Seine Stimme
Eine Stunde nachdem die Wachmänner sein Büro verlassen haben, sitzt Harris noch immer am Schreibtisch und schwenkt mit einer zittrigen Hand ein Kristallglas voll Sake. Auf den Dielenbrettern hört er das sanfte Trappeln der italienischen Halbschuhe, die er Feeney zum Geburtstag geschenkt hat, der immer genau weiß, wie laut er sich bewegen muss, um ihn nicht zu erschrecken.
»Ich nehme an, es war Lomax, der sie hergeführt hat?«, fragt Feeney.
Harris neigt das Kinn. Ein langsames Nicken.
»Dann hat er unsere kleine Fälschung durchschaut?«
Ein abermaliges Nicken.
»Hat ja lange genug gedauert. Ich dachte schon, er sei noch hirnloser, als wir vermutet hatten. Aber die Polizisten können suchen, solange sie wollen. Sie werden die beiden niemals finden.« Harris hört das Knarren des Leders, als Feeney sich in den Sessel sinken lässt.
»Lomax hat der Polizei gesagt, mein Bruder habe R. J. Holts Kind entführt und halte es als Geisel gefangen«, sagt Harris.
»Und wie haben sie reagiert, als du ihnen die Wahrheit gesagt hast?«
Harris schnauft. »Ich habe ihnen bestätigt, dass mein Bruder ein Kind bei sich hat. Und dass es in der Tat nicht sein Kind ist. Alles Weitere ist reine Spekulation.«
»Was spielt es für eine Rolle, ob sie sein Kind ist oder nicht? Man hat sie dem Tod überlassen.«
Schweigen.
»Harris.«
Er nimmt einen langen Schluck.
»Du hast ihnen doch mehr als das gesagt.«
Harris stellt sein Glas ab. »Liam, als Lomax das erste Mal im Haus aufgetaucht ist, hat er mich beiseitegenommen und gedroht, der Polizei auf der Stelle von uns zu erzählen.«
Feeney lacht verächtlich. »Nun, wir wissen auch so einiges über ihn. Ich erkenne einen Rauschgiftsüchtigen, wenn ich einen sehe. Seine Pupillen sind nicht größer als die Punkte auf einer Buchseite. Und diese träge Gangart. Wir lassen ihn filzen. Wir nageln den Dreckskerl ans Kreuz.«
Harris lächelt schwächlich. »Drogensüchtig oder nicht, er kann uns ruinieren.«
Feeney atmet langsam ein und aus. »Also, was hast du gesagt?«
Harris widersteht einem zornigen Drang, das Sakeglas an die Wand zu werfen.
»Harris.«
»Zuerst würden sie uns unsittliches Verhalten vorwerfen. Dann würden sie das Unternehmen beschlagnahmen. Wir würden uns nie wiedersehen. Der Reichtum ist unser einziger Schutz, Liam. Ohne meine Unterschrift auf ihren Gehaltsschecks fressen die uns bei lebendigem Leibe.«
»Was hast du ihnen gesagt?«
»Rein rechtlich betrachtet, hat mein Bruder das Kind geraubt«, sagt Harris. »Und er ist verrückt, wenn er glaubt, es behalten zu können. Vielleicht wird ihm etwas mehr Zeit im Gefängnis ganz guttun.«
»Du armer, ängstlicher Mann«, sagt Feeney, und am gedämpften Klang seiner Stimme merkt Harris, dass er die Hände vors Gesicht geschlagen hat. »Und was ist mit den Gesprächen, die ihr beide über dieses Funkgerät dort geführt habt?«
Kurz nachdem Harris Lomax den genauen Standort seiner Hütte auf Greenwood Island genannt hatte und sie davongeeilt waren, um Everett dingfest zu machen, war der abendliche Gruß seines Bruders über den Äther gekommen. Fast wie um sich selbst zu bestrafen, hatte er das Funkgerät eingeschaltet gelassen, wenngleich er auch nicht in der Lage war zu antworten. Stattdessen hatte er dagesessen und zugehört, wie Everett wiederholte: »Bitte kommen, Harris. Harris, bitte kommen.«
»Er hat seine eigenen Entscheidungen getroffen, Liam«, sagt Harris. »Everett und ich können uns nicht auf ewig gegenseitig retten.«
»Und dein Versprechen, ihn auf der Insel wohnen zu lassen?«
Nachdem Harris dem Vorschlag zugestimmt hatte, hatte Everett so laut gejubelt, dass es im Funkgerät knackte, als wäre eine Bombe explodiert.
»Pläne können sich ändern«, sagt Harris. »Everett weiß das besser als jeder andere.«
»Aber es bleibt noch Zeit, alles in Ordnung zu bringen!«, ruft Feeney. »Wir müssen zu ihm. Sofort. Lomax ist noch nicht lange weg. Wenn wir das Ruderboot nehmen, können wir ihnen zuvorkommen.«
Wie könnte, fragt sich Harris, ein Dichter auch begreifen, dass man, um in einer so grausamen Welt zu überleben, wie eine Holzfälleraxt sein muss: scharf, brutal, zielsicher und erbarmungslos. Ganz wie er Feeney bei ihrem Kennenlernen gesagt hat, ist er durch und durch Waldarbeiter. Und ein Waldarbeiter ist immer imstande zu tun, was getan werden muss. Auch wenn es bedeutet, einen kranken Ast abzuschneiden, um einen Baum zu retten. Auch wenn es bedeutet, einen Schatz fortzugeben, um einen anderen behalten zu können.
Harris steht auf und hofft, leidenschaftlich zu erscheinen, voller Liebe, des großen Opfers würdig, das er soeben gebracht hat, stattdessen spürt er, wie sich sein Gesicht zu einem schiefen Grinsen verzieht, als er sagt: »Ich würde jeden Baum auf dieser Erde zu Streichhölzern verarbeiten, wenn ich dich dadurch schützen könnte, Liam. Und für Menschen gilt dasselbe.«
Er hört Feeney in die Hände klatschen. »Gut. Wenn du nicht zu ihm gehst, dann tu ich es eben.«
»Als Ihr Arbeitgeber, Mr. Feeney, verbiete ich Ihnen, eines meiner Ruderboote zu besteigen.«
Feeney atmet langsam aus. Schließlich sagt er: »Dann werde ich meine Fähigkeiten als Beschreiber wohl nicht länger in Ihren Dienst stellen können, Mr. Greenwood.«
Auch wenn der schwächste Teil von Harris’ Persönlichkeit immer gefürchtet hat, dass diese Worte des Verrats fallen würden – weil nichts Gutes von Dauer ist, nicht in seinem Leben und auch in Everetts nicht –, traut er seinen Ohren kaum. Mehr noch als die Worte verletzt ihn der knappe, professionelle Tonfall, den Liams sonst so warme Stimme angenommen hat.
»Du hast gesagt, du würdest mich nie hintergehen«, sagt er leise.
»Das habe ich auch nicht«, erwidert Feeney. »Aber du bist mir zuvorgekommen.«
»Gut, dann bist du gefeuert«, sagt Harris mit der gleichen Kühle, um Feeney aufzubringen. »Ich fürchte, du hast die Fähigkeit zur Beschreibung der Welt ohnehin eingebüßt.«
Harris wartet ab, rechnet damit, dass Feeney ihn mit einer noch schärferen Bemerkung zu zerfleischen versucht. Mit etwas spektakulär Respektlosem und Schlagfertigem. Zu diesem Zeitpunkt nimmt Harris jede Beleidigung gern in Kauf, solange sie sie der Versöhnung ein Stück näher bringt. Doch er hört nur seine Vögel in ihren Käfigen rascheln.
»Also, was hast du dazu zu sagen?«, ruft er erbittert aus, als eine volle Minute vergangen ist. »Liam?«
Harris tastet sich um seinen Schreibtisch herum und wirft ein Kristallglas auf den Boden.
»Bist du noch da?«
Er hat weder gehört, wie er sich aus dem Ledersessel erhoben hat, noch Schritte auf den Dielenbrettern noch das Klappern der Tür. Er geht zum Sessel und spürt die Wärme, die Feeney an der Rückenlehne hinterlassen hat.
»Ach, hör auf mit deinen Spielchen, Liam. Du weißt, wie sehr ich es hasse, überrascht zu werden.«
Harris richtet die ganze Kraft seiner verbliebenen Sinne auf das Innere des Raums, fühlt seine Oberflächen und Hohlräume, seine Flächen und Kurven. Er nimmt viele Geräuschquellen wahr – das Zischen des Funkgeräts, das er in der Ecke eingeschaltet gelassen hat, das Flattern der Vögel –, doch sein Beschreiber ist nicht darunter.
Was er jetzt mehr als alles andere braucht, ist seine Stimme. Seit er Feeney zum ersten Mal in ebendiesem Büro die ungewöhnliche Tennyson-Stelle hat lesen hören, hat seine Stimme Harris’ ganze innerliche Struktur verändert, ihn zu einem gänzlich neuen Wesen zusammengesetzt, einem neuen System aus Zellen mit einer neuen lebensspendenden Kraft dazwischen. Doch diese Stimme wird er vielleicht niemals wieder hören. Bei dem Gedanken öffnet sich eine Schlucht in Harris’ Eingeweiden, und er schreit auf und wirft den Lehnsessel um, in dem Feeney gerade noch gesessen hat, und taumelt zurück. Er bewegt die Füße ruckartig, um sich von einer Kabelschnur zu befreien, die sich in seinen Beinen verfangen hat, und die elektrische Lampe, an der sie befestigt ist, fällt zu Boden. Als die Glühlampen zerplatzen, könnte Harris schwören, dass er spürt, wie das Licht von seiner Haut verschwindet.