Schön, dich zu sehen
Sie hat sich ihren Onkel immer als ein runzeliges Männlein mit einem knöchellangen Bart vorgestellt. Wie sollte nach einer achtunddreißigjährigen Haftstrafe jemand anderes als Rip Van Winkle vor ihr erscheinen? Doch die Gestalt, die aus dem Haftraum kommt, ist eine Überraschung. Ungeachtet eines leichten Humpelns, das auf seiner linken Seite zu entspringen scheint, ist Everett groß und robust gebaut wie ihr Vater. Er trägt eine billige Hose mit elastischem Bund, Gefängnisschuhe mit Klettverschluss und ein makellos weißes T-Shirt, dessen Falten darauf hinweisen, dass es gerade frisch ausgepackt wurde. Sie kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass sein vierschrötiges Gesicht attraktiv ist, und seine Haare, in denen sich Grau und Schwarz mischen, sind im Nacken bis auf die Haut gestutzt – ein Schnitt, wie ihn nur noch Polizisten und Spießer tragen.
»Schön, dich zu sehen, Willow«, sagt er, den Blick auf den Boden geheftet.
Willow weiß, dass sie ihn in Anbetracht ihrer jahrelangen Korrespondenz umarmen sollte, doch den jüngsten Gefühlsanwandlungen ihres Vaters zum Trotz ist das bei den Greenwoods nicht üblich. Also schüttelt sie ihm routinemäßig die Hand, so als hätte sie ihm gerade einen Gebrauchtwagen verkauft. »Komm, nichts wie weg hier.«
Nach einigen Hinweisen des Mitarbeiters der Entlassungsstelle zu seinen Bewährungsauflagen gehen sie in den Sonnenschein hinaus. Willow frohlockt innerlich, als sie ins Freie tritt, aber sie kann sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, welche Ekstase ihr Onkel in diesem Augenblick empfinden muss. Auf dem Weg zum Parkplatz bleibt sein Blick trotzdem weiter einige Schritte vor ihm auf den Bürgersteig gesenkt.
»Das nenne ich mal einen fahrbaren Untersatz«, sagt Everett, beim VW-Bus angelangt. »Kannst du da drin ein richtiges Lager aufschlagen?«
Willow nickt stolz. »Ich nenne ihn meinen Fluchtwagen. Er sorgt dafür, dass ich die Nähe zur Natur nicht verliere.«
»So einen hätte ich zu meiner Zeit auch gebrauchen können«, sagt er wehmütig.
»Na ja, innen treten Abgase aus, darum muss man während der Fahrt die Fenster aufmachen, damit man nicht duselig wird, aber er hat mir immer treue Dienste geleistet.« Beim Einsteigen erzählt sie Everett, sie habe den Bus von dem Geld gekauft, das sie in ihren Zwanzigern mit dem Bepflanzen des von ihrem Vater gerodeten Landes verdient habe, und sie habe nicht einen Cent von seinem Blutgeld angenommen, seit sie das College abgebrochen habe. Sie erzählt von den einmonatigen Campingausflügen, auf denen sie jeden Sommer allein von Nationalparks zu geheimen Plätzen, Badestellen und verborgenen heißen Quellen fahre. »Nur ich, ein paar Säcke Reis, Sojabohnen und Kichererbsen, mein Schlafsack und die großen nordamerikanischen Wälder als mein persönlicher Ruheraum.«
»Das klingt wirklich nett«, sagt ihr Onkel in einem matten Tonfall, der darauf hindeutet, dass er sich nicht viel aus der Natur macht.
»Also, wo geht’s hin?«, fragt Willow, nachdem der Bus spotzend angesprungen ist und ihr bewusst wird, dass sie mit Harris gar nicht besprochen hat, wohin sie Everett bringen soll.
Er rutscht auf den Holzperlen der Sitzauflage herum. »Ich habe in Saskatchewan etwas zu erledigen«, sagt er geradezu verlegen. »Und ich habe vor, mit einem dieser Flugzeuge zu fliegen.«
Willow schüttelt den Kopf. »Nach Saskatchewan ist es nicht weit. Da nimmst du besser den Zug in Richtung Osten.«
Sie könnte schwören, bei diesen Worten überkomme ihn ein Schauder. »Von Zügen habe ich genug«, sagt er mit starrer Miene. Ihr fällt ein, dass ihr Vater einmal an Weihnachten nach zu viel Reiswein erwähnt hat, während der Weltwirtschaftskrise sei Everett ein Landstreicher gewesen, der auf Güterzügen durchs Land fuhr, und davor ein Veteran des Ersten Weltkriegs, Einzelheiten, die ihr ganz und gar prähistorisch vorkamen. »Und außerdem«, fügt Everett hinzu, »muss ich in Vancouver bei meinem Bewährungshelfer vorstellig werden, bevor ich sonst irgendwohin gehe.«
»Nur damit du’s weißt: Fliegen ist teuer geworden seit der Nahost-Ölkrise.«
»Das macht nichts«, erwidert er. »Ich habe im Bau Schreinerarbeiten erledigt. Ich habe bestimmt zehntausend Vogelhäuser und ein paar Regale für die Gefängnisbücherei gezimmert und dadurch ein bisschen Geld auf die Seite gebracht.«
»Dann auf nach Vancouver«, verkündet sie, obwohl sie der Gedanke, in die große Stadt zurückzukehren und sich dem Zugriff der Polizei auszusetzen, mit leichter Furcht erfüllt. Sie zündet sich eine Menthol-Zigarette an und fährt langsam vom Parkplatz der Strafanstalt herunter, während der ominöse schwarze Wagen, der ihr gefolgt ist, noch immer durch die finsteren Seitengassen ihrer Gedanken rollt.