Eines der gefährlichsten Dinge auf der Welt
»Und er hält ihn augenblicklich dort gefangen?«
»Das Telegramm kam heute Morgen, Sir«, sagt Milner.
»Und wir trauen ihm? Diesem Richter?«, fragt Harris und geht in seinem Büro auf und ab, wobei er sich gekonnt zwischen den Vogelkäfigen hindurchschlängelt. »Er ist unser Mann? Er hegt doch nicht irgendeinen Groll gegen uns, oder? Ich kann mich nicht an die Einzelheiten des Vertrags erinnern. Wo ist das, sagten Sie – Firvale?«
Milner zieht die Akte hervor und liest laut, damit Harris mithören kann. Ein Steilhang unweit der Rocky Mountains, den sie vor fünf Jahren für einen Apfel und ein Ei von der örtlichen Gemeindeverwaltung gemietet haben. Ein zweijähriger Abholzeinsatz. Sie hatten Schlafbaracken für die Arbeiter und ein paar ordentliche Häuser für die Besuche von Sägewerksleitern und politischen Würdenträgern sowie einige Brunnen und Straßen gebaut. Sie hatten den ganzen Hang gerodet, die Stämme hinunter ins Tal geschleppt und sie mit dem Zug nach Vancouver transportiert.
»Es war recht einträglich«, sagt Milner. Aber sie haben so viele Rodungsaktionen dieser Art durchgeführt, dass Harris sich noch immer nicht richtig erinnern kann.
»Und der Richter sagt, mein Bruder habe ausdrücklich mich um Hilfe gebeten?«, fragt Harris. Er hat sich Lomax nur verpflichtet, Laut zu geben, wenn sein Bruder versuchen sollte, mit ihm in Kontakt zu treten, nicht, wenn er nur von dessen Aufenthaltsort erfährt.
»Ja, der Richter sagt, der Gefangene habe explizit um Ihren Beistand gebeten. Aber jeder Kriminelle kann behaupten, was er will, Mr. Greenwood«, sagt Milner knapp.
»Er ist es«, sagt Feeney. »Warum sollte er sich sonst speziell auf dich berufen?«
»Danke, Milner«, sagt Harris. »Das ist alles.«
Über einem einsamen Abendessen erinnert sich Harris an den Tag der Feier anlässlich Everetts Rückkehr aus Europa zurück. Harris hatte Everett verziehen, dass er an seiner Stelle in den Krieg gezogen war, und war bereit gewesen, sein Handeln lediglich als eine weitere Episode in ihrem brüderlichen Wettstreit zu deuten. Er hatte sich eine gemeinsame Zukunft ausgemalt – seine Bildung und sein unternehmerisches Know-how in Verbindung mit Everetts Erfahrungen als Holzfäller und seinem intuitiven Verständnis des Waldes –, Greenwood Timber hätte die erste Million in der Hälfte der Zeit verdient, die Harris es allein gekostet hatte. Und doch hatte Everett sich entschieden fortzubleiben. Warum also sollte er sich jetzt, nach all der Zeit, hilfesuchend an Harris wenden? Harris schiebt seinen Teller von sich und schüttelt den Kopf. Es gab einmal eine Zeit, da hätte er bereitwillig sein eigenes Leben gegeben, um das seines Bruders zu retten, aber nun, da Feeney in sein Leben getreten ist und diese Schlange Lomax über ihm schwebt, jederzeit zum Zuschnappen bereit, hat er mehr zu beschützen als Everett. Nachdem das Mädchen sein Tablett abgeräumt hat, greift Harris zum Telefon und bestellt Feeney in sein Büro. »Du musst mir diesen Lomax holen«, sagt er, »der höchstwahrscheinlich draußen im Garten raucht.«
»Du wirst deinen Bruder doch nicht wirklich diesem schauerlichen Kerl ausliefern?«, sagt Feeney.
»Ich liefere ihn nicht aus, Liam. Ich bringe lediglich zwei Parteien miteinander in Verbindung. R. J. Holt will etwas zurück, was ihm gehört, und Mr. Lomax hat mir versichert, dass Everett nicht strafrechtlich verfolgt wird, solange er kooperiert.«
»Und du glaubst ihm?«, fragt Feeney.
»Nicht vollständig. Aber ich kann es mir nicht leisten, meinen Teil der Abmachung nicht zu halten, nicht jetzt. Und ich darf dich vielleicht daran erinnern, dass Everett und ich in Wahrheit nicht blutsverwandt sind. Es war eine Abmachung zwischen zwei gleichermaßen verzweifelten Parteien.«
»Aber sie hat funktioniert«, sagt Feeney. »Eure Vereinbarung. Ihr habt überlebt.«
»Liam, Mr. Lomax wird es uns entweder leicht machen oder sehr schwer. Aber in einem kannst du dir sicher sein: Wenn er erfährt, dass Everett mich kontaktiert hat und ich ihn nicht benachrichtigt habe, sind wir geliefert. Mein Bruder wird in jedem Fall bekommen, was er verdient hat. Ich beschleunige nur die Abläufe.«
Feeney sagt nichts, und Harris kennt ihn gut genug, um sein Schweigen als Missbilligung auszulegen. In diesem Augenblick überkommt Harris das jähe Gefühl, Opfer einer Überschreitung geworden zu sein, und zum ersten Mal bereut er, Feeney je von seinem Bruder erzählt zu haben. Er ist achtlos mit seiner Geschichte umgegangen und hat zu viele seiner intimsten Gedanken geteilt. Er hat Feeney zu tief in die hohen Mauern vordringen lassen, die ihn so lange vor jenen geschützt haben, die ihn ruinieren wollen. Harris beschließt, in Zukunft weniger offenherzig zu sein.
»Ich verstehe deine Position, Harris«, bricht Feeney sein Schweigen. »Aber dieser Lomax erinnert mich an einen Baum, der mitten durchgesägt wurde und trotzdem nicht fällt. Und auch wenn ich eher ein Matrose als ein Waldarbeiter bin, habe ich genug Zeit in deinen Holzfällerlagern verbracht, um eines gelernt zu haben: Ein Baum, der durchgesägt wurde und trotzdem nicht fällt, ist eines der gefährlichsten Dinge auf der Welt.«