Greenwood Island
Es folgen die schönsten Monate in Everetts sorgengeplagtem Leben. Was nicht viel heißen will, doch das ändert nichts daran, dass Everett während seiner Jahrzehnte in Gefangenschaft oft an diesen prächtigen Winter mit Schote auf der kleinen bewaldeten Insel seines Bruders zurückdenken wird. Und er wird aus diesen Erinnerungen gerade genug Freude ziehen können, um die baumlose Isolation des Gefängnisses zu überstehen, ohne der Verzweiflung anheimzufallen.
»Jetzt, wo du wieder pleite bist, kannst du mitten im Winter kein Sirupgeschäft anleiern«, sagte Harris am Tag, nachdem Lomax im Austausch gegen Everetts Erbe und das gefälschte Tagebuch eingewilligt hatte, die Sache mit dem Kind ruhen zu lassen, vorausgesetzt Everett ziehe Schote an irgendeinem abgelegenen Ort auf und mache keinen Ärger. »Ich habe meinen Zufluchtsort noch nicht in Gebrauch«, fügte Harris hinzu, »du kannst dich also gern bis zum Frühling dort verstecken.«
»Und sollte Lomax nicht auf unseren kleinen Schwindel hereinfallen und doch wieder hier herumschnüffeln«, ergänzte der Ire, »dann wird er Sie dort sicherlich nicht finden.«
In Wahrheit ist Everett das Davonrennen leid. Und er weiß, dass es Schote guttun würde, etwas Zeit an einem festen Ort zu verbringen, zumal sie jetzt nicht mehr ganz so klein ist. Als der Ire sie am Tag darauf zu der Insel bringt, sieht Everett erfreut, dass die Hütte keinerlei Ähnlichkeit mit Harris’ Villa hat. Auch wenn sie stabil gebaut ist, mit fest gefügten Pfosten-Riegel-Verbindungen, ist sie doch recht schmucklos. Vor Blicken vom Wasser aus geschützt, bietet sie dennoch einen Blick auf die Bucht, und Everett nimmt an, dass Harris sie benutzt, um sich mit dem Iren zurückzuziehen, was erklärt, warum sie so freimütig miteinander reden. Doch all das geht Everett nichts an. Er hat im Krieg gesehen, wie Männer zu Liebsten wurden, und es hat ihn nie ein Jota gekümmert.
Jeden Dienstag bringt ihnen der Ire – der vor seiner Beschäftigung als Harris’ Beschreiber Boote gelenkt hatte, mit denen Stämme für Greenwood Timber befördert wurden – die Wochenvorräte in einem wendigen Ruderboot. Everett legt Schote in ein Kinderbett, das er ihr gebaut hat, damit sie nicht zum Ofen krabbelt und sich verbrennt. Dann wandert er zu der kleinen Mole, um die Vorräte aus der wärmeisolierten Kiste zu holen, in der Feeney sie zurücklässt. Kerosin für die Lampen, Dosen mit Streichhölzern, Kaffee, Käse und Äpfeln, Mais und Erbsen in Konserven, Säcke mit Kohl und Kartoffeln, Schinken, Butter, Ahornsirup, Mehl, Mother Baileys Beruhigender Sirup für die zahnende Schote und ein großer Krug Ziegenmilch. Everett hat noch nie einen solchen Reichtum auf einem Fleck gesehen, und er versucht, eine Liste zu führen, um seinen Bruder irgendwann dafür entschädigen zu können, wenn seine Zeit auf der Insel zu Ende ist.
Während winterlicher Regen die Insel bekränzt und nasse Fahnen aus Farn und weichnadeligen Hemlock-Tannen an den Wänden der Hütte entlangstreichen, schlafen Everett und Schote zusammen unter den hohen Fenstern im Obergeschoss. Schote ist kräftiger geworden und tritt ihn jetzt im Schlaf wie ein Maultier. Trotzdem erwacht Everett so ausgeruht, wie er es zuvor nicht kannte. Hier auf der Insel besteht keine Gefahr, dass ihn Bahninspektoren verprügeln; dass Landstreicher seine Sachen durchstöbern oder ihm die Stiefel klauen; dass Mounties seine Hütte finden und zerstören; dass Artilleriegeschosse kreischend über seinem Bett niedergehen oder Chlorgas unter der Tür durchkriecht.
Jeden Morgen wird er von Schotes Gebrabbel geweckt und trägt sie nach unten, um Frühstück zu machen: Weizengrütze mit einem Schuss Ziegenmilch oder Pfannkuchen, getränkt in einem Ahornsirup, der so viel minderwertiger als sein eigener ist, dass es sich um eine völlig andere Substanz handelt. Nachdem er Schote mit seinem Gürtel an einem Stuhl festgebunden hat, sitzt er da, in der Hand einen emaillierten Kaffeebecher, der ihm allein gehört, sieht zu, wie sie mit dem Löffel ihren Mund verfehlt, und ertappt sich oft dabei, wie er grundlos lächelt.
Im Februar zieht sie sich am Kaffeetisch hoch. Everett stellt alle wertvollen Dinge weit nach oben, damit sie sie nicht umstoßen kann. Sie fürchtet sich vor dem Dröhnen der benzinbetriebenen Waschmaschine, also hängt er ihre Sachen zum Waschen in den Regen, und als er die saubere Wäsche faltet und in den Schrank legt, erfüllt ihn der Anblick mit einer schier unfassbaren Heiterkeit.
Eines Abends hören sie beim Essen, wie Schwertwale durch die Meerenge brechen, und Everett wäscht in aller Eile ab, ehe sie zum Ufer gehen. Dort stehen sie inmitten der Erdbeerbäume, die sich über das Meer beugen. Und als die schwarzen Flossen vorbeiziehen, etwa zwölf an der Zahl, die Kälber als Schlusslicht, sind sie ihnen so nah, dass Everett die fermentierte Schärfe ihrer Gischt riechen kann. Er drückt Schote fest an sich, als sie zu zappeln beginnt, begierig darauf, sich zu den Walen zu gesellen.
Hinter der Hütte befindet sich ein kleiner Schuppen, gefüllt mit gut geölten Werkzeugen und einem Stapel etikettierter Tannenholzbretter, die beim Bau nicht verwendet wurden. Er macht sich daran, einen ordentlichen Holzschuppen zu bauen, dessen Pfosten er auf flache Steine setzt, die er vom Strand heraufschleppt. Während er arbeitet, sitzt Schote in ihrem Kinderbett und schützt ihre Ohren mit den Händen vor dem scharfen Fauchen der Schrotsäge. Wenn die Schreinerarbeit für den Tag erledigt ist, unternimmt er mit ihr bis zum Abendessen ausgedehnte Spaziergänge im Sprühregen, und dabei entdeckt Everett, dass die Insel zwar zur Hälfte aus hoch aufragendem Primärwald besteht, die andere Hälfte jedoch frisch verbrannt ist. Hellgrüne Trümmerblumen und Disteln fädeln sich durch die verkohlten Baumstümpfe und Äste.
Als der Frühling naht und die Tage länger werden, verspürt Everett das Verlangen, sich mit seinem Bruder auszutauschen. Weil er jedoch nicht fließend schreiben kann, lässt er sich von dem Iren in den Gebrauch des Kurzwellenfunkgeräts einweisen, das Harris im Zweitschlafzimmer der Hütte installiert hat, um über seine Geschäfte in Vancouver auf dem Laufenden zu bleiben. Genau um neun Uhr jeden Abend, wenn Schote schläft, drückt Everett auf den schwarzen Sprechknopf und beginnt von den Erlebnissen des Tages zu erzählen: dem grauen Ozean und den unfassbar hohen Bäumen, Schotes Furcht vor ihrem eigenen Spiegelbild oder dem stechenden Geruch von Schwertwalblas. Zuerst antwortet Harris nicht, und manchmal sitzt Everett nur da, lauscht dem Rauschen in der Verbindung und stellt sich vor, es wäre der Atem seines Bruders.
Dann, als er gerade ausführlich den größten Baum der Insel beschreibt, eine gigantische Douglastanne, so hoch und so dick, dass es den Verstand übersteigt, unterbricht ihn Harris und rezitiert ein Gedicht. Während der darauffolgenden steifen, aber freundlichen Unterhaltung wird Schote von der Stimme geweckt und krabbelt zu dem zischenden Funkgerät hinüber, die Augen verblüffend weit geöffnet ob der unvermittelten Anwesenheit des Fremden im Zimmer. Als die Brüder den Funkkontakt beenden, kriecht sie auf die Rückseite des Funkgeräts, um nach dem Ursprung der Stimme zu suchen. Als sich dort niemand verbirgt, kreischt sie vergnügt auf.