachtstraat-Haus – so nah an Boonstra in der Gefriertruhe. An die Schlüssel im Schrank, so dicht neben ihnen. An das große, starke Schloss, mit dem sie die Truhe gesichert hatte. Und an das, was sie Josef gleich erzählen würde: eine Version der Wahrheit.
Von dem Donkerdrif-Geschäft. »Morgen sind wir unsere Geldsorgen los!« Von Boonstras fortwährenden Belästigungen und der Sorge, ob das Geschäft über die Bühne gehen würde. »Deswegen war ich so launisch, bitte verzeih mir!« Von der Polizei, die sie befragt hatte, weil sie die Letzte gewesen war, die Jasper vor seiner Flucht gesehen hatte. »Kannst du dir das vorstellen?« Und von der Kripo im Brandwachtstraat-Haus. »Was meinst du, was die da machen?«
Sie schrubbte ihren ganzen Körper mit intensiver Verbissenheit.
Colonel Mbali Kaleni betrat das Büro von Cupido und Griessel, als sie gerade dabei waren, ihre Waffen zu kontrollieren und schusssichere Westen anzulegen.
»Es ist meine Schuld, dass Sie sich ein Büro teilen müssen«, gestand sie.
»Wieso, Colonel?«, fragte Cupido.
»Ich habe Colonel Jansen gebeten, Sie beide gemeinsam und separat von den anderen unterzubringen. Sie wissen ja, wie das ist: Wenn Sie einmal anfangen, sich mit den Kollegen anzufreunden und mit ihnen zusammenzuarbeiten, ist es schwer, objektiv zu bleiben. Es hätte jeder von ihnen sein können, der die Informationen über die Waffen herausgab. Ich bin froh, dass es nicht so war.«
»Es gibt immer noch genügend gute Polizisten, Colonel.«
»Stimmt, Leutnant, da haben Sie absolut recht. Was mich zu dem Grund bringt, warum ich mit Ihnen sprechen wollte. Ich habe den Commissioner angerufen. Ich habe ihm gesagt, dass Bennie im Fall Boonstra alles genauso gemacht hat, wie er es wollte, bis hin zur Presseerklärung. Und wenn heute Abend alles gut geht, werden Sie beide sowohl den Callie-de-Bruin- als auch den Schusswaffen-Fall abschließen. Ich verlange daher, dass Ihre Degradierung rückgängig gemacht wird. Und zwar mit sofortiger Wirkung.«
»Und was hat er gesagt?«, fragte Cupido.
»Er wird darüber nachdenken.«
»Danke, Colonel«, sagte Griessel.
»Können wir dann auch zurück zu den Hawks, Colonel?«, fragte Cupido.
»Wie isst man einen Elefanten, Leutnant?«
»Verstehe, Colonel. Verstehe.«
»Lassen Sie sich heute Abend bloß nicht erschießen«, waren Kalenis letzte Worte, bevor sie hinausging.
Die Operation zur Rettung von Calvyn Wilhelm de Bruin und zur Festnahme von Oberst Buddie Falk war, wie Cupido solche Operationen, bei denen alles schiefging, gerne beschrieb, »ein chaotischer Scheißhaufen von gigantischem Ausmaß«.
Allerdings nicht von Anfang an.
Das zwölfköpfige Spezialkommando war in vier Gruppen zu je drei Mann aufgeteilt worden – Team Alpha, Bravo, Charlie und Delta. Alpha bestand aus Oberstleutnant Phila Zamisa und zwei anderen, die auf dem Grundstück hinter dem Airbnb Stellung bezogen. Bravo kam vom Haus auf der linken Seite – das, das zum Kauf stand – und hatte eine Ausziehleiter dabei, mit der die Männer zum Balkon im ersten Stock hinaufklettern konnten. Team Charlie sollte von der rechten Flanke angreifen. Diese drei Teams konnten sich im Schutz der Betonmauer, die das Airbnb von hinten und an den Seiten umgab, problemlos ihrem Ziel nähern. Genau zu dem Zeitpunkt, wenn die Sonne hinter dem Tafelberg in der Ferne versank.
Die drei Mitglieder von Team Delta bemannten das RG12, das Einsatzfahrzeug des SAPD, auch »Nyala« genannt. Mit seinem großen, starken Kuhfänger vorne und der eckigen, gepanzerten Karosserie gemahnte es an einen urtümlichen Saurier. Auch Bennie Griessel und Vaughn Cupido saßen darin. Sie warteten in einer Seitenstraße ein paar Hundert Meter entfernt. Hinter dem RG12 standen zwei Krankenwagen bereit, nur für den Notfall. Wenn alles nach Plan verlief, würde der Nyala exakt um 19:15 Uhr durch das Eingangstor donnern und Team Delta anschließend die Haustür aufbrechen. Griessel und Vaughn hatten den Befehl, die Nachhut zu bilden, so dass die Mitglieder des SEK ihren geübten, orchestrierten Experten-Angriff abspulen konnten.
Um 19:04 Uhr bestätigten alle Teams über Funk, dass sie sicher auf Position waren.
Die Schaltzentrale der Stadtwerke Stellenbosch informierte Kaptein Rowen Geneke, dass die Elektriker, die die Stromzufuhr in diesem Teil der Brandwachtstraat unterbrechen sollten, an der Stromversorgungsstelle waren und bereitstanden.
Geneke rief Cupido an, und Cupido übermittelte die Nachricht über Funk an Phila Zamisa.
Hinten im Nyala probierten Griessel und Cupido in der Dunkelheit des Innenraums noch einmal ihre Nachtsichtgeräte aus. Ihnen wurde allmählich heiß in den schusssicheren Westen. Es herrschte angespannte Aufmerksamkeit. Sie wussten, wie das Haus von innen aussah, und sie glaubten, dass sich Oberst Buddie Falk darin aufhielt und er von bewaffneten Gang-Mitgliedern umgeben war. Doch trotz aller Nachtsichtgeräte, Ferngläser und Augen, die seit dem Nachmittag auf das Airbnb gerichtet waren, kannten sie ihre genaue Anzahl nicht. Sie vermuteten, dass es bis zu zwölf sein konnten, wenn man vier für jedes der drei mutmaßlichen Bandenfahrzeuge draußen rechnete. Aber sie waren sich nicht sicher.
Und sie wussten nicht, in welchem Zimmer Callie de Bruin gefangen gehalten wurde. Falls er überhaupt dort war. Und doch hatten Witkop Jansen und Phila Zamisa den Männern wieder und wieder eingeschärft, dass der wesentliche Zweck der Operation darin bestand, Callie sicher und unversehrt da rauszukriegen.
Leichter gesagt als getan. Es gab so vieles, was schiefgehen konnte. Wie immer. Bennie hätte jetzt gerne eine geraucht.
Oder etwas getrunken, unter anderen Umständen.
Die Polizei Stellenbosch sperrten mit Streifenwagen sämtliche Zufahrtsstraßen zu dem Häuserblock ab, in dem sich das Airbnb befand.
Das erste Problem ergab sich, als die Elektriker von der Stadt den Strom im falschen Teil der Brandwachtstraat abschalteten. Aus Versehen. Die beiden Schalter lagen unmittelbar nebeneinander.
Phila Zamisa wartete zwei Minuten, bevor er Cupido über Funk fragte, warum im Airbnb immer noch sämtliche Lichter brannten.
Cupido rief sofort Kaptein Rowen Geneke an, den Verbindungsmann dieser Operation mit der Schaltzentrale der Stadtwerke.
Inzwischen beschwerten sich die ersten verärgerten Anwohner wegen des Stromausfalls bei den Stadtwerken.
Geneke rief in der Schaltzentrale an und meldete, dass es dort noch Strom gab, wo er hätte abgeschaltet sein müssen. Die Zentrale rief die Elektriker an und gab ihnen eins auf den Deckel.
Die erschrockenen Männer schalteten im richtigen Teil der Brandwachtstraat den Strom ab. Die Operation begann mit neun Minuten Verspätung.
Phila Zamisa gab allen Teams den Befehl: »Go, go, go!«
Alpha, Bravo und Charlie huschten lautlos durch die Dunkelheit. Sie kletterten mühelos über die Betonmauer, und durch ihre Nachtsichtgeräte lag das Haus in einem graugrünlichen Schimmer vor ihnen.
Der Nyala mit Cupido und Griessel darin setzte sich in Bewegung und raste mit höchstmöglicher Geschwindigkeit um die Ecke und auf das Airbnb zu.
Zamisa und Team Alpha erreichten ungesehen die Hintertür des Hauses.
Bravo und Charlie gingen seitlich neben dem Haus in Position. Über Funk gaben sie durch, dass sie bereit waren.
Team Bravo fuhr die Leiter aus und legte sie leise an den Balkon.
Der Fahrer des Nyalas meldete, dass sie sich auf zweihundert Meter genähert hatten.
»Go!«, rief Zamisa erneut. Die beiden anderen in seinem Team stießen den schweren Rammbock gegen die Hintertür. Diese schwang mit einem dumpfen Knall auf. Sie warfen den Rammbock zu Boden und folgten Zamisa ins Innere des Hauses.
Bravo kletterte über die Leiter auf den Balkon. Team Charlie zerbrach ein Fenster im Erdgeschoss, auf der rechten Seite des Hauses, und drang in einen Raum ein, der offenbar als Arbeitszimmer benutzt wurde.
Das Nyala-Ungetüm brach mit dem Kuhfänger durch das Tor, riss es dabei aus den Angeln und blieb stehen. Die drei Männer vom SEK sprangen hinaus.
Griessel und Cupido warteten. Die Stadtwerke erhielten den sechsten Anruf eines erbosten Anwohners, der sich über den Stromausfall beschwerte.
Oberstleutnant Zamisa und seine beiden Teammitglieder überraschten fünf bewaffnete Mitglieder der Trojaner, die in der Küche an einem Tisch saßen und Baked Beans in Tomatensoße aus Dosen aßen, im Schein eines Handys. Ihre Waffen lagen auf dem Tisch neben ihnen. Die Gang-Mitglieder erschraken, fluchten, schrien und griffen nach ihren Waffen. Zamisa befahl ihnen, sich nicht zu rühren. Die Gangster gehorchten nicht. Sie griffen nach ihren Waffen, drei Pistolen und zwei Sturmgewehren. Zamisa erschoss zwei von ihnen, blitzschnell und mit tödlicher Treffsicherheit. Seine beiden Adjutanten streckten die anderen drei nieder. Ein Trojaner schaffte es, zwei Schüsse abzufeuern, und beide trafen einen der SEK-Männer an der Brust, die von der schusssicheren Weste geschützt wurde. Der Mann fiel zwar durch die Wucht der Einschläge hintenüber, blieb aber unverletzt. Der ganze Raum stank nach explodierten Treibladungen.
Alle fünf Trojaner waren ausgeschaltet.
Zamisa trat vor und zerschlug das leuchtende Handy, so dass sie mit ihren Nachtsichtgeräten nicht davon geblendet wurden.
Er hörte, wie die Haustür aufgebrochen wurde, und wusste, dass sein Team Delta, das mit dem Fahrzeug gekommen war, im Haus war.
In diesem Augenblick rief die Schaltzentrale der Stadtwerke die Elektriker an der Stromversorgungsstelle an und befahl ihnen, den Strom im fälschlicherweise abgeschalteten Teil der Brandwachtstraat wieder einzuschalten, da die Anwohner sie mit Anrufen bombardierten.
Zamisa hörte Schüsse aus dem ersten Stock, auf der linken Seite des Hauses. Feuer aus einem Automatikgewehr.
Das Nachtsichtgerät ging Griessel auf die Nerven. Seines passte nicht richtig, und er musste es immer wieder hochschieben. Er hatte das Gefühl, dass es ihn von der Realität abschnitt, und das Graugrün, mit dem er seine Umgebung sah, schuf eine Distanz, die ihm nicht gefiel.
Er sah, wie Team Delta durch die Haustür brach. Er hielt seine Z88 in der Hand, Cupido neben ihm die kurze Schrotflinte. Sie rannten los, warteten, bis Delta drin war, zählten bis zehn und folgten den SEK-Männern durch die Tür in die Diele.
Die Elektriker am Verteiler schalteten im falschen Teil des Viertels den Strom wieder ein.
Das Licht, das im Airbnb plötzlich wieder hell aufflammte, blendete sämtliche Mitglieder des SEK. Sechs von ihnen, einschließlich Colonel Zamisa, besaßen die Geistesgegenwart, innerhalb von Sekunden laut fluchend die Geräte abzustreifen. Doch das bedeutete, dass der Vorteil der Dunkelheit verloren war und die Trojaner sie jetzt deutlich sehen konnten. Diese wenigen Sekunden waren entscheidend. Zamisa und seine zwei Begleiter waren auf der Treppe, und eines der Mitglieder von Team Alpha erwischte es an der Schulter. Zamisa wurde gegen die schusssichere Weste getroffen, drei Kugeln, praktisch gleichzeitig. Die brutale Gewalt hob ihn für einen Moment von den Füßen, so dass er auf der Treppe ausrutschte und fiel. Oben, im großen Schlafzimmer, hatte Bravo die Glasschiebetüren des Balkons durchbrochen. Zwei Trojaner eröffneten das Feuer auf sie. Sie trafen ein Mitglied von Bravo in den Rücken seiner Schusshand. Die anderen SEKs erschossen sie.
Unten, in der Diele, brauchten Griessel und Cupido zu lange, um die Nachtsichtgeräte abzustreifen, weil sie in dieser Art von Operationen nicht geübt waren. Deswegen sahen sie die beiden Trojaner im Esszimmer nicht, die sich unter dem Tisch versteckt hatten, als die Schüsse in der Küche fielen.
Eines der Bandenmitglieder schoss mit einer Sig MPX K auf sie, der halb automatischen 9-mm-Maschinenpistole mit dem kurzen Lauf. Er hatte dreißig Patronen in dem gekrümmten Magazin, das er in einer knatternden Salve abfeuerte. Es war ein kleines Wunder, dass nur eine Schnalle von Griessels Weste abgeschossen wurde. Ansonsten blieb er unverletzt.
Zwei der Kugeln aber trafen Cupido in den Oberschenkel.
Griessel sah, wie Cupido stürzte. Er schoss auf die Trojaner, traf einen. Er hörte, wie sein Kollege »Scheiße!« sagte und sah, wie Cupido verbissen die Schrotflinte hob und dem anderen Bandenmitglied mitten in die Brust schoss. Das Blut bildete ein feines rotes Spritzmuster auf der weißen Wand dahinter.
Schüsse fielen jetzt überall im Haus. Griessel stellte sicher, dass die beiden Trojaner ausgeschaltet waren, und beugte sich dann zu Cupido. Dessen Bein sah schlimm aus; Blut sprudelte heraus.
»Partner, heute Abend verrecke ich hier.«
»Kommt nicht infrage«, erwiderte Griessel und rief über Funk einen Rettungswagen.
Die Elektriker von den Stadtwerken erkannten ihren Fehler und schalteten erneut den Strom in diesem Teil der Brandwachtstraat ab. Und zu ihrer zweifelhaften Ehre musste man sagen, dass sie jedenfalls den Strom im richtigen Teil des Viertels wieder einschalteten.
Ein chaotischer Scheißhaufen von gigantischem Ausmaß.
Griessels ganze Sorge galt jetzt Cupido.
»Mist, Mist, Mist!«, stieß er hervor, als das Licht wieder ausging. In der Dunkelheit riss er sich den Gürtel herunter und wickelte ihn um Cupidos Bein.
Sie wussten beide, wie schnell man verblutete, wenn die große Beinschlagader getroffen war. Sie hatten das schon erlebt, und beide hatten schon an den Gräbern von Kollegen gestanden. Sie wussten, dass man um jeden Preis Druck ausüben musste, so viel Druck wie möglich. Man durfte nicht nachlassen.
Griessel stemmte sein Knie auf die Wunde, lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht darauf. Cupido brüllte vor Schmerz. Griessel zog den Gürtel fest zu und sagte: »Keine Sorge, der Rettungswagen ist unterwegs.«
»Das dauert zu lange, Benna.«
»Sie kommen. Lieg still.«
»Benna, gestern Vormittag … Ich war stolz auf dich, Partner. Das wollte ich dir noch sagen.«
»Ja, und morgen Vormittag wirst du genauso stolz sein, weil ich dein Leben gerettet habe. Du schuldest mir was. Muffins.«
Cupido lächelte schwach. »Bitte sagt Desiree, dass sie die Liebe meines Lebens ist.«
»Mein Gott, Vaughn, jetzt hör auf mit diesen verdammten Endzeitsprüchen und hilf mir, das Ding festzuziehen!«
»Mir wird schwarz vor Augen, Benna, ich kann nicht …«
Griessel hörte den Rettungswagen draußen und schrie: »Sanitäter, hierher, hierher!«
Dann krachten im ersten Stock Schüsse, und er dachte, heute Abend würde er Annemarie de Bruin die Nachricht überbringen müssen, dass ihr Sohn tot war.
Phila Zamisa richtete sich unten an der Treppe auf, vollgepumpt mit Adrenalin.
Und stinkesauer. Auf die Stadtwerke, auf die Trojaner, auf diese ganze Scheiße. Er stürmte die Stufen hinauf. Das Licht ging aus.
Er fluchte erneut und zog sich das Nachtsichtgerät über die Augen. Er erreichte den ersten Stock und spähte um die Ecke. Ein Mann von Team Alpha war direkt hinter ihm.
Der Flur lag verlassen da. Ganz hinten sah er eine Bewegung.
Seine eigenen Leute. Bravo. Der eine umklammerte seine Hand, und das Blut bildete einen seltsamen dunklen Fleck im grünen Schein des Nachtsichtgeräts.
Sie verständigten sich mit Handzeichen; das Schlafzimmer war sicher.
Zamisa bedeutete Bravo, ins andere Schlafzimmer zu gehen, sie würden das nächstgelegene nehmen.
Sie schlichen zu den Türen. Bravo wartete auf Zamisas Zeichen.
Dann gingen sie rein.
Zamisa sah Callie im schwachen Widerschein eines Laptop-Bildschirms vor einem Schreibtisch sitzen. Er sah, dass der Student geschlagen worden war; er hatte Blut an Mund und Nase und geschwollene Augen. Er sah die Angst in den Augen des jungen Mannes. Er sah Oberst Blink Buddie Falk hinter Callie stehen, den Lauf der Heckler & Koch VP9 Tactical-Pistole gegen Callies Schläfe gerichtet. Mit irrem Blick starrte Falk ihn an. Er schrie: »Ich erschieß ihn, ich erschieß ihn! Raus, oder ich erschieß ihn!«
»Waffe weg, Buddie.«
»Ich erschieß ihn, schaff deinen Arsch hier raus! Ich schwöre, ich erschieß ihn!« Die VP9 in Falks Hand zitterte.
Callie de Bruin war sechs Tage lang in diesem Zimmer gefangen gehalten worden. Buddie Falk und mehrere Mitglieder der Trojaner hatten ihn gefoltert, jeden Tag. Mit Elektroschocks, mit Faustschlägen gegen den Kopf. Sie hatten Zigaretten auf seiner Brust und seinem Bauch ausgedrückt. An diesem Vormittag hatten sie ihm einen elektrischen Bohrer durch beide Füße getrieben, während andere ihm den Mund zuhielten, so dass die Nachbarn seine Schreie nicht hörten.
Nur seine Hände hatten sie nicht verletzt, weil er die gebrauchen sollte, um den Laptop zu bedienen, den sie vor ihn hingestellt hatten. Er sollte die Datenbomben entschärfen, vor denen er Falk seit Freitagabend gewarnt hatte.
»Wenn Sie mich töten, explodiert die Datenbombe.«
»Welche Datenbombe?«
»Ich habe alles aufgeschrieben, was Sie in Ihren Datenbanken manipuliert haben, alle Waffen aufgelistet, die Sie nicht vernichtet, sondern verkauft haben, und notiert, wie Sie es gemacht haben. Die Datenbombe enthält E-Mails, die an die Zeitungen gehen, mit sämtlichen Informationen. Wenn Sie mich freilassen, halte ich sie auf.«
»Wer verschickt die E-Mails?«
»Nicht wer, sondern was. Ich habe ein Programm dafür geschrieben. Es geht alles automatisch.«
»Du lügst, du kleiner Rotzlöffel!«
»Am Freitag werden Sie es ja sehen.«
»Am Freitag? Du verschickst die E-Mails am Freitag?«
»Am Freitagmorgen um sechs Uhr.«
»Du lügst!«
»Wir werden ja sehen.«
Sie fingen an, ihn zu foltern, damit er das Senden verhinderte. Mithilfe des Laptops. »Alles, was du tun musst, Callie, ist, dich einzuloggen und die Datenbomben aufzuhalten. Dann hören wir auf. Dann lassen wir dich gehen.«
Doch Callie war intelligent. Er wusste, wenn er das tat, würde er sterben. Und die schrecklichen Schmerzen der Folter waren immer noch besser als der Tod.
Sogar, wenn die Folter sechs Tage lang dauerte.
Er hasste Buddie Falk inzwischen mit glühender Intensität. Jetzt kanalisierte er diesen ganzen Hass, indem er seine Beinmuskeln anspannte, sich am Tischbein abdrückte und sich rückwärts gegen Buddie Falk warf. Er wusste instinktiv, dass er ihn unbedingt aus dem Gleichgewicht bringen musste. Es war die einzige Chance, die er und die Polizisten an der Tür hatten.
Er drückte sich ab.
Zamisa konnte nicht schießen. Callie und Falk lagen ineinander verschlungen auf dem Boden hinter dem kleinen Schreibtisch. Er tat das einzig Mögliche, riss sein Nachtsichtgerät herunter, ließ das Gewehr fallen und warf sich auf sie, in dem verzweifelten Versuch, Falks große Pistole zu erwischen.
Er hoffte, dass sein Alpha-Kollege ihm von der Tür aus Deckung gab.
Callie trat wie wild um sich. Er traf Zamisa, traf Falk, er wand sich und schrie.
Dann löste sich krachend ein Schuss aus der VP9.
Griessel umklammerte den Gürtel um Cupidos Bein, während die beiden Sanitäter seinen Freund auf die Rolltrage hievten.
Er ließ auch nicht los, als sie die Trage im Laufschritt zum Rettungswagen schoben.
Cupido war jetzt still. Seine Augen waren geschlossen.
Oben im Haus krachte ein einzelner Schuss.
»Vaughn!«, rief Bennie. »Vaughn!«
Keine Antwort.
»Er braucht dringend Blutkonserven!«, stieß Griessel hervor.
Die Sanitäter luden die Trage in den Rettungswagen.
»Fahr los!«, rief einer dem Fahrer zu.
Der RTW raste los, noch bevor die Türen hinten ganz geschlossen waren.
Griessel blickte ihm nach.
Vaughn durfte nicht sterben!
Er merkte, wie er keuchte; seine Hände waren voller Blut. Er wischte sie an der Weste ab.
Wo war seine Z88? Im Haus. Er musste sie holen.
O Gott, Vaughn durfte einfach nicht sterben! Er würde Buddie Falk abknallen.
Er betrat die Diele. Er konnte im Dunkeln nicht viel erkennen. Er fand sein Nachtsichtgerät und streifte es über, hob seine Pistole vom Boden auf.
Wo war Buddie Falk? Griessel lief zur Treppe und die Stufen hinauf.
Im Flur sah er sie aus einer Zimmertür kommen. Zwei Mitglieder von Team Alpha, die Callie de Bruin von beiden Seiten stützten. Der Junge hinkte, konnte kaum laufen. Er sah schlimm aus. Überall Blut. Er sah aus, als hätte man ihn geschlagen. Übel zugerichtet. Was waren das für Menschen, die einen mageren Jungen derart verprügelten?
Es hätte genauso gut Fritz sein können.
Wut loderte in Bennie auf. Wegen des misshandelten Jungen, Wut angefacht von seiner Verantwortungsschuld, Wut über den Hohn und Spott, die er sich auf Baronsberg hatte gefallen lassen müssen, Wut auf das arrogante Benehmen des Commissioners im Konferenzraum, Wut über das, was sie Vaughn angetan hatten, Wut wegen des Mordes an Milo April, dem jungen Sergeant, den Buddie Falk auf dem Gewissen hatte, Wut über seine eigene Nutzlosigkeit. Stille Wut, tödlich kalte Wut.
»Alles klar mit dir, Callie?«, fragte er.
»Ja«, antwortete der Junge heiser.
»Wo ist Buddie?«, fragte Griessel.
Da drin, bedeutete das Alpha-Mitglied.
Griessel nahm seine Z88 fest in die Hand und ging hinein.
Falk saß auf dem Boden. Zamisa, wieder mit Nachtsichtgerät, drückte den Lauf seines Gewehrs in den Nacken des Offiziers aus Silverton.
Griessel hob die Z88. »Ich knall dich ab«, sagte er. »Das hier ist für Milo April!«
»Nicht, Bennie«, sagte Zamisa beruhigend.
Falk, der im Dunkeln nichts sehen konnte, hörte den Hass aus Griessels Stimme heraus. »Bitte nicht«, flehte er und hob schützend die Hände. »Das waren die anderen, die Trojaner, die haben April erschossen.«
Griessel zielte mit der Z88 auf Falks Kopf.
Phila Zamisa sah keinen anderen Ausweg. Er schoss Bennie mitten auf die Brust.
Und als er fiel, sagte er: »So, jetzt sind wir quitt, Bennie. Ich habe dir gerade das Leben gerettet.«
Um 20:37 Uhr rief die Polizei bei Sandra Steenberg an und sagte ihr Bescheid, dass sie das Haus in der Brandwachtstraat wieder abschließen könne, die Operation sei vorüber.
Sie fuhr hinaus. Angst hatte sie jetzt keine mehr, denn die Polizistin hatte einfach nur erschöpft geklungen, nicht bedrohlich.
Sie erwarteten sie auf der Auffahrt, da das Tor verschlossen war.
Sandra öffnete es mit der Fernbedienung und fuhr hindurch.
Sie dankten ihr.
»Was war denn los?«, fragte Sandra.
»Es ging um den vermissten Studenten, Callie de Bruin«, erklärte die Frau. »Wir haben ihn gerettet.«
»Er war hier? Nebenan?«
»Ja. Sie haben ihn die ganze Woche da drin gefangen gehalten.«
»Ich bin froh, dass Sie ihn gefunden haben.«
»Wir sind auch froh. Allerdings wurde einer unserer Kollegen im Einsatz schwer verletzt. Sein Zustand ist kritisch.«
»Das tut mir sehr leid«, sagte Sandra.
Die beiden von der Kripo nahmen ihre Ausrüstungskisten und gingen durch das Tor hinüber zum Airbnb.
Sandra wartete, bis sie außer Hörweite waren, bevor sie einen Seufzer der Erleichterung ausstieß. Dann schloss sie das Haus ab.
Heute Nacht würde sie endlich wieder gut schlafen.
Um 21:58 Uhr saßen sie alle im Wartezimmer der Mediclinic im Ortsteil Die Boord – Griessel, Desiree, ihr Sohn Donovan, Oberstleutnant Witkop Jansen und Captain Rowen Geneke. Sie sprachen nicht viel. Sie tranken Kaffee. Donovan aß einen Muffin. Er sagte: »Die von Uncle Vaughn und mir schmecken viel besser.«
Seine Mutter strich ihm über den Kopf. Sie war angespannt, so wie sie alle.
Bennie presste seine inzwischen gewaschene Hand auf die Rippen. Sie taten höllisch weh. Er vermutete, dass eine gebrochen war.
Verdammter Zamisa! Doch der Oberstleutnant hatte recht gehabt: Er hatte ihm mit diesem Schuss das Leben gerettet. Denn ansonsten wäre er in den Knast gewandert.
Am besten gefallen hatte Griessel jedoch das, was Zamisa hinterher gesagt hatte: »Und jetzt vergessen wir das, Bennie. Kein Wort darüber, niemals.«
Sollte er je noch einmal derart die Beherrschung verlieren, sollte er sich wohl besser besaufen.
Das Einzige, was ihn etwas aufmunterte, war sein Anruf bei Annemarie de Bruin, in dem er ihr mitteilte, dass ihr Sohn gerettet worden war. Verletzt, traumatisiert, im Krankenhaus, aber in Sicherheit. Sie hatte geweint und gelacht zugleich.
Griessel sah die Chirurgin auf sie zukommen. Mit Grabesmiene. Sein Herz krampfte sich zusammen.
Desiree sprang auf. Die anderen folgten ihr.
»Gehören Sie zu Leutnant Cupido?«, fragte die Ärztin.
»Ja«, sagte Desiree.
Die Chirurgin schüttelte den Kopf. »Das war knapp«, sagte sie.
»Ist er am Leben?«
»Ja, er lebt.«
Desiree umarmte die Ärztin.
Griessel wollte sich vor den anderen nicht anmerken lassen, wie aufgewühlt er war. »Ich sag mal schnell Mbali Bescheid«, sagte er und ging schnell hinaus.
Die Datenbomben explodierten am Freitagmorgen um sechs Uhr früh.
Was zur Folge hatte, dass um 8:30 Uhr der Zirkus wieder zurück in der Stadt war. Fernsehen, Radio, Presse: ein Riesenpulk von Journalisten versammelte sich vor der Klinik, in der Callie de Bruin lag. Ihre Fahrzeuge blockierten sogar den SPAR-Parkplatz auf der anderen Straßenseite, zum Ärger der sowieso von der Parkplatzknappheit genervten Anwohner.
Der Pressesprecher der Klinikgruppe und der Sprecher der südafrikanischen Polizei hatten sich vor dem Eingang des Krankenhauses postiert, um die Journalisten dort abzufangen. Sie gaben ihnen alle verfügbaren Informationen: Ja, Callie sei traumatisiert und einige seiner Verletzungen seien ernst, aber er sei bei Bewusstsein, sein Zustand sei stabil, und er brauche nicht länger als eine Woche im Krankenhaus zu bleiben. Seine Mutter Annemarie sei in diesem Moment bei ihm, ebenso wie drei Polizeibeamte. Der Provinz-Commissioner, Generalleutnant Mandla Khaba, sei auf dem Weg von Kapstadt hierher und werde später gemeinsam mit Mevrou de Bruin eine Presseerklärung abgeben. Nein, eine genaue Uhrzeit könne man noch nicht sagen.
Die Polizisten, die – mit Zustimmung des medizinischen Personals – bei Annemarie de Bruin und Callie im Zimmer waren, waren Bennie Griessel, Witkop Jansen und Rowen Geneke.
Keiner der Anwesenden hatte sonderlich viel geschlafen.
Zunächst erklärte Griessel Mutter und Sohn, welche Rechte Callie laut Kapitel drei, Abschnitt 52 des südafrikanischen Grundgesetzes hatte. Callie hatte das Recht zu schweigen, er brauchte nichts zu sagen, was ihn belasten könnte. Callie hatte das Recht, einen Anwalt hinzuziehen. Doch bevor er eine Entscheidung traf, müssten sie ihm sagen, dass sie gerade von der örtlichen Dienststelle der Nationalen Strafverfolgungsbehörde kämen. Die NVG machte Callie einen Vorschlag: Wenn er als Kronzeuge gegen Oberst Buddie Falk aussagte und sich des Datendiebstahls und der Mittäterschaft an mehreren Einbrüchen schuldig bekenne, würde er nicht zu einer Gefängnisstrafe, sondern nur auf Bewährung verurteilt werden.
Er sollte sich das gut überlegen.
»Unsinn«, mischte sich Callies Mutter ein. »Was gibt es denn da zu überlegen? Natürlich macht er das.«
Callie sah sie an, mit Tränen in den Augen. Und dann fing er an zu reden. Es war ein Teilgeständnis, stockend und heiser. Mit seinem von den Schlägen aufgeplatzten Mund und seinem zugeschwollenen Auge sowie unter dem Einfluss der starken Schmerzmittel war es ein mühsamer Prozess. Zwischendurch wiederholte er immer wieder: »Es tut mir so leid, Ma! Es tut mir leid. Ich wollte dir doch ein Haus kaufen, Ma.«
Callie erzählte ihnen, dass Buddie Falk am Freitagnachmittag allein zum Wohnheim gekommen war, um ihn abzuholen. Falk hatte auf den Rücksitz des Autos gedeutet und gesagt: »Da ist dein Geld, aber wir sollten uns erst mal unterhalten, wir könnten gut zusammenarbeiten, du und ich.«
Callie war eingestiegen, denn er fühlte sich durch die Datenbomben abgesichert. Plaudernd waren sie in Richtung Paradyskloof gefahren. Oben an der Eden-Plantage hatten sie neben zwei anderen Autos gehalten, in denen die Bandenmitglieder gewartet hatten. Fünf von ihnen hatten Callie gepackt und ihm sofort das Handy abgenommen. Falk machte sich Sorgen, Callie könne ihr Gespräch aufgezeichnet haben oder über das Handy geortet werden.
Anschließend brachten sie ihn in das Haus in der Brandwachtstraat, fesselten ihn an den Schreibtischstuhl, stellten den Laptop vor ihn hin und befahlen ihm, die Datenbomben zu entschärfen, oder sie würden ihm sehr weh tun.
Er hatte sich geweigert. Daraufhin halten sie ihn gefoltert. Am Sonntagabend hatte Falk einen der Trojaner ins Wohnheim geschickt, um die Festplatte aus Callies Computer zu holen, weil sie glaubten, damit könnten sie die automatische Verschickung der E-Mails verhindern. Doch so funktionierte es nicht. Der Trojaner hatte auch Callies Play-Station und eine große Summe Bargeld gestohlen, die er in seinem Schrank aufbewahrt hatte. Sie hatten ihm weiter Schmerzen zugefügt, ihn angeschrien und gedroht, ihn umzubringen. Doch Callie war klar gewesen, dass er nur überleben konnte, wenn er schwieg. Es war seine einzige Chance.
Es war schon 9:17 Uhr, und Charlie war immer noch nicht im Büro. Merkwürdig.
Aber Sandra wusste, warum. Er mied sie. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Diese miese alte Schlange!
Um zwanzig nach neun klingelte ihr Telefon. Es war Mareli Vorster von Stirling en Heyns. Sie sagte: »Meine Güte, Sandra, bei euch ist ja was los!«
Du ahnst ja nicht mal die Hälfte, dachte Sandra, aber sie blieb gefasst, denn sie fühlte sich wunderbar ausgeschlafen. »Und dabei haben wir uns gerade noch über Jasper Boonstra unterhalten«, sagte sie. »Kaum zu glauben, oder?«
»Ja, so ein Zufall, nicht wahr? Aber ich habe mir schon gedacht, dass er irgendwann das Weite sucht. Das hätte ich an seiner Stelle jedenfalls gemacht … Hören Sie, Sandra, ich rufe nur deswegen an, weil ich Ihnen sagen wollte, dass wir gerade Ihr Geld überwiesen haben. Da wir bei derselben Bank sind, müsste es heute noch auf Ihrem Konto sein.«
Die Erleichterung schwappte wie eine Welle über Sandra hinweg und überwältigte sie beinahe. Am liebsten wäre sie von ihrem Schreibtisch aufgesprungen und hätte mit geballter Faust gejubelt und geschrien.
Sie sagte: »Vielen Dank! Es war ein Vergnügen, mit Ihnen Geschäfte zu machen.«
Und dann rief sie Charlie Benson an, um ihm zu sagen, dass er ein Arsch war.
Oberst Buddie Falk saß Griessel, Geneke und Jansen gegenüber im Verhörzimmer der Kripo.
Von seinem alten Glanz war nichts mehr übrig. Er war müde und dreckig, seine Augen waren gerötet. Auf seiner Wange hatte sich ein Bluterguss gebildet, dort, wo Zamisa ihn geschlagen hatte, und in seiner schicken braunen Lederjacke klaffte vorne ein großes Loch, das der Schuss aus der VP9 gerissen hatte. Doch nur die Wand und die Jacke waren zu Schaden gekommen und Falks übergroßes Ego. Doch seine Haltung war immer noch arrogant, höhnisch und herablassend.
Griessel schob einen Ausdruck von Callie de Bruins Datenbombe über den Tisch. »Buddie, der Junge hat praktisch unsere ganze Anklageschrift schon fertig formuliert.«
»Ich will einen Anwalt.«
»Wozu?«, fragte Geneke. »Du bist sowieso am Arsch.«
»Ich will einen Anwalt.«
»Deine beiden Kollegen sind gestern Abend in Pretoria verhaftet worden, Buddie«, sagte Griessel. »Sie singen wie Kanarienvögel.«
»Fick dich. Du hättest mich erschießen sollen, als du die Gelegenheit dazu hattest.«
»Ja, das hätte ich tun sollen, Buddie. Denn du hast einen Kollegen umbringen lassen und dem Ruf der gesamten südafrikanischen Polizei schweren Schaden zugefügt.«
»Ich? Ich? Der Ruf des SAPD ist doch schon lange nichts mehr wert. Ihr seid nur zu blöd, um das zu begreifen. Ihr Weißen, die ihr immer noch euren Vorgesetzten in den Arsch kriecht.«
Griessel wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab, Falk aus der Fassung zu bringen, nämlich indem er sein Ego ankratzte. Er wünschte, Cupido wäre hier gewesen. Sein Kollege hätte das mit links geschafft. Er überlegte, was Vaughn jetzt wohl getan hätte, und sagte: »Nicht so blöd wie du, Buddie. Überlistet von einem grünen Jungen. Einem Studenten!«
»Fick dich.«
Griessel erkannte, dass er auf dem richtigen Weg war. »Er wird vor Gericht gegen dich aussagen und dich so zum Affen machen, dass die ganze Welt über dich lacht. Blink Buddie Falk. Der wichtige Buddie Falk, der alle beherrscht und befehligt hat wie ein General. Und wo bist du jetzt? Im Arsch, reingelegt von einem kleinen Studenten.«
Falk sprang halb von seinem Stuhl auf, das Gesicht hochrot, und er brüllte: »Ich hätte zum General befördert werden müssen, ich! Schon vor zehn Jahren! Ich hatte das verdient, nicht einer von euch …« Er deutete auf Kaptein Rowen Geneke. »… die alles kriegen, nur weil sie die richtige Hautfarbe haben!«
Geneke lächelte. »Willst du mich etwa beleidigen, Buddie? Du, ein korrupter Bulle, der Waffen an die Gangs auf der Kapebene verkauft hat? Jetzt wird mir klar, warum so ein grüner Junge dich zu Fall bringen konnte. Du bist ein hoffnungsloser Fall.«
»Du kannst mich mal.«
»Hast du es deswegen getan?«, fragte Oberstleutnant Witkop Jansen. »Weil du nicht befördert worden bist? Ist das deine Entschuldigung?«
Falk verschränkte die Arme schützend vor der Brust, als wüsste er, dass sie ihn durchschaut hatten.
Annemarie de Bruin sprach als Erste zur Menge der Journalisten.
Auf ihre einfache, bescheidene Art sagte sie, ihre Gedanken seien bei Leutnant Vaughn Cupido, der ebenfalls hier im Krankenhaus liege. Er habe sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, um das ihres Sohnes zu retten. Sie wolle ihm und Leutnant Griessel danken, dass sie ihr Callie zurückgebracht hatten, und auch ihren Kollegen, die zu Callies Rettung beigetragen hätten, werde sie auf ewig dankbar sein. Sie danke auch der Presse, die durch die Verbreitung des Suchaufrufs geholfen habe.
»Mein Sohn hat vieles falsch gemacht, und es bricht mir das Herz, dass er, der so begabt ist, diesen Weg eingeschlagen hat. So habe ich ihn nicht erzogen. Vielleicht habe ich als Mutter versagt. Wir werden in Zukunft mit den Folgen leben müssen. Ich habe ihm heute Morgen gesagt, dass es eine harte Lektion ist, die er jetzt lernen muss. Eine schlimme Lektion. Aber ich stehe ihm zur Seite, und ich werde ihn immer lieben. Vielen Dank.«
Der Provinz-Commissioner sagte, er habe nie daran gezweifelt, dass die südafrikanische Polizei Callie seiner Mutter zurückbringen würde. Deswegen hätten sie zwei Kriminalpolizisten von den Hawks am Kap hierher abkommandiert, um sowohl im Verschwinden von Callie als auch von Jasper Boonstra zu ermitteln. Denn er vertrete die Ansicht, dass alle – ob arm oder reich – denselben Einsatz verdienten.
Er müsse jedoch ausdrücklich betonen, dass er keinerlei Fragen bezüglich Oberst Buddie Falk beantworten werde. Er sagte: »Falk gehört nicht zu dieser Provinz. Falk arbeitet in Silverton, in Tshwane. Fragen Sie die Kollegen dort, wie das passieren konnte. Unsere Einheiten am Westkap sind sauber.«
Charlie Benson konnte Sandra nicht in die Augen sehen.
Er saß an seinem Schreibtisch und starrte das Plakat an der Wand an.
Sandra sagte: »Du hast gedacht, wenn du mich verhaften ließest, könntest du das ganze Geld behalten, du gieriger alter Mann.«
»So redest du nicht mit mir!« Sein Bein zuckte unkontrolliert.
»Ich werde mit dir reden, wie es mir passt, Charlie. Du bist eine falsche Schlange!« Sie knallte ihr Kündigungsschreiben vor ihn auf den Tisch. »Du hast eine Stunde, um mir mein Geld auszuzahlen.«
»Ach, ja? Und wenn ich es nicht tue?«
»Dann gehe ich zu den Eikestadnuus und erzähle ihnen alles über dich. Über deine sexuellen Belästigungen, die ich Tag für Tag über mich ergehen lassen musste. Ja, du hast deine eigene Form der Belästigung zu einer hohen Kunst entwickelt. Die kleinen Kosenamen, ›meine Hübsche‹, ›Topmodel‹, ›Sexy-Hexy‹, deine Einstellung gegenüber allen Frauen, die für dich arbeiten und die du unablässig daran erinnerst, dass sie minderwertig sind. Das alles ist so feige und subtil, Charlie, so gerade noch auf der sicheren Seite, dass man dir bisher nie etwas anhaben konnte. Aber wenn das rauskommt, Charlie, dann wollen wir doch mal sehen, wer mit dir noch Geschäfte machen will.«
Um 12:49 Uhr saßen Josef, Sandra und die Zwillinge im Spur, denn in das Steakhaus, das draußen einen Spielplatz hatte, gingen die Kinder am liebsten.
Sandras Handy meldete den Eingang einer SMS. Sie war von der Bank. Auf ihrem Konto waren soeben exakt drei Millionen Rand eingegangen.
Sandra ergriff die Hand ihres Mannes. »Weißt du was? Ich habe mir überlegt, meine eigene Agentur aufzumachen. Wenn du mit deinem Buch fertig bist.«
»Was ist eine Agentur, Mama?«, fragte Bianca.
»Ich will auch eine aufmachen«, sagte Anke.
»Darauf sollten wir anstoßen«, sagte Josef. »Meinst du, hier gibt es Champagner?«
Bennie und Alexa wurden erst um vier Uhr nachmittags zu Cupido vorgelassen.
Sie durften nicht lange bleiben, denn er lag immer noch auf der Intensivstation. Er hing an Infusionen, Schläuchen und Messgeräten. Seine Augen waren noch stumpf, und seine Haut war aschfahl.
Alexa vergoss ein paar Tränen und versicherte ihm, wie sehr sie sich freue, dass er wieder gesund werden würde, sie hätte sich wahnsinnig erschrocken. Die Blumen draußen seien für ihn.
Griessel legte ein flaches, in Geschenkpapier eingewickeltes Päckchen neben Vaughn aufs Bett.
»Was ist das, Partner?«
»Soll ich es für dich aufmachen?«
»Yebo, yes.«
»Ich hab mir gedacht«, sagte Griessel, »wo wir uns doch noch eine Weile lang ein Büro teilen müssen, sorge ich mal besser dafür, dass ich genügend Platz habe.«
»Wie meinst du das?«
Griessel riss das Geschenkpapier auf und zeigte Cupido das Buch. Kalorienarme Rezepte – Abnehmen leicht gemacht. »Es ist auch ein Rezept für Muffins drin.«
»Wie aufmerksam von dir! Blöder Arsch.«
»Ich wusste, es würde dir gefallen.«
Alexa hatte für Kayla, die Vegetarierin, eine Kürbis-Tajine zubereitet. Ein Rezept aus ihrem marokkanischen Kochbuch.
Ihre Versuche, marokkanisch zu kochen, waren gefürchtet. Kurz bevor die Kinder um zwölf Uhr erwartet wurden, probierte Griessel das Gericht. Ihm schwante, dass es das erste und letzte Mal war, dass Fritz’ Freundin sie besuchen kam.
Er stand hinten auf dem Grillplatz und war dabei, die Steaks zu salzen, als die beiden, von Alexa begleitet, zu ihm kamen.
Kayla, die Vegetarierin, hatte Tattoos auf beiden Armen. Viele Tattoos. Aber ihr Lächeln und ihre lebendigen Augen machten sie ihm auf Anhieb sympathisch. Griessel bemerkte, dass Fritz leicht angespannt war; er sah es an seiner leicht gerunzelten Stirn. Die ewige Angst eines Alkoholiker-Kindes: Hat mein Vater getrunken?
Griessel wurde ganz heiß vor Schuldgefühlen.
Sie begrüßten sich. Fritz’ Nervosität ließ nach. Seine Freundin redete. Viel. Sie nannte ihn nicht wie üblich oom, sondern sprach ihn mit Vornamen an. Sie sagte: »Wow, Bennie, ich hab dich im Fernsehen gesehen, das war bestimmt spannend, in dem Fall zu ermitteln. Wie ist Boonstras Frau denn so? Ist sie nett? Los, komm schon, du musst uns alles erzählen!«
Von da an lief alles wie am Schnürchen. Fritz freute sich darüber, dass seine Freundin von seinem beinahe prominenten und nüchternen Vater so begeistert war, und obwohl Griessel anfangs etwas zurückhaltend reagierte, lockte ihn Kayla mit ihrer Spontaneität und Natürlichkeit aus der Reserve. Schließlich genoss er es sogar, von seiner Arbeit zu erzählen und von seinen Vermutungen, was passiert sein könnte. Von der attraktiven Immobilienmaklerin, ihrem Ford EcoSport und davon, dass die Kriminaltechniker ihm gestern Morgen mitgeteilt hatten, dass tatsächlich ein Gewicht von etwa neunzig Kilo in diesem Auto transportiert worden sein musste.
Beim Grillen der Steaks ermunterte ihn Alexa, auch von Callie de Bruin zu erzählen.
Und das tat er.
Als Kayla von der Tajine kostete, fragte Alexa sofort: »Und, schmeckt sie einigermaßen?«
»Sehr lecker, danke, Alexa.«
Bennie sah den Leuten an, wenn sie logen. Er kannte alle Zeichen. Und Kayla verriet sich auf mindestens zwei Arten.
Als sie beim Eis mit Schokoladensoße angekommen waren, hatte Bennie alles erzählt.
»Es ist schon seltsam«, bemerkte Kayla. »Es gibt so vieles in unserem Land, was uns voneinander trennt. Aber in unserer Gier sind wir vereint.«
Die jungen Leute blieben bis halb fünf, und bevor sie wieder fuhren, umarmte Fritz seinen Vater, kurz und männlich, Schulter an Schulter.
Bennie sah den beiden nach, als sie davonfuhren, und fand, dass dies das Beste war, was ihm in diesem Jahr bisher passiert war.
Sandra Steenberg saß im Wohnzimmer und las eine Zeitschrift. Es war kurz vor vier Uhr nachmittags. Da klingelte ihr Handy.
Sie musste aufstehen, um es zu holen; es lag in der Küche auf der Anrichte.
Eine unbekannte Nummer. Sie meldete sich.
»Hallo, Sandra, hier ist Joan Schoeman, wie geht es Ihnen?« Es war die Besitzerin des Hauses in der Brandwachtstraat.
»Sehr gut, vielen Dank, und Ihnen?«
»Ach, nicht so besonders. Andrés Stiefvater ist erkrankt. Wir sind auf dem Weg nach Hause, es sieht nicht gut aus.«
Sandra fröstelte ein wenig. »Oh, das tut mir aber leid. Wann kommen Sie denn?«
»Deswegen rufe ich an. Wir sind jetzt in Johannesburg; so gegen sieben landen wir in Kapstadt. Ich würde gern mit Ihnen die Schlüsselübergabe vereinbaren.«