Die Zeitmaschine
Im Krieg hatte Everett gesehen, wie Soldaten angeschossen wurden und sofort zu rennen anfingen, so schnell ihre Beine sie trugen, als wollten sie den Tod in einem Wettlauf besiegen. Andere sah er sich stumm niedersetzen, als machten sie sich für den Tee bereit. Everett Greenwoods Reaktion aber liegt irgendwo dazwischen.
Nachdem die Schüsse verstummt sind, öffnet er die Schlafzimmertür und schlängelt sich mit Willow vor dem Bauch die Stufen hinunter, bis er den unteren Treppenabsatz erreicht, wo er einen Mundvoll Blut an die Wand spuckt. Er atmet tief durch und bricht dann durch die grob beschaffene Hintertür, schützt dabei das Kind, so gut er kann, bereit, loszustürmen, zuzuschlagen oder in Gewehrfeuer zu sterben.
Doch da ist weit und breit niemand.
Das Kind an die Seite seines Hemdes gedrückt, die nicht blutgetränkt an seiner Flanke klebt, stolpert er in den Wald hinein. Er taumelt westwärts, versucht möglichst wenige Fußspuren zu hinterlassen, indem er von Wurzel zu Wurzel tritt und sich, wo es keine Wurzeln gibt, an mit federndem Moos gepolsterte Bereiche hält.
Nun, da die Schüsse aufgehört haben, kehren Willows Sinne zurück, und sie beginnt zu wimmern. Also zieht er aus der Manteltasche die Flasche mit Ziegenmilch, in die er etwas von Mother Baileys Beruhigendem Sirup gemischt hat. Sie leert sie gierig, ohne Luft zu holen. Als die Wirkung des Mittels einsetzt, schnarcht Willow rüde an seiner Brust.
Wenn Everett Luft holt, hebt sich nur eine Hälfte seines Brustkorbs, wodurch sein Gang Schlagseite bekommt, und er hofft, dass er nicht im Kreis läuft. Die Kugel ist in seinen Rücken eingetreten, aber weil sie vorher durch die Zedernholzverkleidung der Hütte gedrungen war, fehlte ihr die Kraft, seinen Körper wieder zu verlassen, und jetzt klappert sie in seiner Lunge herum wie ein Plektrum, das in den Korpus einer Gitarre gefallen ist. Die Verletzung wird ihn nicht so bald umbringen, aber die Wunde blutet stark.
Er kommt an einem alten Holzfällerlager vorbei und überlegt, sich in der morschen Schlafbaracke zu verstecken, um sich auszuruhen oder vielleicht zu sterben. Aber es könnte Stunden dauern, bis ihn die Mounties finden, und auch wenn Everett nicht kalt ist, sieht er den Dampf von Willows Atem und weiß, dass sie allein nicht lange durchhalten würde. Er humpelt weiter, vermeidet die allzu offensichtlichen Trampelpfade, bahnt sich den Weg durch Sträucher, die nach seinen Augen harken und an seinen Kleidern zerren. Er bleibt nur stehen, um rasselnd nach Luft zu schnappen. Irgendwann ist es, als würden Türen zu ganzen Räumen aus Schmerz aufgestoßen, und er kann nur mit halb geschlossenen Lidern weitergehen und zwischen seinen Wimpern hindurchblicken wie durch einen Traum. Bald wird das Kind zu einem Felsen, und seine Beine sind Bretter, die seine Hüften kaum heben können.
Seine Gedanken kreisen und wandern. Umrisse schießen an den Rändern seines Gesichtsfelds entlang. Eine ganze Zeit lang ist er in Belgien, zieht eine blutgetränkte Trage durch den Schlamm, auf der die Fetzen irgendeiner verlorenen Seele liegen. Dann rennt er irgendwo vor Oakland mit Blank auf einen Zug zu, verfolgt von Bullen mit dicken Hälsen. Dann ist er wieder ein Kind, läuft stumm vor Angst neben seinem Bruder her, die Taschen mit erbeuteten Möhren und Zwiebeln vollgestopft, während die Bewohner des Orts sie von ihren Veranden aus mit Steinen bewerfen.
Es dauert nicht lange, bis Everett das Salzwasser des Ozeans und den mit Seetang bedeckten Strand riecht, an dem Willow und er so viele träge Nachmittage verbracht haben, und der Geruch verleiht ihm Kraft. Er humpelt weiter, und das Gestrüpp öffnet sich und gibt den Blick auf die schmatzenden Felsen und den zum Ufer abfallenden Sandstein frei, und er verharrt einen Augenblick lang an der Mole. Als er auf einem umgestürzten Baum sitzt und in Willows schlafendes Gesicht blickt, geht ihm auf, dass sie ihn seit dem ersten Abend, als er sie weinen hörte, zu einem völlig neuen Menschen gemacht hat. Nicht zu einem guten. Auch nicht zu einem, der Respekt oder Bewunderung verdient hätte. Aber zu einem, dem das Leben eines anderen Menschen mehr gilt als das eigene. Und diese Verwandlung hat eine Wunde geschlossen, die lange in ihm geschwärt und genässt hatte.
Doch eine letzte Verwandlung muss er noch vollziehen.
Als er sich sicher ist, dass die Mole nicht von den Mounties entdeckt wurde, hinkt er zu der großen Zeder am Wasser hinüber und findet die wärmeisolierte Kiste, die daran hängt. Der Ire lässt ihre Wochenvorräte in dieser Kiste – allerdings wird er erst am Morgen mit dem Ruderboot kommen, wenn er überhaupt noch einmal kommt. Denn es war zweifellos Harris, der ihren Aufenthaltsort verraten hatte.
Everett hatte geplant, Willow irgendwann einmal zu seinem alten Zuckerbusch auf R. J. Holts Land außerhalb von Saint John mitzunehmen, dem Ort, an dem alles begann. Er hatte vorgehabt, ihr den Baum zu zeigen, an dem sie gehangen hatte. »Ich wette, ich würde ihn noch finden«, flüstert er ihr jetzt zu. »Ich wette, der Nagel ist noch da.« Doch in Wahrheit weiß er, dass es nie dazu kommen wird und dass Willow und er sich wahrscheinlich nie wiedersehen. Der Gedanke lässt etwas in ihm zerbrechen, und er weiß, dass es nie wieder ganz werden wird.
Er humpelt zu der Vorratskiste, während ein Hauch von Dämmerung den Horizont rosig säumt, zieht seinen Wollmantel aus und wringt so viel Blut heraus, wie er kann, ehe er Willow darin einwickelt. Sein umherirrender Verstand kehrt zu Temples Bibliothek zurück, zu den grob gezimmerten Regalen voller Enzyklopädien und seltsamen Büchern aus allen Winkeln der Erde. Während seiner Zeit auf der Farm hat Temple ihm von einem Buch mit dem Titel Die Zeitmaschine erzählt. Die Geschichte kreiste um eine mechanische Vorrichtung, die jemanden aus seiner eigenen Zeit in eine andere befördern konnte, und es ließ Everett an ihm bekannte Orte denken, durch die man in eine gänzlich andere Zeit eintreten kann. Eine Straßenbahn ist einer davon. Ein Wald ebenfalls. Ein einzelner Baum. Ein Schlachtfeld. Und auch – aber das wird Everett erst später feststellen, nachdem er so lange Zeit in einer gelebt hat – eine Gefängniszelle. »Und diese Vorratskiste auch«, sagt er, und sein Hals schließt sich wie eine Faust. Er fährt mit den Lippen über Willows lieblichen Kopf und hebt den Deckel.