Der Holzstift
Als der Zug vor einer Kurve die Fahrt verlangsamt und die nächste Weiche mit einem Pfeifen ankündigt, sieht Everett unweit des Verbindungsbahnhofs vor ihnen fünf oder sechs Automobile und dazu Mounties in blutroten Uniformjacken, die unter den beleuchteten Dachvorsprüngen des Bahnhofsgebäudes vor dem Regen Schutz suchen. Was bedeutet, dass er den Mann in dem Obsthain stärker verletzt hat, als er dachte.
Das Kind in die Ellenbeuge gedrückt, senkt Everett das Kinn und wirft sich aus der Tür des Güterwaggons. Er taumelt in einen Graben und überschlägt sich, um schließlich schlitternd zum Stehen zu kommen. Er sammelt sich und zieht den Jutesack fort, um nach dem Kind zu sehen: weit aufgerissene Augen, ein Ausdruck blanken Entsetzens, an dessen Stelle bald eine langsam heraufziehende Grimasse tritt, die ihr ganzes Sein beherrscht – alles, während sie eine große Menge Luft in die Lunge saugt.
Dann geht es los.
»Tut mir leid, verdammt«, knurrt Everett inmitten des Grollens des vorüberfahrenden Zuges, während er sich in einen Birkenhain schlägt, der sich an den Gleisen entlangzieht. Er läuft und geht eine halbe Stunde lang, hält sich dicht an der Baumreihe, blickt sich regelmäßig nach Mounties um, die ihm folgen könnten, während das Kind brüllt, als stünde es in Flammen.
Nachdem sie der Rhythmus seiner Schritte schließlich eingelullt hat, bleibt er stehen, um sich zu orientieren, und Regen tropft von seinem Hut direkt in ihr Auge, und sie beginnt wieder zu schreien. Mit einem kohlenschwarzen Daumen wischt Everett ihr das Wasser aus dem Auge. »Ach, komm schon, du kleines Rabenaas«, sagt er. »Bei deiner Geburt warst du weniger trocken.«
Nach seiner Taufe wird das Kind trotzig, seine Augen verengen sich zu Schlitzen wie die einer Katze, die man wochenlang alleine gelassen hat. Und da erst bemerkt Everett sie: eine Delle, mitten auf der Krone ihres flaumigen Schädels. Entsetzt drückt er mit dem Daumen in die grausige Mulde und ertastet keinen Knochen, nur pulsierendes Blut und weiches Hirn. Er reißt die Hand zurück und untersucht ihre Pupillen, aber ihr Blick ist stet, und sie atmet normal. Es muss passiert sein, als sie durchs Gras gerollt sind.
Nachdem er eine Stunde lang gelaufen ist, löst sich die Wolkendecke auf, und da von Mounties nichts zu sehen ist und er auch keine Bluthunde bellen hört, riskiert er es, quer über ein Feld auf ein Farmhaus zuzugehen. Er lässt den Säugling an einem halb umgestürzten Zaun liegen und betritt die Veranda. Everett hat seit Jahren nicht mehr auf diese Weise um Almosen gebeten, und die Scham gräbt sich bereits tief in seine Brust. Ein schlaksiger Farmer in einem himmelblauen Overall erscheint in der Tür und sagt etwas auf Französisch. Offenbar sind sie nach Quebec hineingefahren, weiter, als er gedacht hatte. Als Everett zum Ausdruck bringt, dass er bereit ist, im Austausch gegen eine warme Mahlzeit zu arbeiten, schüttelt der Farmer den Kopf und schließt die Tür.
Einige Stunden weitergelaufen, pochen seine Waden, und ihm ist schwindelig vor Durst. Das Kind schreit erneut, und diesmal ist sein Gesicht nahezu blau, und die Schreie werden mit jeder Minute abgehackter. Womöglich hat es eine Hirnblutung und steht schon mit einem Fuß im Grab, und als er ein weiteres Farmhaus sieht, geht er diesmal mit dem Kind hinüber, das heult wie eine Luftschutzsirene. Eine Frau hält beim Aufhängen ihrer Bettlaken inne und kommt auf ihn zu.
»Dieses Kind braucht einen Arzt«, ruft Everett. »Es hört einfach nicht auf zu schreien. Und ich glaube, ich habe ihm ein Loch in den Kopf gemacht.«
Ruhig nimmt ihm die Frau das Kind aus den Armen, um es zu inspizieren. Sie trägt eine sorgfältig genähte Baumwollschürze, und ihre schwarzen Haare sind mit einer Schleife zurückgebunden. Er sieht zu, wie sie dem weichen Flaum auf der Mulde einen Kuss aufdrückt.
»Das ist nichts«, erklärt sie in breitem Quebec-Dialekt. »Der Kopf ist noch nicht ganz fertig gewachsen.«
Erleichterung überkommt Everett. Die Anwesenheit der Frau und der sanftere Nachhall ihrer Stimme haben das Kind beruhigt, das seine Nase in die Brust der Frau drückt und sich mit den Rückseiten seiner Handgelenke die Augen reibt.
»Sehen Sie, wie sie nach Milch sucht?«, sagt die Frau. »Ist bloß müde und hungrig.« Der Anblick beschämt Everett, und er schlägt die Augen nieder. Die Frau folgt seinem Blick hinunter zu seinem nackten, vor Schmutz schwarzen Fuß, dann bittet sie ihn herein.
Ihr Haus ist lichtdurchflutet, aufgeräumt, die im Landhausstil gehaltenen Wände der luftigen Küche kürzlich weiß getüncht. Ein hölzernes Kruzifix wacht über einen stabilen Tisch aus Ahornholz. Sie stellt einen Kupferkessel auf die Kochplatte und trägt das Kind zum Kühlschrank. Sie nimmt einen Krug Buttermilch heraus und gießt etwas in ein kleines Kännchen, aber als sie das Kind füttern will, setzte es eine trotzige Miene auf, fängt wieder an zu schreien und will nicht an der Tülle saugen.
»Sie mag Ziegenmilch«, sagt Everett. »Sie hat nur einmal welche bekommen, aber es hat ihr geschmeckt. Haben Sie hier Ziegen?«
Die Frau nickt, holt Ziegenmilch, und schon bald trinkt das Kind gierig.
Dann holt die Frau einen verzinkten Kübel, gießt das Wasser hinein. Sie schlägt den Jutestoff zurück, den das Kind beschmutzt hat, doch der Frau scheint das nichts auszumachen.
»Darum weint es«, sagt sie und zeigt auf die roten Quaddeln an dem Übergang, der ihre Beine mit ihrem unfassbar winzigen Körper verbindet. Im Kübel hält die Frau das Kind mit einer Hand über Wasser und schrubbt es mit der anderen ab. Danach schmiert sie ihm gelben Talg zwischen die Beine. »Das sollte gegen den Ausschlag helfen«, sagt sie. Dann wickelt sie es in ein Geschirrtuch, trägt es in das angrenzende Schlafzimmer und schließt die Tür.
Allein in der Küche, nimmt Everett die Diele in Augenschein und sieht keine kleinen Schuhe, nur zwei Paar glänzend schwarze Halbschuhe – ein Paar für Herren, eines für Damen –, die vermutlich nur zur Kirche getragen werden. Die Frau ist beinahe so alt wie Everett. Wenn es ein Kind geben könnte, wäre es schon da.
Nach einigen Minuten kommt die Frau aus dem Schlafzimmer geschlichen und zieht die Tür leise hinter sich zu, einen Finger an die Lippen gelegt. Sie macht ihm ein Brot mit Hüttenkäse und stellt ihm ein Glas Milch hin. Everett isst schweigend und muss sich zurückhalten, um das Brot nicht mit einem Bissen zu verschlingen. Bald sind auf der Veranda schwere Schritte zu hören, und ein Mann kommt herein und wischt sich die Hände mit einem Wachstuch ab. Er ist braun gebrannt, hat dicke Augenbrauen und eine gefährlich spitz wirkende Nase, und er trägt den gleichen Overall wie der Farmer, der Everett davongescheucht hat. Das Paar spricht in gedämpftem Ton miteinander. Die Frau zeigt mit unverhohlenem Entzücken auf das Nebenzimmer, während der Mann ernst nickt und seine Miene weder Missfallen noch Begeisterung verrät.
Der Mann schüttelt Everett die Hand und setzt sich zu ihm an den Tisch. Er massiert seinen Nasenrücken zwischen Daumen und Zeigefinger und spricht dann ein langes Dankesgebet, bevor er schweigend isst und dabei hin und wieder Everetts und sein eigenes Glas mit Milch auffüllt.
»Vielen Dank für das Essen, Sir«, sagt Everett anschließend. »Ich mache mich sehr gern nützlich, wenn Sie irgendwelche Arbeiten zu erledigen haben.«
Die Frau übersetzt, und der Mann geht in den Keller und kommt mit einem Paar alter Stiefel mit Zehenkappe zurück. Everett schiebt seine schmutzigen Füße hinein, die in den Stiefeln ein wenig hin und her rutschen, aber es wird gehen, und die beiden füttern den ganzen Nachmittag lang Schweine und misten Ställe aus. Mit gefülltem Bauch geht die Arbeit leicht von der Hand. Zur Farm gehören dreißig Milchkühe, Ziegen, Schweine, Maultiere und ein Hühnerstall. Am Rand der Weide erspäht Everett einige Zuckerahornbäume, zu stark angezapft für ihre Größe, die Auffangeimer allesamt zu hoch aufgehängt, aber er hält seine Zunge im Zaum, um nicht undankbar zu erscheinen.
Am Abend finden sie die Frau auf der Verandaschaukel sitzend, deren Messingkette im Takt des französischen Liedes quietscht, das sie für das Kind singt. Es liegt in ihrem Schoß, hält eine Sockenpuppe umklammert, die die Frau genäht haben muss, und trinkt aus einer Flasche mit einem roten Gummisauger. »Von den Nachbarn«, sagt die Frau mit Blick auf die Flasche. Die Männer nehmen ihre schweißbefleckten Hüte ab, setzen sich und lauschen ihrem Gesang, während der aufreizende Duft frisch gekochten Essens durch das Fenster dringt. Nach einer Weile gehen sie hinein und hängen ihre Kleider zum Trocknen über den Ofen. Everett nimmt die saubere Hose und das saubere Hemd, die ihm der Mann anbietet, und als er sich gerade auf der überdachten Veranda umzieht, bemerkt er ihn. Unter ihren Mänteln in die Wand geschlagen. Ein einzelner Holzstift. Sechzig Zentimeter über dem Boden, auf Augenhöhe eines kleinen Kindes.
Als Everett hineingeht, stellt die Frau Teller mit Hacksteaks, gekochtem Gemüse und kleinen Salzbrötchen auf den Tisch. Wieder betet der Mann. Die Frau legt ihre kupferbraune Stirn an das Ohr des Kindes und spricht das Gebet leise mit. Das ist also ein Zuhause, ist alles, was Everett während der unverständlichen Rezitation zu denken vermag.
Nach dem Abendessen hält die Frau den Säugling auf der Hüfte, während sie einhändig den Abwasch macht, und der Mann fordert Everett zu einer Partie Schach heraus. Sie spielen schweigend, bis der Mann spricht, ohne den Blick von den Figuren zu heben: »Sie getauft?«, sagt er und stellt über seinem eigenen kahlen Schädel eine sprenkelnde Bewegung dar.
»Selbstverständlich«, versichert ihm Everett und verliert absichtlich. Hinterher führt der Mann Everett in ein leer stehendes Zimmer hinauf, wo ein Nachthemd neben alten Rasierutensilien liegt. Everett zieht sich um und legt sich hin, satt und zufrieden, wenngleich sich die mit Lappen gestopfte Matratze ungewohnt anfühlt, in der man wie in einem riesigen fleischigen Mund versinkt.
Aber wie das Kind gluckst und kräht, sobald die Frau es hochnimmt! Und wie ergiebig die Farm ist. Der Mann ist ein wenig ernst, aber was weiß eine Waise wie Everett schon darüber, wie Väter zu sein haben. Am nächsten Morgen, nach einem Bad und einer Rasur in aller Frühe, wird er es ihnen allen einfacher machen und sich in Richtung der Schienen davonstehlen.