Ihre eigene Geschichte
Um sieben Uhr am nächsten Morgen erscheint Jake zu der reservierten Privatführung und stößt auf ihren ehemaligen Verlobten.
»Findest du das genauso verrückt wie ich?«, sagt Silas und streckt ihr die Hand entgegen.
Es ist dreizehn Jahre her, dass Jake den einfachen Flug von Vancouver in die Niederlande gebucht hat, nicht ohne Silas vorher den Verlobungsring zurückzuschicken – ohne eine Karte oder auch nur ein einziges Wort der Erklärung. Das ist also aus Jakes Vorhaben geworden, ihn niemals wiederzusehen – und aus ihrem langgehegten Glauben, das Welken habe die Wahrscheinlichkeit einer versehentlichen Wiederbegegnung auf null reduziert.
»Was für eine Überraschung«, sagt Jake und nimmt seine weiche, mit Feuchtigkeitscreme gepflegte Hand in ihre, was eine hastige, blutleere Umarmung nach sich zieht.
Niemand aus ihrem Leben vor dem Welken hat je die Insel besucht, und Silas’ Erscheinen kommt ihr unwirklich vor, so als wäre er gerade in einen ihrer Träume spaziert. Doch neben dem Wasserfall aus Schuld, der in ihren Ohren donnert, verspürt Jake auch ein Stechen der Scham, von jemandem, den sie einmal bewundert hat, in solch niederen Umständen angetroffen zu werden, so als wäre sie dabei ertappt worden, wie sie sich in der lächerlichen Verkleidung ihrer Uniform in einem albernen Themenpark am Ende der Welt versteckt hält.
Nach der Umarmung stehen sie einen Augenblick lang verlegen da und überlegen, wie es nun weitergehen soll.
»Hör zu, Silas«, unterbricht Jake ihn, als er selbst gerade zum Sprechen ansetzen will, »ich verstehe es vollkommen, wenn du lieber eine andere Führerin willst.«
»Soll das ein Witz sein?«, sagt Silas mit einer wegwerfenden Handbewegung, und ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. »Wer wäre besser geeignet als du, mich durch diesen wunderbaren Wald zu führen, von dem alle sprechen?«
»Okay …«, sagt Jake zögernd und müht sich, ihre professionelle Fassade aufrechtzuerhalten. Auch wenn er der letzte Mensch auf Erden ist, mit dem sie freiwillig die nächsten Stunden verbringen würde, ist er doch immer noch ein Pilger – und ihre Stelle hängt von seiner Zufriedenheit mit der Führung ab. »Dann legen wir los.«
Nachdem sie die erste der einstudierten Ansprachen gehalten hat, lässt Jake Silas auf dem sich verjüngenden, gewundenen Pfad durch das Baumlabyrinth vorangehen. Kleidung aus seidig glänzendem Leafskin-Stoff, ein im Fitnessstudio trainierter Körper, Haut, die so gepflegt ist, dass sie zu leuchten scheint – das Welken war nachsichtig mit Silas. Wahrscheinlich ist er inzwischen ein führender Holtcorp-Wissenschaftler, der sich zur Erholung in einem der firmeneigenen Resorts eingemietet hat. Aber dann kommt Jake der flüchtige Gedanke, dass er gar nicht besonders überrascht wirkte, sie zu sehen. Hat er Jake doch bewusst ausgewählt? Nur um sich ein paar Stunden lang überlegen zu fühlen und ihr zu beweisen, was für einen katastrophalen Fehler sie begangen hat?
Sie hatten sich in Jakes erstem Jahr an der UBC bei einer Vorlesung in Earth Sciences kennengelernt. Silas, ein glühender Umweltschützer, nahm sie zu Benefizveranstaltungen und Dokumentarfilmvorführungen mit – und errettete sie so unwissentlich aus einsam in ihrem Studentenwohnheim verbrachten Wochenenden, an denen sie durch botanische Texte blätterte und Aststrukturen bewunderte wie modische Kleider. Er war klug, schlagfertig, ohne sarkastisch zu sein, und innerhalb weniger Monate war zwischen ihnen eine so starke Verbindung entstanden, dass sie sich fühlten wie zwei Organismen, die sich symbiotisch entwickelt hatten und ohne einander nicht überleben konnten. Bald nahm Jake an den überreichlichen Geburtstagen und Jubiläen teil, die Silas’ große, wohlhabende Familie in endloser Folge zu feiern schien. Sie kam sich wie eine Landstreicherin vor, die sich in ihre Skihütten und Häuser am See verirrt hatte, wenn sie seinen Eltern und seinen fünf Geschwistern dabei zusah, wie sie gemeinsam Mahlzeiten zubereiteten, um sie anschließend unter fröhlichem Geplauder einzunehmen. Jake, die so einsam aufgewachsen war, verblüffte Silas’ Familienleben, und diese Faszination war bald untrennbar mit ihren Gefühlen für ihn verbunden. Silas hatte glücklicherweise genug Intuition, um Jake nie nach ihrer Vergangenheit zu fragen. Ihre Gespräche drehten sich um Emissionszertifikate, Umweltzerstörung und das Krebsgeschwür, das der Lobbyismus der Ölmagnaten war – es war die idyllische Zeit vor dem Welken, als man noch glaubte, die Katastrophe lasse sich durch wohlmeinendes, wohlüberlegtes Engagement vereiteln. Mit dem Näherrücken ihres Abschlusses wuchs Silas’ Nervosität angesichts der drohenden räumlichen Trennung. Er machte ihr einen Heiratsantrag und nahm Jake das Versprechen ab, sie würden sich für geografisch kompatible Graduiertenkollegs entscheiden. Jake willigte ein, und eine Zeit lang war sie mit der Entscheidung zufrieden. Doch als ihr eine Stelle bei einem wegweisenden Forscher in Utrecht und Silas ein Vollstipendium an der University of California angeboten wurde, musste Jake eine Entscheidung treffen: Silas oder die Bäume. Ihre panische Reaktion bestand darin, seine Anrufe, Textmitteilungen und E-Mails komplett abzublocken und sich bei ihrer Abreise in die Niederlande nur von Fremden zum Flughafen begleiten zu lassen.
Kurz gesagt, Jake hatte sich für die Bäume entschieden.
»Gott, wie ich das vermisst habe«, sagt Silas, nachdem sich der Pfad verbreitert hat und sie nebeneinander gehen. »Sonnenschein, Sauerstoff, Erde, Wasser – der Rohstoff des Lebens.«
»Silas«, setzt sie leise an. »Ich weiß, ich habe das damals nicht gerade auf die beste Art und Weise beendet –«
»Du musst dich nicht entschuldigen, Jake. Das ist lange her. Und du hast getan, was du tun musstest. Ich freue mich einfach nur zu sehen, dass du dein Talent verwirklichen konntest.«
Sie bedankt sich bei ihm und betrachtet seine Aussage durch ein mentales Mikroskop, sucht sie nach Spurenelementen von Bitterkeit oder Herablassung ab, findet aber keine.
»Um ehrlich zu sein, habe ich heute Morgen halb damit gerechnet, dass du anfängst zu schreien und in die andere Richtung davonrennst, wenn du mich siehst.« Also wusste er doch, dass ich es bin, schießt es Jake durch den Kopf. »Ich bin froh, dass du es nicht getan hast. Es ist eine Erleichterung, dass du an einem so schönen und sicheren Ort gelandet bist.«
»Und wohin hat es dich verschlagen?«
»Nach San Francisco. Oder was davon übrig ist. Genau genommen in eine geschlossene Wohnanlage in Alameda. Aber ich überlege, nach Kanada zurückzuziehen. Die Staubstürme werden nur immer schlimmer, und bei den Millionen von Menschen, die Tag für Tag tiefer in die Armut abrutschen, und den ganzen Klimaflüchtlingen, die die Grenzen durchbrechen –«
»Immer hübsch mit der Ruhe, Cowboy«, sagt Jake, um einen scherzhaften Tonfall bemüht. »Ich bin auch eine Einwanderin, schon vergessen?«
»Oh, das sind keine strebsamen, hart arbeitenden Menschen, die sich bemühen wie du, Jake. Und sie sind ganz bestimmt einmal gute Menschen gewesen. Aber nach ein paar Jahren im Staub sind sie verzweifelt genug, um deine Familie abzuschlachten und dein Haus zu plündern, ohne vorher höflich um ein Almosen zu bitten.«
Dagegen hätte Jake einige Einwände, aber sie lässt sie fallen, da sie nicht riskieren kann, ihn zu verärgern. »Kinder?«, fragt sie im Versuch, das Thema zu wechseln, und schilt sich augenblicklich für ihre Tölpelhaftigkeit. Zu vorschnell.
Er schüttelt den Kopf und erwidert ihren Blick mit ebenso hochgezogenen Augenbrauen.
Jake schüttelt den Kopf. »Die Kathedrale hat keine Unterbringungsmöglichkeiten für die Kinder von Mitarbeitern. Sie versorgen uns sogar mit kostenlosen Verhütungsmitteln, um auf Nummer sicher zu gehen.« Jake unterschlägt, dass sie das Kinderkriegen schon vor langer Zeit in der verschließbaren Schublade abgelegt hat, die alles enthält, was das Welken Menschen wie ihr unmöglich gemacht hat: ein eigenes Haus, eine dauerhafte Beziehung, ein Forschungslabor, eine Laufbahn in der Lehre. Und selbst wenn sie das Geld gehabt hätte – warum sollte jemand ein Kind in eine so verlorene Welt setzen? Kinder brauchen Hoffnung und Wohlstand, wie Bäume Licht und Wasser brauchen, und Jake Greenwood hat beides nicht mehr vorzuweisen.
Erst als sie aus diesem gedanklichen Morast wieder auftaucht, bemerkt Jake, dass sie Gottes Mittelfinger erreicht haben. Während ihrer Rede schaut sie zu den beiden kranken Tannen hinauf und stellt fest, dass sich die braunen Nadeln seit dem Vortag nicht verändert haben. Silas stellt ein paar obligatorische Fragen, aber auch wenn er die Rolle des Pilgers zu spielen versucht, wirkt er irgendwie deplatziert, so als würde eine Uhr ungeduldig hinter all seinen Worten ticken.
»Du hast vorhin gesagt, du hättest mich heute Morgen erwartet«, sagt Jake, als sie für eine Trinkpause zum Picknickbereich gehen. »Das Ganze ist kein Zufall, oder?«
Silas setzt ein leutseliges Lächeln auf. »Jake, du solltest wissen, dass ich nach dem Abschluss die Biologie an den Nagel gehängt habe und Jurist geworden bin.«
Kein Wunder, dass er so nachsichtig ist, denkt Jake. Er will etwas von mir. Sie zieht kurz die Möglichkeit in Betracht, dass er gekommen ist, um sie hinauszuwerfen. Aber warum sollte Holtcorp dann nicht einfach ein Team von Waldaufsehern schicken? »Und jetzt arbeitest du als Anwalt für Holtcorp?«
»Ich arbeite für eine unabhängige Kanzlei, die gelegentlich auch Holtcorp vertritt, ja. Aber ich arbeite auch für dich«, sagt er; sein Blick ist jetzt sanft und offen, beinahe verwundet. »Oder zumindest würde ich das gern.«
»Und wie genau stellst du dir das vor?«, fragt Jake skeptisch.
Silas lacht nervös. »Das geht alles ein bisschen schnell – ich hatte eigentlich vor, das beim Abendessen mit dir zu besprechen.«
»In Privatführungen ist kein Abendessen enthalten«, sagt sie knapp. »Und deine Führung ist so gut wie vorbei.«
»Okay, schon gut«, sagt er und hebt in einer kapitulierenden Geste die Hände. »Ich bin gekommen, weil diese ganze Insel dir gehören könnte, Jake. Rechtmäßig dir gehören, meine ich. Und ich bin hier, weil ich dir helfen will, das in die Tat umzusetzen. Aber um herauszufinden, ob das möglich ist, müsstest du mir ein paar Fragen zu deiner Familie beantworten. Vor allem zu deinem Vater, Liam Greenwood.«
Er ist also ein Aasgeier, denkt Jake. Sie hat immer wieder über diese Art von Anwälten gelesen, die juristische Leichen aufstöbern, um sie auszuweiden: nicht vollstreckte Testamente, schlecht verwaltete Erbangelegenheiten, Schlupflöcher, die sie benutzen können, um sich Land anzueignen oder irgendetwas vor Gericht anzufechten. Aber Jake hätte Silas für klüger gehalten. Die Bedingungen dort draußen müssen wirklich hart sein, wenn er den fadenscheinigen Zufall ihres Nachnamens ausschlachten will, um Anspruch auf einen milliardenschweren Wald zu erheben.
»Holtcorp hat dieses Resort die Waldkathedrale von Greenwood genannt, weil es gut klang, Silas«, sagt Jake. »Das ist nichts anderes als Markenbildung. Ich habe damit nicht das Geringste zu tun. Mein Vater war Schreiner und ist bei der Renovierung eines Hauses in Connecticut gestorben – ich weiß nicht mal das genaue Datum. Klingt das für dich nach einem Inselbesitzer?« Zum ersten Mal seit Jahren erwähnt sie ihren Vater, und sie fühlt, wie sich die Muskeln in ihrem Hals anspannen wie Gitarrensaiten.
»Ich weiß, dass es schwer ist«, sagt Silas mit einfühlsam geneigtem Kopf, »aber kannst du mir diesmal einfach zuhören und nicht wegrennen? Bist du mir das nicht schuldig?«
Ein Knoten aus Schuldgefühl bildet sich in Jakes Innerem. Selbst wenn sie unter einen Stein kriechen würde, könnte sie sich nicht niedriger fühlen als in diesem Moment. »Gut, du hast fünf Minuten, dann müssen wir zurück.«
Silas greift in die Tasche und zieht eine Karteikarte hervor. »Harris Greenwood, der Holzbaron von der Westküste«, liest er vor, »kaufte diese Insel im Jahr 1934 auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise – und zwar von keinem Geringeren als John D. Rockefeller, der sie von den Engländern erworben hatte, die sie von den Spaniern erobert hatten, die sie nach der Kolonisierung den Haida und den Penelakut geraubt hatten. Harris Greenwood benannte die Insel nach sich selbst, auch wenn er sie seiner Tochter Willow Greenwood, der Hippie-Umweltaktivistin, vermachte. Sie dankte es ihm dadurch, dass sie die Insel – zusammen mit dem gesamten Vermögen der Greenwoods – einer gemeinnützigen Umweltorganisation spendete und damit ihren Sohn Liam Greenwood zu einem Leben als einfacher Arbeiter und seine von ihm entfremdete Tochter zu Studentendarlehen und der Knechtschaft in einem Baumresort verdammte. Im Laufe der Zeit wandelte sich die gemeinnützige Organisation jedoch zu einem Unternehmen für grüne Energie, das bei dem Crash im Jahr 2008 Konkurs machte und die Insel für einen Apfel und ein Ei an Holtcorp verkaufen musste, um seine Verluste abzufangen. Holtcorp ließ das Potenzial der Insel ungenutzt, bis das Unternehmen im Zuge des Großen Welkens die Möglichkeit erkannte, ihre spirituelle Anziehungskraft zu vermarkten – und voilà, da wären wir.« Er macht eine kleine Verbeugung und reicht Jake die Karteikarte. »Das wurde von zwei meiner besten Rechercheure zusammengestellt. Jeder einzelne Satz ist anhand von öffentlichen Informationen überprüfbar. Es gehört dir. Ein Geschenk für dich.«
Jake steht sprachlos da, während die blaugrünen Kronen der riesigen Tannen Hunderte von Metern über ihr rauschen. Sie streckt langsam die Hand aus und ergreift die Karte. Das Papier ist echt, fühlt sich zwischen ihren Fingern spröde und luxuriös dick an. Sie überfliegt den aufgedruckten, nach Stichpunkten gegliederten Text. Willow Greenwood . Sie kann sich nicht erinnern, dass Meena je von Liams Mutter gesprochen hätte. Und in dem Karton voller nutzloser Relikte war keine Spur von ihr zu finden gewesen. Doch das hieß nicht, dass es sie nicht gegeben hatte. Jake wird schwindelig, aber sie fühlt sich sonderbar beschwingt. Nachdem sie ihr Leben lang so gut wie nichts über ihre Familie gewusst hat, ist es, als hätten diese Namen und diese Geschichte, die so unerwartet über sie hereingebrochen sind, sie aus ihrem Körper gestoßen. Aber natürlich gibt es Schichten von Leben, die ihrem eigenen vorausgegangen sind, so wie Bäume von den konzentrischen Bändern ihres früheren Ichs aufrecht gehalten werden, Ringe, die sich über Ringen gebildet haben, Jahr für Jahr. Warum war es ihr nie in den Sinn gekommen, sich nach ihren Vorfahren zu erkundigen? Weil es, so wird ihr bewusst, nie jemanden gegeben hat, bei dem sie sich hätte erkundigen können.
»Selbst wenn diese Insel nach meinem Urgroßvater benannt sein sollte«, sagt Jake im Versuch, sich in die Realität zurückzukämpfen, »gehört sie jetzt Holtcorp. Und wenn du glaubst, wir könnten sie denen abnehmen, dann muss dir der Staub ins Hirn gerieselt sein. Also danke für die Information, Silas, aber ich habe heute noch fünf Führungen vor mir. Lass uns losgehen.«
»Aber was, wenn ich dir sage, dass Harris Greenwood gar kein Blutsverwandter von dir ist?«, verkündet er mit selbstzufriedener Miene. »Und nehmen wir einmal an, wir könnten beweisen, dass du tatsächlich einen Anspruch auf Greenwood Island hast. Einschließlich dieses unglaublich seltenen und gefährdeten Waldes, von dem ich weiß, dass du ihn liebst. Nicht weil du eine Greenwood bist, sondern weil du von dem Gründer von Holtcorp, R. J. Holt, abstammst.«
Dann würde ich dir sagen, wenn du mich nicht in Ruhe herausfinden lässt, was mit diesen Bäumen los ist, dann ist Greenwood Island nächstes Jahr um diese Zeit vielleicht schon ein kahler Felsen, und dann spielt es überhaupt keine Rolle, wem die Insel gehört, würde Jake am liebsten sagen. Stattdessen sieht sie zu, wie er seinen Rucksack abnimmt und ein schmales Papierbuch mit festem Einband herauszieht.
»Das hat einmal deiner Großmutter gehört«, sagt Silas und hält das Buch sanft zwischen den Fingerspitzen. »Wir hatten überlegt, es dir zu schicken, bis ich meinen Kollegen erzählt habe, wie skeptisch du bist. Deshalb habe ich vorgeschlagen, es dir zu bringen. Es ist nicht nur schön, dich wiederzusehen – und das ist es wirklich –, sondern ich hatte auch gehofft, dass du mir vertraust.«
Jake nimmt das Papierbuch in die Hand, und ein kribbelndes Gefühl der Verzauberung breitet sich in ihr aus. Sie spreizt den harten Einband, der einen etwas strengen Geruch verströmt und an einigen Stellen rissig und mit violetten Flecken übersät ist. Getrocknete Grashalme und feiner Staub rieseln zwischen den rußgeschwärzten Seiten hervor, als sie darin blättert und Absätze in säuberlicher Handschrift zum Vorschein kommen – offenbar undatierte Tagebucheinträge. Das Papier selbst hat die Farbe gerösteter Mandeln, aber auch eine gewisse Festigkeit, geboren aus einer Zeit, als Bäume eine unerschöpfliche Ressource gewesen sind, unbegrenzt an Zahl. Einer Zeit, als man etwas verschüttete Flüssigkeit mit einer ganzen Rolle Papiertücher aufgesaugt oder (wie in ihrem Fall) seine ganze Doktorarbeit einseitig auf einen dicken Stapel schneeweißer Seiten gedruckt hat.
»Ich reise heute Abend ab«, sagt Silas. »Aber ich darf das bei dir lassen, bis ich zurückkomme. Du musst dich also nicht gleich entscheiden, ob du deine Ansprüche geltend machen willst – es wäre mir sogar lieber, wenn du es nicht tust. Ich möchte gern, dass du es liest, darüber nachdenkst, dich an das Gefühl gewöhnst, eine Geschichte zu haben. Versprich mir nur, es zu hüten wie deinen Augapfel. Es ist ein Gegenstand von ungeheurem Wert. Vor allem für dich.«
»Ich habe schon ein paar davon auf dem Nachttisch liegen«, witzelt Jake und überspielt damit ihr brennendes Verlangen, das Papierbuch zu lesen, das sie zusammen mit der Karteikarte an ihren Bauch drückt, »aber ich versuche mir die Zeit zu nehmen.«
Silas schüttelt den Kopf und grinst. »Wir verhandeln gerade über den Kauf eines weiteren wichtigen Puzzlestücks, das deine Ansprüche sehr stärken würde. Wenn es so weit ist, komme ich wieder.« Er tritt näher an sie heran und umfasst ihre Ellbogen. »Ich habe mir deine Schuldensituation angesehen, Jake, und ich weiß, dass du es nicht leicht hast. Aber das könnte alles ins Lot bringen. Und ich meine nicht nur das Geld. Du hattest nie eine eigene Geschichte, auf die du zurückblicken konntest. Ich habe immer gespürt, dass dir das zu schaffen macht, ob du es zugeben wolltest oder nicht. Jetzt kann sich das alles ändern.«
Später am Abend kehrt Jake in ihre Hütte zurück, gießt sich einen strammen Bourbon ein und schmiegt sich in das Zweisitzersofa, das Papierbuch auf dem Schoß. Nach fünf weiteren Pilgerführungen durch die Kathedrale sind ihre Augen trüb und nicht darauf eingestellt, die Kursivschrift des Buchs zu entziffern.
Es war dumm, dir Hoffnungen zu machen, sagt sie sich und steht auf, um das Papierbuch zu all den anderen bedeutungslosen Familienstücken in den alten Pappkarton ihres Vaters zu legen. Zwar begreift sie, dass es sich bei diesem Tagebuch um etwas handelt, was große Auswirkungen auf ihr Leben haben sollte, doch zum Schaden von Silas und seinen Plänen hat Jake dem Ausdruck »seine Wurzeln kennen« stets misstraut. Als könnte man Wurzeln überhaupt kennen. Jeder Dendrologe kann einem sagen, dass sich die Wurzeln eines Waldes voller ausgewachsener Douglastannen kilometerweit erstrecken. Dass sie dunkel und verflochten sind, verknotet und verdreht und unmöglich zu kartografieren. Dass sie sich vereinigen und sogar miteinander kommunizieren, insgeheim Nährstoffe und chemische Waffen untereinander teilen. Die Wahrheit ist also, dass es keine klare Trennung zwischen einem Baum und dem nächsten gibt. Und ihre Wurzeln sind ganz und gar unerkennbar.
Jake leert ihren Drink, nimmt das Papierbuch wieder aus dem Karton und schlägt die erste Seite auf. Auf der Umschlaginnenseite stehen einige mit Bleischrift geschriebene Wörter in der linkischen Blockschrift eines Kindes: »Eigentuhm von Willo Grienwud«.
Jakes Herz macht einen kleinen Hüpfer beim Anblick des Namens ihrer Großmutter, so falsch geschrieben er auch sein mag. Und während sie sich im Laufe des Abends einer willkommenen Besinnungslosigkeit entgegentrinkt, denkt sie über Willow Greenwood nach, darüber, wer sie war und was sie veranlasst hat, ihr Vermögen fortzugeben. Sie denkt über ihren Vater nach und fragt sich, ob auch er getrunken hat und ob er dadurch so »problembeladen« geworden ist. Falls ja, hat Jake ihm schon verziehen. Vielleicht trinkt sie aufgrund seiner Gene. Oder aufgrund seiner Abwesenheit. Oder vielleicht haben seine Gene auch zu seiner Abwesenheit geführt, die wiederum dazu geführt hat, dass sie trinkt. Oder vielleicht hat er sich in der Welt einfach nur so wenig willkommen gefühlt, wie sie es jetzt tut, und das Trinken ist das Einzige gewesen, was ihm ein wenig Erleichterung verschafft hat. Oder vielleicht sind ihre eigenen Wurzeln viel zu verworren, und es gibt sie schlicht nicht, die eine Geschichte, die sich über all das erzählen ließe.
Mitten in der Nacht nimmt sie das Papierbuch ein letztes Mal in die Hand und schlägt die verrußten, mit Tinte verschmierten Seiten auf. Wie eng ein Buch doch mit dem Baum und seinen Ringen verwandt ist, denkt sie. Die Schichten der Zeit, konserviert und für jeden einsehbar.