Die Eisenbahnbefehlsgruppe
Als der Transpazifikdampfer Empress of Australia in Victoria ausläuft, packt Harris seinen Koffer sorgfältig aus und prägt sich den ungewohnten Grundriss der Kabine ein. Er zieht sein feinstes Seidenjackett an und lässt Baumgartner gehen, der überrascht und vielleicht sogar ein wenig beleidigt wirkt, als er sich aufmacht, um nach einem Bridge-Spiel zu suchen. Dann ruft Harris nach Feeney, der ihn auf das Oberdeck des Dampfers begleitet. »Also schön, Herr Dichter«, sagt er. »Was haben wir hier?«
»Die Olympic-Halbinsel, Sir«, erwidert Feeney. »Eine Wand aus Hemlock-Tannen, Zedern und einem Erdbeerbaum hier und da. Und da ist noch ein hübscher Bestand von Nachwuchstannen, aber zu jung, um geschlagen zu werden. Dahinter ist ein felsiges Ufer, abgestuft, um die Stämme ins Wasser befördern zu können.«
»Ach, kommen Sie, Mann!«, sagt Harris. »Wenn ich die Eindrücke eines Holzfällers hören wollte, hätte ich Baumgartner mit hier raufgenommen.«
Aufgrund von Feeneys spitzer Bemerkung, bei Greenwood Timber würden die Ochsen besser bezahlt als die Männer, hat Harris ihm bewusst ein Einstiegsgehalt angeboten, das doppelt so hoch wie das Baumgartners ist. »Ich werde im Leben kein Gedicht mehr veröffentlichen«, hatte Feeney gesagt, als sie die Vereinbarung unterzeichneten. Aber jetzt fürchtet Harris, den Wert des Mannes überschätzt zu haben.
Feeney lacht. »Schon gut, immer langsam mit den jungen Pferden«, sagt er. »Ich muss sagen, ich bin noch nie dafür bezahlt worden, ein Dichter zu sein. Was an sich schon ein ungeheures Sakrileg ist, wenn ich das hinzufügen darf. Aber ich will es versuchen.«
Harris wartet gespannt, und über das Schnaufen des Dampfers hinweg hört er seinen Beschreiber Luft holen. »Nebel sickert zwischen den gescheckten Stämmen hindurch«, beginnt Feeney, »und die vom seewärts strebenden Dunst verschleierte Sonne brennt auf den strebenden Armen der Äste …«
In Harris’ Kopf entsteht ein lebendiges Panorama, begleitet von einem überwältigenden Gefühl der Entspannung. Der Gutheit, Richtigkeit und Exaktheit. Während der restlichen Reise nach Japan lässt Harris Feeney zu festgelegten Zeiten im Laufe des Tages weitere Beschreibungen der Meereslandschaft – »meine Postkarten«, wie Feeney sie nennt – heraufbeschwören. Auch wenn die Sprache des Dichters gelegentlich etwas schwülstig ist, erfreut sich Harris nichtsdestoweniger daran.
Es sind sechs Tage bis Yokohama, dann ein weiterer Tag bis Tokio, an dem sie von in Graupel übergehendem Regen unter Deck getrieben werden. Sie vertreiben sich die Zeit mit der Lektüre von Wordsworth und Yeats – beides Feeneys Vorschläge. Harris zieht die Lyrik allem anderen vor. Sie härtet in seinem Geist aus wie Beton, ganz anders als das nur kurzzeitig wirkende Feuerwerk des Romans, langer, quälender Geschichten über Menschen und Familien, die er nie kennen wird.
Von dem Tokioter Landungsplatz aus bringt sie ein sich pausenlos entschuldigender Regierungsbeamter zu ihrem, wie er beteuert, vorübergehenden Quartier, wo sie wohnen sollen, solange ihre eigentlichen Unterkünfte noch hergerichtet werden. Feeney beschreibt das Gästehaus als ein niedriges Gebäude am Rand eines Sumpfgebiets. Begleitet von reichlich Glockengeläute und dem Abbrennen beißend riechenden Räucherwerks, wird ein sonderbares Abendessen aus Meeresbewohnern serviert.
Mitten in der Nacht wird Harris vom Rascheln der papierenen Wände im Wind geweckt. Irgendwo in der Nähe hört er Baumgartners grizzlybärartiges Schnarchen, aber auch Feeneys sanfte Atemzüge im unmittelbar angrenzenden Raum. Schockiert und angewidert wird Harris sich bewusst, dass sie alle durch so gut wie nichts voneinander getrennt sind.
In einem seiner Holzfällerlager waren eines Morgens einmal zwei Hilfsarbeiter nackt, betrunken und eng umschlungen unter einem umgedrehten Ruderboot entdeckt worden. Die anderen Holzfäller hatten mit den stumpfen Enden ihrer Äxte auf sie eingeschlagen und mit ihren Nagelstiefeln auf sie eingetreten. Nicht ohne eine gewisse Freude hatte Baumgartner Harris berichtet, man habe die Leichen in den Verschnitt geworfen und den Mounties erzählt, die Männer hätten sich betrunken und seien davongelaufen. Obgleich ihn die Angelegenheit empörte, war Harris klug genug, nicht in die Holzfällerjustiz einzugreifen.
Hier in Japan aber, ruft sich Harris in Erinnerung, gilt dieses dünne Blatt Papier offiziell als Wand. Und niemand könnte es als anstößig erklären, wenn ein Mann einen anderen im Schlaf durch eine Wand atmen hört. Erleichtert zieht sich Harris das Kissen über den Kopf und dreht sich auf die Seite.
Am Morgen werden Harris, Baumgartner und Feeney zum Kaiserpalast gebracht. Dort teilt man ihnen mit, dass sie sich gar nicht mit einer privaten Eisenbahngesellschaft treffen werden, sondern mit dem japanischen Militäroberkommando. Nach einer Stunde müßigen Wartens, in deren Verlauf Harris’ wachsende Frustration nur von Feeneys detaillierter Schilderung der exotischen Vögel im Garten abgemildert wird, bringt man sie in das Verhandlungszimmer. Feeney beschreibt ihm eine gewölbte Kammer mit astreinen Balken, die ohne Nägel ineinandergefügt sind. Harris’ Erfahrung nach kennen die Japaner sich besser mit Holz aus als sonst irgendwer. Nach dem Erdbeben hier im Jahr 1923 hat er ihnen ganze Schiffsladungen verkauft, und seine besten Holzstücke im Radialschnitt schnappen sie immer als Erste weg. Ein Dolmetscher stellt ihnen zwölf Uniformierte als die Eisenbahnbefehlsgruppe vor, und sie knien sich alle an einen niedrigen Tisch, in dessen Mitte Feeney zufolge ein Schwert liegt.
»Was für ein Schwert?«, presst Harris aus dem Mundwinkel hervor.
»Ein Zeremonienschwert«, antwortet Feeney. »Stumpf wie eine Blechdose.«
»Ich hätte mein zeremonielles Gewehr mitbringen sollen«, knurrt Baumgartner, der unbequem auf seinem kranken Knie ruht. Auch wenn er sich aus Auslandsreisen nie viel gemacht hat, ist Baumgartner an diesem Morgen und eigentlich seit sie Vancouver verlassen haben, ganz besonders grantig.
»Scheinen sie gewillt, uns Geld zu geben?«, flüstert Harris Feeney zu.
Feeneys Mund nähert sich Harris’ Ohr, was ihm einen Stromstoß durch den Magen schießen lässt: »Nicht besonders.«
Als sie nach ausgiebigen Einleitungen und feierlichen Worten inklusive mehrfacher Erwähnungen des »kaiserlichen Willens«, abermaligen Glockengeläuts und nach eingeweichter Tanne schmeckendem Tee eine Mittagspause einlegen, haben die Verhandlungen noch nicht einmal ein Vorstadium erreicht. Nach dem Essen werden Karten, Pläne und technische Zeichnungen herangebracht, die Feeney ihm nach besten Kräften beschreibt. Ingenieure kommen hinzu und stellen komplizierte Fragen zu Baumarten und der jeweiligen Biegsamkeit ihres Holzes. Mithilfe des Dolmetschers tut Harris sein Bestes, um ihre Vorbehalte gegenüber der Verwendung von Douglastannen für Gleisschwellen zu zerstreuen, betont die Stabilität des Baumes und seine Widerständigkeit gegen Fäule und versichert ihnen, Kanadas eigene Eisenbahnkommission habe sie mit gutem Grund für ihre den Kontinent umspannenden Bahnlinien ausgewählt.
Nach fünf Tagen voller eingeschlafener Beine und bizarrer Mahlzeiten aus Seeigel und Fischrogen berichtet ihnen einer der Unterhändler, die Eisenbahnkommandogruppe habe in Bezug auf die kürzlich verstaatlichte Eisenbahn eigentlich gar keine Kaufermächtigung und die tatsächlichen Verhandlungen mit der Kaiserlichen Eisenbahnerwerbsgruppe würden am darauffolgenden Tag beginnen. Baumgartner erwürgt den Mann beinahe und muss mit Gewalt zurückgehalten werden. Damit die Sache nicht aus dem Ruder läuft, bittet Harris seinen unwirschen Assistenten, nach Vancouver zurückzukehren, um einen im Sägewerk in Chemainus aufgeflammten Arbeitskonflikt zu schlichten. Erst als Harris Baumgartner sagt, nur sein starker Arm könne Ordnung in die Sache bringen, willigt er ein.
Am Morgen seiner Abreise schlägt Baumgartner vor, da die Japaner die Gästehäuser mit den Papierwänden ganz gewiss einsetzten, um ihre Gespräche zu belauschen, solle Harris umgehend ins Imperial Hotel umziehen. »Und knausern Sie nicht, Mr. Greenwood«, sagt er eindringlich. »Nehmen Sie sich zwei Suiten. Eine für Sie und eine für Mr. Feeney. Ich rufe gleich dort an und sorge dafür, dass man Sie gut unterbringt.«
»Ein guter Vorschlag, Mort«, erwidert Harris und schlägt Baumgartner auf den Rücken. »Wir nehmen zwei Suiten.«
Als sie abends im Imperial Hotel eintreffen, lässt Harris, noch immer etwas verdutzt über Baumgartners sonderbaren Abschiedswunsch, die abendliche Lyriklesung ausfallen und beschließt, allein in seiner Suite zu essen und Mr. Feeney sich selbst zu überlassen.