Vancouver
Irgendwo in der grenzenlosen kanadischen Prärie fährt Harvey Lomax’ Speisewagen erster Klasse in einen Hunderte von Metern hohen, kohlenschwarzen Staubturm hinein. Im Speisewagen wird es finster. Obwohl erst Mittagszeit ist, bringt der Kellner Kerzen, und Lomax befeuchtet sein Taschentuch und wischt sich über das Gesicht, während sich auf seiner Suppe ein fusseliger Staubfilm zu bilden beginnt. Der betuchte Herr neben ihm lässt seinen Teller stehen, aber Lomax rührt den Staub in die Suppe und löffelt sie aus.
Als er Tage später in Vancouver ankommt, einer Stadt, in der er noch nie gewesen ist, ist er überwältigt von den bewaldeten Bergen und dem schimmernden Ozean. Da er die zweihundert Dollar, die ihm der Schwindel in dem Hotel in Toronto eingetragen hat, beinahe vollständig für Zugticket, Mahlzeiten und genügend Opium für die Reise ausgegeben hat, macht er an einer Bank in Bahnhofsnähe halt und versucht, Geld von seinem Privatkonto abzuheben. Doch der Schalterbeamte teilt ihm mit, es sei leer. In Anbetracht seiner mageren Finanzen mietet er sich mit den Holzfällern in einem heruntergekommenen Hotel im Glasscherbenviertel ein und nimmt sich vor, seinen Opiumverbrauch weiter einzuschränken (anders als bei seinem Vater ist seine Selbstbeherrschung intakt geblieben). Mannhaft geht er an den zahlreichen Opiumhöhlen der Stadt vorbei. Damit ihn sein Rücken nicht bei der Arbeit behindert, raucht er dreimal täglich eine bescheidene Menge zur Instandhaltung und niemals mehr.
Er fährt mit der Straßenbahn nach Süden zum Büro von Greenwood Timber, das sich in Harris Greenwoods Villa befindet. An der Tür stellt er sich als ein Agent von R. J. Holt aus New Brunswick vor und bittet einen Sekretär namens Milner, ein Treffen mit seinem Chef zu organisieren.
»Ich fürchte, Mr. Greenwood ist zu sehr mit der Planung seiner Abendgesellschaft beschäftigt«, sagt Mr. Milner. »Geht es um Mr. Holts Teilnahme? Es werden viele führende Industriemagnaten anwesend sein. Ich hoffe, Mr. Holt wird nach wie vor teilnehmen?«
»Durchaus«, sagt Lomax. »Und ich werde als sein Assistent zugegen sein«, fügt er hinzu und verlässt die Villa bald darauf mit einer geprägten Einladung.
Zurück in seinem schäbigen Hotel, nimmt Lomax seine Garderobe in Augenschein, die im Laufe seiner Reise gelitten hat: Sein Jackett ist zerknittert und mit Brandlöchern vernarbt, die Hemdkrägen vergilbt, der Hut zerdrückt. Er kabelt Lavern, um ihr seinen Standort durchzugeben und ihr zugleich zu versichern, dass er dem Ziel seiner Mission näher sei als je zuvor. Er bittet sie auch, ein altes Konto aufzulösen, das sie für die Ausbildung von Harvey jr. eingerichtet hatten und auf dem sich nur etwas Geld befindet, das ihr Vater ihr hinterlassen hat. Ihre Antwort kommt innerhalb einer halben Stunde:
kable dir geld wie gewnscht stopp gerichtsvollz kam gstrn stopp holt lässt uns zwangsräumen hrvey stopp wohne jtzt bei meiner mutter stopp bitte komm heim stopp lavrn
Lomax beißt die Zähne aufeinander, bis sie quietschen. Holt hatte für den Fall, dass er nicht zurückkäme, »weitere maßnahmen« angedroht, aber ein Teil von Lomax hatte nicht geglaubt, er werde wirklich Ernst machen, nicht nach all den Jahren der Treue und all den in Holts Namen eingetriebenen Schulden – und vor allem angesichts dessen, was Lomax über seine schmutzigen Affären weiß. Jetzt scheint es, als hätte Mr. Holt ihn ebenso gedankenlos fallen lassen wie eines seiner Mädchen. Was bedeutet, dass Lomax nichts weiter übrigbleibt, als das Kind mit Tagebuch zu finden, ehe McSorley es tut, und beides als Verhandlungsmasse einzusetzen, um sein Haus zu retten.
Mit dem Geld von Lavern in der Tasche macht Lomax einen Schneider ausfindig. Bei der Anprobe überzeugt dieser Lomax, ein Jackett zu kaufen, das zwei Nummern kleiner ist. Vielleicht gilt an der Westküste ein anderes Größensystem, oder vielleicht hat er nach den Monaten ohne Laverns selbst gekochte Mahlzeiten auch etwas Gewicht verloren.
Am Freitagabend trifft Lomax am Hotel Vancouver ein, vor dem sich Aufrührer versammelt haben, die etwas über die Krise schreien und über die unmenschlichen Bedingungen in den Holzfällerlagern von Greenwood Timber, so als interessierte das die reichen Leute, die aus ihren glänzenden Wagen steigen, in irgendeiner Weise. Seine Einladung schwenkend, schiebt sich Lomax durch das Getümmel und betritt einen prunkvollen Ballsaal, in dem Segel aus malvenfarbener Seide an der Decke entlangfließen und Juwelen an den Schlüsselbeinen der Frauen funkeln. Als er einen Mann erspäht, bei dem es sich ziemlich sicher um Harris Greenwood handelt, trinkt Lomax am Rand des Saals ein Tonic und wartet auf eine Gelegenheit, an seinen Tisch zu treten. Als sein Assistent verschwindet, wird der Platz neben Harris frei. Obgleich der Holzmogul schlechter Stimmung zu sein scheint, bezweifelt Lomax, dass sich eine bessere Gelegenheit bieten wird.
»Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie während des Essens störe, Mr. Greenwood«, sagt Lomax, zum Ohr des Mannes hinuntergebeugt. »Ich bin in einer Angelegenheit hier, die Ihren Bruder betrifft.«
»Wie können Sie es wagen, mich beim Essen mit diesem Blödsinn zu überfallen?«, sagt Harris betrunken, lehnt sich zurück und richtet seine blicklosen Augen auf Lomax. »Mein Bruder ist verstorben, Sir.«
»Es wird Sie vermutlich überraschen, aber ich darf Ihnen berichten, dass Sie sich glücklicherweise irren.«
»Ach, wirklich? Wo ist er dann?«, bellt er und schwenkt dramatisch den Kopf, um die Frage zu unterstreichen. »Ist er hier? Vielleicht sitzt er mir am Tisch direkt gegenüber?«
»Nein, Sir«, sagt Lomax im Versuch, ihn zu beschwichtigen. »Ich bin mir nicht ganz sicher, wo er sich derzeit aufhält. Ich vermute allerdings, dass er auf dem Weg –«
Harris Greenwood unterbricht ihn mit der Unterstellung, Lomax sei ein Betrüger, der sich nur sein Vertrauen erschleichen wolle, und droht dann, ihn hinauswerfen zu lassen, woraufhin Lomax sich empfiehlt. Nach beinahe zwei Jahrzehnten im Dienste von R. J. Holt hätte er den Fehler vermeiden sollen, sich einem angetrunkenen, vor Zorn schäumenden Industriellen zu nähern. Jetzt hat er den größten Trumpf ausgespielt, den er zwischen ansonsten äußerst dürftigen Karten auf der Hand hatte.
Als er sich durch die Menge schiebt, sieht Lomax Mr. Holt selbst, der sich in seinem besten Sonntagsstaat bereits an eine halb so alte Kellnerin angehängt hat. Je näher Lomax ihm kommt, desto stärker schwillt ein Mahlstrom in ihm an, der aus seinen Eingeweiden emporsteigt und seinen Mund mit dem Geschmack schmutzigen Kupfergeldes füllt. Lomax stellt sich seine sieben Kinder vor, die in der winzigen Wohnung von Laverns Mutter übereinanderpurzeln – er ist jetzt nur noch einen knappen Meter von Holt entfernt –, und dann denkt er an die blauen Flecken, die er an Euphemias Handgelenken und an ihrem Hals gesehen und über die er nie gesprochen hat, und der schroffe Drang, diesen Mann bis zur Unkenntlichkeit zu zermahlen, wird beinahe unwiderstehlich. Doch dies ist nicht irgendein zwielichtiger Zeitgenosse, von dem Lomax Geld eintreiben soll. Er kann nicht einfach auf ihn einschlagen, bis er ihnen das Haus überschreibt. Wie die anderen Herren hier besitzt Holt Geschäfte und Wohnungen und Banken und Kohleminen und Stahlwerke und Fabriken und Wälder und Seen, und das verleiht ihm Macht. Und will Lomax sich irgendwie vor dieser Macht schützen, braucht er dieses Tagebuch.
Lomax schleppt sich zu den Toiletten und schließt sich in einer Kabine ein. Um den üblen Geschmack aus seinem Mund zu vertreiben, verbrennt er etwas Opium auf einem Suppenlöffel, den er von einem Tisch stibitzt hat, und saugt die Pirouette aus aufsteigendem Rauch tief ein. Bei dieser Methode ist die Wirkung schwerer vorauszusagen als beim Rauchen in einer Zigarette, und er taucht eine Zeit lang in das Meer seiner selbst ein – wie lange, weiß er nicht.
Als er langsam wieder aus seinem inneren Ozean aufsteigt, hört Lomax zwei Stimmen in der Nebenkabine. Männliche Stimmlage, aber ein sanfter Tonfall, wie er sonst Frauen und Kindern vorbehalten ist. Während seiner Zeit als Schuldeneintreiber ist er einigen Männern dieser Art begegnet. Einmal hat er Geld von einem Vater eingetrieben, der seine fünf kleinen Kinder und die Schönheitskönigin, die er geheiratet hatte, verließ, um sich ihre Unterwäsche anzuziehen und mit einem anderen Mann durchzubrennen. Für gewöhnlich erkennt Lomax sie rasch: die leichtfüßige Art zu stehen, die hungrige Art und Weise, wie sie den Blick anderer suchen, wie ihre Augen immer etwas zu lange zu verweilen scheinen. Doch jeder Narr könnte das sanfte Stöhnen deuten, das aus der Nachbarkabine dringt.
Nachdem die Männer ihr schändliches Treiben beendet haben, verlassen sie die Kabine und bleiben am Waschbecken stehen, um sich zu säubern. In diesem Moment stellt sich Lomax auf die Zehenspitzen, um über den Rand seiner eigenen Kabine zu sehen, was ihm einen Blick auf die beiden erlaubt, der ihm alles verrät, was er wissen muss.