Ein Riegel Seife
Er hat gehört, die Mineralien im Ahornsirup würden die Haare doppelt so schnell wachsen lassen, und Everett glaubt es. Früh am Morgen macht er Jahre dieses Wachstums mit der Schere der Frau ungeschehen, zupft eine Handvoll Bart nach der anderen ab wie die Pelze kleiner Tiere und wirft sie aus dem schwach beleuchteten Fenster, damit die Eichelhäher sie zum Nestbau verwenden können. Nachdem er sich mit einem Rasiermesser glatt rasiert hat, stutzt er sich die Haare im Nacken wie früher im 116. Kanadischen Infanteriebataillon und lässt sich dann ein Bad ein. Es ist gute zehn Jahre her, dass er irgendwo anders als in einem Bach gebadet hat, und es erfüllt ihn mit Ruhe und Gelassenheit, zumal da sich seine Sorgen ihrem Ende nähern. Ohne einen lästigen Säugling im Schlepptau werden ihn die Güterzüge in zwei Tagen nach Saint John zurückbringen, wo er seine Zapfinstrumente einpacken wird, um an einem anderen Ort neu anzufangen. Vielleicht wird er dem Paar sogar ein paar Dollar für einen Zugfahrschein stibitzen und wie ein aufrechter Bürger nach Hause fahren.
Er schrubbt seinen Körper ab, als unten laut gegen die Tür gehämmert wird. Der Mann spricht Französisch mit anderen Männern. Zwei von ihnen. Dann spricht die Frau. Nach dem Gespräch wird die Tür geschlossen, und das Paar flüstert eine Zeit lang. Dann wird geflüstert und geschrien. Dann nur noch geschrien. Bald schluchzt und weint die Frau, und der Mann bellt eine letzte Anweisung heraus, die das Badewasser um Everett erzittern lässt. Zuletzt klappert die Frau in der Küche herum, lässt nur noch das grob behandelte Geschirr für sich sprechen.
Als Everett in sein Zimmer zurückkehrt, liegen seine Kleider gewaschen und gefaltet auf der Bettdecke. Er zieht sich an und geht mit leisen Schritten hinunter, wo er seinen gepackten Rucksack neben den Stiefeln stehen sieht, die er von dem Mann bekommen hat. Der Mann steht mit versteinerter Miene kerzengerade im Flur. Neben ihm seine Frau. »Die Nachbarn«, sagt sie. »Die, von denen ich die Flasche hatte. Sie sagen, die Mounties suchen nach einem Mann mit … einem Säugling.«
Der Mann im Obsthain muss Everetts Behauptung, sein Kind sei im Zug, an die Behörden weitergetragen haben. Entweder das, oder die Mounties haben die schmutzige Flanellunterwäsche und den Strampelanzug aus dem Bach gezogen und selbst eins und eins zusammengezählt. »Immer mit der Ruhe«, setzt Everett an. »Das heißt ja nicht, dass wir nicht –«
»Gehen Sie«, sagt der Mann mit fester Stimme und macht einen Schritt auf ihn zu.
»Ich habe Ihnen ein paar Sachen eingepackt«, sagt die Frau. »Etwas zu essen. Und neue Flanellunterwäsche, die ich für … für sie genäht habe.« Sie verschwindet im Schlafzimmer, während Everett seine Stiefel schnürt, und kehrt mit dem schlafenden Säugling zurück. Die Frau reicht ihm das Kind mit abgewandtem Gesicht, als handelte es sich um einen schrecklichen Unfall, den man besser nicht mit ansehe.
»Ich danke Ihnen für Ihre Gastfreundschaft«, sagt Everett auf der Türschwelle. »Und es tut mir leid, wenn ich Ihnen Scherereien bereitet habe.«
Der Mann presst die Lippen aufeinander und nickt.
»Warten Sie«, sagt die Frau und streckt die Hand aus; darin liegt ein Riegel selbst gemachter Olivenölseife, die nach Lavendel duftet. Noch Jahre später wird sich Everett an diese Seife – und an den auf halber Höhe eingetriebenen Holzstift – erinnern. Es waren die zwei traurigsten Dinge, die er je gesehen hatte. Dieser Holzstift. Diese Seife in der ausgestreckten Hand der Frau.
Er schleicht sich aus dem Haus und marschiert über das Feld, hält sich von der Straße fern, bis er den Birkenwald erreicht. Bei Tageslicht kommt er besser voran, und er horcht aufmerksam auf Hunde. Sie warten kurz an der Bahnabzweigung, bis ein leerer Güterzug vorbeikommt, auf den sie aufspringen – um sogleich von einem Bremser erwischt zu werden, der Everett sein Bedauern ausspricht, sie aber dennoch hinauswirft. Sie ziehen sich zum Warten in eine verlassene Telegrafenstation zurück, wo Everett an dem gepökelten Wildschweinfleisch knabbert, das ihm die Frau zusammen mit zwei Eierbroten und fünf in ein paar frischer Socken gewickelten Silberdollar eingepackt hat, und das Kind an seiner Sockenpuppe herumnuckelt. Als es Hunger bekommt, gibt er ihm etwas Milch aus der Trinkflasche – keine Ziegenmilch, sondern Buttermilch, die die Frau in der Eile versehentlich eingepackt haben muss. Diesmal aber ist das Kind hungrig genug, um sie zu trinken, wenngleich es nicht lange dauert, bis es explosionsartige Blähungen bekommt.
Um die Abendessenszeit springen sie unbemerkt auf einen weiteren Zug auf. Der Waggon ist zur Hälfte mit Kisten voller flatternder Hennen gefüllt. Daunen fliegen durch die Luft, und der schweflige Exkrementgestank ist zwar unangenehm, aber erträglich. Everett bindet die Tür von innen mit etwas Hühnerdraht fest, damit keine Landstreicher zu ihnen hereinkommen können. Aber immer wenn die Hennen flattern und gackern, zuckt das Kind ängstlich zusammen, und als Everett ihm zum Trost die Sockenpuppe geben will, merkt er, dass er sie bei der Einfahrt des Zugs in der Eile dort vergessen hat, wo sie gewartet haben. »Deine Puppe. Diese Menschen. Das Zuhause. Alles dahin.«
Sie schreit stundenlang.