Screenshot
Schwarze Wagen
Sie sollte eigentlich schlafen, solange ihr Kind vor der Beerdigung ein paar Stunden bei der Babysitterin ist. Aber stattdessen schaut Willow aus dem Fenster ihres ehemaligen Kinderzimmers und sieht schwarze Wagen in der Einfahrt der Villa halten. Die Männer, die aussteigen, sind hauptsächlich Holzarbeiter, die direkt aus den Gift spuckenden Sägewerken und den krebsartigen Kahlschlägen Nordamerikas kommen, von den höchsten Magnaten und Werksleitern bis zu den niedersten Hilfsarbeitern, Holzfällern, Ladungskontrolleuren und Holzeinbringern. Sogar die armen Seelen, deren Körper die Sägen von Greenwood Timber über die Jahre hinweg verstümmelt haben, sind – mit ihren Krücken, Plastikprothesen und Sauerstofftanks auf Rädern – gekommen, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Aus einem zinnfarbenen Bentley steigt John P. Weyerhaeuser in den leichten Dezemberregen hinaus, ein Mann, den Willow von den radikalen Umweltschutzpamphleten, die sie verteilt hat, als Sohn des verstorbenen Holzmoguls Frederick Weyerhaeuser kennt. Davor hat sie den mopsgesichtigen H. R. MacMillan von MacMillan Bloedel entdeckt, den erbittertsten Rivalen ihres Vaters, den Mann, dessen mehrere Millionen Dollar teure Fäll-und-Zusammenrückmaschinen Willow vor gerade einmal neun Monaten mit drei Säcken Zucker zerstört hat. Ein Mann, den Harris nicht in seinem Viertel, geschweige denn in seiner Villa geduldet hätte. Ob sie gekommen sind, um ihren Vater zu ehren, sein Anwesen zu begaffen, insgeheim über seinen Tod zu frohlocken, in Erinnerungen an das Vermögen, das er ihnen eingebracht, oder den Hungerlohn, den er ihnen gezahlt hat, zu schwelgen oder einfach nur dem krankhaft zerstörerischen Wahn Tribut zu zollen, der Harris Greenwoods fünfundsiebzigjährige Existenz gewesen ist, vermag Willow nicht zu sagen.
Das Begräbnis hat noch nicht einmal begonnen, und sie ist schon so erschöpft, wie man es nur mit einem Neugeborenen sein kann. Sie legt sich hin und schließt die Augen, doch der dringend benötigte Schlaf will sich nicht einstellen. Zu ihrer großen Überraschung war das Flattern der Zukunft, das sie erstmals gespürt hatte, als sie ihren Onkel Everett aus dem Gefängnis abholte, nicht abgeflaut, und einem solchen Wunder in ihrem Alter ein Ende zu setzen, erschien ihr als der Inbegriff schlechten Karmas, also behielt sie es. Ihr Sohn ist letzten Monat zur Welt gekommen, auch wenn es sich anfühlt, als wäre seitdem eine Ewigkeit vergangen. Sie hat Sage, der vermutlich sein Vater ist, über das Earth Now!-Kollektiv eine Nachricht zukommen lassen, rechnet aber nicht damit, in absehbarer Zeit von ihm zu hören. Willow hat ihrem Kind noch keinen Namen gegeben. Wenn sie jemand darauf anspricht, sagt sie, sie könne sich nicht entscheiden. In Wahrheit fällt ihr kein Wort ein, das ihrem Erdenkind, diesem unwahrscheinlichen Geschenk angemessen wäre – kein Laut, den der menschliche Mund zu bilden in der Lage ist, könnte seine glitzernden Augen, sein seltsames katzenartiges Jaulen und seine unverhältnismäßig dicken Beine, mit denen er aussieht, als trüge er winzige Hosen aus Walblubber, beschreiben.
Sie hat sich während ihrer gesamten Schwangerschaft auf Greenwood Island vor den Mounties versteckt, auch wenn ihr jetzt bewusst wird, dass ihre Angst, von einer schwarzen Limousine verfolgt zu werden, reine Paranoia war. Die Polizei hat Besseres zu tun, als kleine Umweltvandalen wie sie zu jagen, und inzwischen weiß sie, dass drei dieser Maschinen für ein Unternehmen wie MacMillan Bloedel nichts sind. Außerdem gibt es in der Hippie-Hochburg Vancouver Tausende von VW-Bussen, zu einem großen Teil von Frauen gefahren, die wie sie aussehen.
Als die Geburt unmittelbar bevorstand, hat sie eine Hebamme auf die Insel bestellt, und alles ist ohne Komplikationen verlaufen. In dieser euphorischen Anfangszeit hat es sie erschreckt, wie ihr Sohn nach ihr gierte, wie er grabschte und saugte und mit blau angelaufenem Gesicht schrie wie von Sinnen. Niemand hatte ihr gesagt, wie augenblicklich und wie heftig ihr Fluchtdrang sein würde oder wie anstrengend das Muttersein wirklich war. In Anbetracht ihrer Fehlgeburten hatte sie ihrem Vater die Schwangerschaft verheimlicht und wollte ihn überraschen, indem sie mit seinem Enkel in der Villa in Shaughnessy auftauchte, sobald sich ihr Schlafrhythmus normalisiert hatte. Vor drei Tagen erreichte sie dann über das Funkgerät in der Hütte ein Notruf von Terrance Milner, dem Buchhalter und Hausverwalter ihres Vaters, der sie bat, schnellstmöglich zu kommen. Bei ihrem Eintreffen teilte Milner ihr noch in der Einfahrt der Villa mit, ihr Vater sei kürzlich wie jedes Jahr nach Nordkalifornien gereist, um Vögel zu beobachten (oder in seinem Fall zu belauschen ). Nach seiner üblichen Wanderung hatte er offenbar seinen Führer fortgeschickt und behauptet, von einem anderen Führer abgeholt zu werden. Doch es war niemand gekommen. Danach war ihr Vater anscheinend tiefer und tiefer in den Wald hineingegangen. Eine Woche später wurde er von Wanderern in einem abgelegenen Teil des Parks gefunden. Bei der Autopsie wurde ein großes und inoperables Krebsgeschwür in seinem Gehirn entdeckt, das er in charakteristischem Gleichmut verschwiegen hatte. Nachdem Milner geendet hatte, setzte sich Willow neben ein Regal mit den Gummiüberschuhen ihres Vaters, versunken in einer Art schwebender Taubheit, die seither nicht von ihr abgefallen ist, und weinte leise, um das nichtsahnend in ihren Armen schlummernde Kind nicht zu wecken.
Milner organisierte die Beerdigung und rief die Babysitter an, die kamen und ihr zum ersten Mal in ihrem Leben ihren Sohn abnahmen. Und selbst die Marxistin in Willow muss zugeben, dass Reichtum gewisse unbestreitbare Vorteile mit sich bringt.
Jetzt zündet sie sich in ihrer kleinen Graspfeife ein Köpfchen Indica an und bläst den Rauch aus dem Tiffany-Fenster mit Blick auf die Einfahrt. Bei ihren seltenen Besuchen in seinem Haus nach der Erweckung ihres Umweltbewusstseins durch Unser ausgebeuteter Planet hat sie es als das gesehen, was es wirklich ist: ein abscheulicher Schrein der grauenvollen Gewalt, die ihre Sippe dem Planeten einschließlich Tausender uralter und wehrloser Lebewesen zum einzigen Zweck protziger Dekoration angetan hat. Während sie jetzt in ihrem Zimmer liegt, wo die Äste der Sumpfeiche über das Schieferdach kratzen, der Boden vor dem Schrank knarzt und der tintenbeschmierte Schreibtisch, an dem sie unzählige Briefe an ihren Onkel verfasst hat, neben der Tür steht, kommt es Willow vor, als wäre sie in der Zeit zurückgesprungen.
Weil die Trauerfeier um zwölf Uhr beginnen soll, schleppt sie sich zu dem verstaubten Spiegel, um ihren Aufzug zu begutachten, der, wie selbst ihr bewusst ist, nur als unangemessen bezeichnet werden kann: ein gebatikter Rock und eine ausgebleichte Bluse, gefleckt mit Baumharz, das durch die monatlichen Runden im Trockner des Waschsalons längst in den Stoff eingebacken ist. »Kleider bringen keine Trauer zum Ausdruck«, sagt sie sich. »Trauer bringt Trauer zum Ausdruck.« Und sie trauert, oder etwa nicht? Natürlich tut sie das. Doch Harris ist ein so rätselhafter Vater gewesen, auf ewig beschäftigt, auf ewig unerreichbar, auf ewig unbekannt. In ihrer Kindheit ist das Haus ein Ort des Schweigens und der Geheimnisse gewesen, voller Klaviere, auf denen niemand spielte, und Bücher, die niemand las. Bronzebüsten und Ölbilder von englischen Fregatten und italienischen Landschaften. Käfige mit exotischen Vögeln, hochglanzpolierten schwarzen Mahagonimöbeln und antiken Holzfällerwerkzeugen, die überall aufgehängt waren wie Waffen aus irgendeinem noblen Krieg. Und ihr Vater mit seinen Routinen und Terminen: jeden Tag die gleichen Mahlzeiten um die gleiche Uhrzeit, dieselben Gedichtschallplatten auf demselben Plattenspieler abends in seinem Arbeitszimmer. Und wie er sie für die geringsten Störungen dieser Routine zurechtwies: für ihre Angewohnheit, trampelnd auf den Fersen zu gehen, oder die Angewohnheit ihres Magens, am Abendbrottisch zu knurren.
Doch sie tat ihr Bestes, um die Stimmung aufzulockern. Sie erinnert sich daran, wie sie mit Rollschuhen die private Bowlingbahn der Villa hinunterfuhr, bis Harris hereinstürmte und sie anschrie, weil sie das Holz verkratzte (Kratzer, die er, wie sie stets betonte, »nicht mal sehen konnte«). Und wie sie einmal den Hausangestellten einen Streich gespielt hatte, indem sie das frisch polierte Tafelsilber wie Christbaumschmuck an die perfekt gestutzten Bäume im Garten gehängt hatte. Dann waren da noch das Schild mit der Aufschrift »Zauberwald, betreten verboten«, das sie an ihre Zimmertür gehängt, und die hundert Äste gewesen, die sie zur Verstärkung des Effekts direkt an ihre Wände genagelt hatte, und die hundert im Putz zurückgebliebenen Löcher, nachdem Harris dem Gärtner aufgetragen hatte, sie alle herauszureißen.
Auch wenn ihre Kleidung einigermaßen passabel ist, muss sie sich noch zumindest notdürftig reinigen, also schrubbt sie sich am Waschbecken die Achselhöhlen und den Hals und beschmutzt dabei einen weißen Waschlappen so stark, dass sie ihn mit einem schlechten Gewissen direkt in den Müll wirft. Sie kämmt sich die Haare, scheitelt sie in der Mitte und flicht sie zu zwei Zöpfen. Dann schreitet sie die große Mahagonitreppe hinunter, deren Stufen sie als Kind so oft Hüpfer für Hüpfer gezählt hat, und lässt ihre Hand an dem spiralförmigen, aus einem einzigen Baum gehauenen Redwood-Geländer hinabgleiten.
Unten scharen sich die Trauergäste in dem großen Saal, einer Kaverne mit einer Deckenhöhe von fast zehn Metern, in der viele runde Tische mit feinen weißen Tischdecken aufgestellt sind. Harris hat sich nie eine formelle Beerdigungsfeier gewünscht, aber er hat sich auch nicht ausdrücklich dagegen ausgesprochen. Mit Willows Einverständnis hat Milner daher Catering und ein Streichquartett bestellt – obwohl Harris Musik verabscheute und immer sagte, sie sei nichts weiter als eine Perversion der einzigartigen Vollkommenheit der menschlichen Stimme.
Auf Silbertabletts drängen sich dampfende Hummer, die über fünftausend Kilometer hinweg aus New Brunswick eingeflogen worden sind, und hohe Türme von gebratenem Fleisch, die sicherlich zu neunzig Prozent fortgeworfen werden. Eine einen Meter achtzig hohe, vollständig aus Butter geformte Douglastanne steht in der Nähe des Erkerfensters, während Barkeeper mit pomadigen Frisuren hinter kristallenen Dekantern mit bestem kanadischem Whiskey und eigens bestellten Kisten voller Sake bereitstehen. Viele der auswärtigen Gäste übernachten auf dem Anwesen, und Willow hat gehört, zur Unterbringung der übrigen habe ein ganzes Stockwerk des Hotel Vancouver reserviert werden müssen. Die Journalisten und Gaffer eingeschlossen, sind es fast vierhundert Personen, und wenngleich es sie aufheitert, die alte Villa so von Leben erfüllt zu sehen, wie sie es während ihrer Kindheit nie war, überkommt sie doch der Drang, sie alle an den Ohren zu packen und hinauszuwerfen.
Ein befrackter Kellner drückt ihr ein Glas in die Hand, und es beschämt sie, wie widerstandlos sie sich in die Rolle der Tochter des Holzmagnaten fügt. Aber welche Erleichterung ist es, nach so vielen schmuddeligen Monaten in der urigen Hütte ihres Vaters auf Greenwood Island, in denen sie an dem Brunnen mit der Handpumpe das teerartige Kindspech aus den Windeln ihres Sohnes gewaschen hat, Menschen um sich zu haben, die ihr Essen reichen und ihre Kleider waschen, ihr das Bett aufdecken und ihr Kind besänftigen.
Sie steht neben dem Feldsteinkamin, nippt an ihrem Sake – die einzige Art von Alkohol, die ihr Vater je vertragen hat – und hofft, unbemerkt zu bleiben. Sie sucht den Raum nach ihrem Onkel Everett ab, den Milner über dessen Bewährungshelfer einzuladen versucht hat, ohne dass er jedoch geantwortet hätte. Obgleich Willow nichts von ihrem Onkel gehört hat, seit sie ihn vor neun Monaten am Flughafen von Vancouver abgesetzt hatte, hat sie einige seiner Briefe noch einmal gelesen und ihr hartes Urteil über ihn revidiert. Es war sicherlich verwirrend, nach so langer Gefangenschaft auf diese Weise in ihre Obhut entlassen zu werden, durch ganze Jahrzehnte hindurchzugehen wie durch angrenzende Zimmer. Auch für sie war es keine einfache Zeit gewesen: ein außer Kontrolle geratener Östrogenspiegel und zu viel Gras und zu viele Pillen – Faktoren, die sicherlich zu der paranoiden Vorstellung beigetragen haben, der mysteriöse schwarze Wagen folge ihr auf Schritt und Tritt. Aber gerade jetzt, da Harris nicht mehr ist, verspürt sie den dringenden Wunsch, ihren Onkel wiederzusehen. Was machen schon die erfundenen Geschichten über die gemeinsam verbrachte Zeit, als sie ein Säugling war, und der merkwürdige Spitzname, den er ihr gegeben hat (ist es Schote gewesen?) – er mag etwas verrückt sein, aber er ist harmlos. Und sie hat sich oft gefragt, wie sein Wiedersehen mit dieser Frau in Saskatchewan wohl verlaufen ist und ob er das Buch gefunden hat, für das er bereit war, seine Bewährungsauflagen zu verletzen.
»Miss Greenwood!«, ruft ein rundlicher kleiner Mann aus, der, auf einen handgeschnitzten Gehstock gestützt, durch die Menge auf sie zukommt. Willow hört seine Knie knacken, während er sich ihr nähert. »Mort Baumgartner mein Name. Ich habe Greenwood Timber mit ihrem Vater zusammen gegründet und war von Anfang an dabei«, sagt er, als würde das einiges erklären, bevor er sich über die Vorzüge ihres Vaters als Arbeitgeber auslässt.
Ein Baby ist etwas Verwundbares, das aber auch als eine Art Rüstung dienen kann, und plötzlich wünscht sie, ihr Kind in den Armen zu halten, und sei es nur, um etwas Handfestes zwischen sich und diesen Mann schieben zu können, der ihre Kleidung beäugt und die Lücke zwischen dem Erfolg des Vaters und dem Scheitern der Tochter abschätzt.
»Wir haben uns vor Jahren aufgrund gewisser Differenzen voneinander getrennt«, fügt Baumgartner hinzu, »aber ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen. Harris war ein verdammt guter Waldarbeiter. Darum war ich so überrascht, als ich von den … Umständen hörte. Trotz seines Handicaps fand Harris sich in jedem Wald zurecht.«
»Er hat sich verirrt«, sagt sie nachdrücklich. Sie will die Gerüchte um einen möglichen Selbstmord nicht weiter anheizen. »Das hätte jedem passieren können.«
»Ich habe gehört, in seinem Kopf wurde ein Tumor gefunden. So groß wie ein Baseball, meinte jemand. Er muss davon gewusst haben. Hat er es Ihnen gesagt?«
Willow denkt an die letzte Begegnung mit ihrem Vater zurück, im Stanley Park, als er sie überredete, Everett aus dem Gefängnis abzuholen. Sie erinnert sich an seinen wankenden Gang, sein weiß gewordenes Haar und daran, wie sie all das seinem Wechsel in den Ruhestand zugeschrieben hatte. Wobei sich seine uncharakteristische Gefühlsseligkeit und die Umarmung inzwischen dadurch erklären lassen, dass er wusste, dass es mit ihm zu Ende ging. Aber warum hat er es mir dann verdammt noch mal nicht gesagt?, schreit sie Baumgartner beinahe ins Gesicht. Stattdessen sagt sie: »Auf seine Art hat er das, ja.«
»Immerhin konnte er sein Enkelkind noch kennenlernen«, redet der Mann weiter. »Ich habe vierzehn, und es muntert mich auf, dass die Familie Baumgartner auf jeden Fall fortbestehen wird.«
»Ja«, sagt Willow, obwohl Harris ihren Sohn in Wahrheit nie gesehen hat und der Gedanke sie beinahe umbringt. In ihrer Zeit auf Greenwood Island hatte er sie zweimal über das Funkgerät kontaktiert. »Ich hasse es, in dieses Ding zu sprechen«, hatte Harris gesagt. »Aber es freut mich, dass dir mein Zufluchtsort gefällt. Brauchst du irgendetwas?« Niemals aber hatte er über seine Gesundheit gesprochen oder einen Besuch vorgeschlagen. Hätte sie gewusst, dass er krank war, hätte sie ihm helfen können. Und sie hätte ihm von ihrer Schwangerschaft erzählt. Vielleicht hätten sie sogar einige Dinge aussprechen können, die hätten ausgesprochen werden müssen. Stattdessen entschied er sich für Heimlichkeit, für Einsamkeit und Stoizismus. Und er starb allein inmitten der Bäume. Es ist ihr zuwider, wie einleuchtend das ist.
»Nun, Ihr Kind wird ein Vermögen erben«, sagt Baumgartner und erhebt mit einem hässlichen Grinsen sein Glas. »So wie Sie.«
Willow schüttelt den Kopf und schlürft ihren Drink, ohne seinen Toast zu erwidern. »Mein Vater hat mich vor langer Zeit aus seinem Testament gestrichen, Mr. Baumgartner. Und ich möchte lieber nicht darüber reden, wenn es Ihnen recht ist. Ich stehe heute ein bisschen neben mir.«
Zu ihrer Erleichterung lässt er das Thema fallen, und sie kauen schweigend, nachdem ihnen Canapés und Lachsküchlein gereicht wurden – feine kleine Häppchen, die ihr Vater belächelt hätte. »Mischen Sie einfach alles in einer Schüssel durch und geben Sie’s mir«, hatte er ausgerufen, wenn der Chefkoch zu überkandidelt wurde. »In meinem Fall isst das Auge nicht mit.«
Die Beerdigung wird bald anfangen, und Willow holt ihr Baby und stillt es auf einer Personaltoilette. Ihren Brustwarzenvorhof im Mund, ächzt das Kind wie ein Offensivspieler beim Football. Dann gesellt sie sich mit dem Baby wieder zu der Menge auf dem Rasen hinter der Villa. Nicht weit von ihnen stehen die heiligen Haida-Totempfähle, die ihr Vater von den Ureinwohnern, deren Land er gerodet hatte, gestohlen und als Kernstück seiner Sammlung geplünderter Kuriositäten behalten hat. Als Kind hat sie sich oft in die Grünanlagen hier hinten davongestohlen, und heute ist es, als würde ihre Kindheit selbst Eindringlingen zum Opfer fallen.
Einer nach dem anderen treten Männer an das mit Schnitzereien verzierte Rednerpult. Der Premierminister von British Columbia. Der Fortwirtschaftsminister. Baumgartner erzählt eine ermüdende Anekdote über irgendeine Maschine im Sägewerk, die Harris mit nichts als einer Schachtel Büroklammern repariert hatte. Milner preist Harris’ Fähigkeit, einzuschätzen, wie viele Festmeter Holz ein beliebiger Wald abwerfen würde. »Das konnte er blind schätzen«, setzt er hinzu und erntet einige Lacher. Die Verurteilung ihres Vaters für den verräterischen Akt, den Japanern vor dem Zweiten Weltkrieg Holz zu verkaufen, wird selbstverständlich verschwiegen. Könnte Willow nur einen weiteren Sake in die Finger bekommen, würde sie vielleicht den Mut fassen, das Podium zu betreten und dieses Versehen selbst zu korrigieren.
Obwohl sie seit Jahren keinen Lohnscheck der Greenwood Timber Company eingelöst haben, wirken die anwesenden Arbeiter wie geprügelte Hunde, die nicht wissen, wer sie füttern oder schlagen soll, nun, da ihr Herr fort ist. Doch keiner der Arbeiter wagt sich auf das Podest, während sich die Reden ihrer Vorgesetzten immer länger hinziehen. Sie betonen Harris’ großartige Charaktervorzüge: seine markige Ehrlichkeit und seinen unerbittlichen Fleiß. Auf einer Staffelei hinter ihnen ruht ein riesiges Foto ihres Vaters als junger Mann, der vor einem Berg gefällter Baumstämme steht, die den gesamten Bilderrahmen ausfüllen – es müssen tausend Rundhölzer sein, jedes einzelne vom doppelten Durchmesser seines Kopfes. Seht den Bezwinger der Bäume!, ruft Willow beinahe aus. Sowohl körperlich als auch seelisch blind gegenüber dem Massaker, das er anrichtet. Wieder einmal fragt sie sich, wie er Lebewesen von so unantastbarer Anmut und Schönheit gegenübertreten und den Drang (geschweige denn das Recht !) empfinden konnte, sie zu zerstören. »Wie mutig«, murmelt sie in die winzige Ohrmuschel ihres Sohnes. »Dein Großvater hat Männer angeheuert, um wehrlose Riesen umzuhauen, und sie dafür wie Ratten bezahlt.«
Ein altes Sprichwort besagt, der Apfel falle nicht weit vom Stamm. Aber Willows Erfahrung nach trifft eher das Gegenteil zu. Ein Apfel ist nichts weiter als das Fluchtfahrzeug eines Samens, nur eine seiner genialen Fortbewegungsmethoden – in Tiermägen oder mithilfe des Windes –, alles nur, um so weit wie möglich von seinen Eltern fortzukommen. Ist es da ein Wunder, dass die Töchter von Zahnärzten Süßwarenläden eröffnen, die Söhne von Steuerberatern spielsüchtig werden, die Kinder von Bewegungsmuffeln Marathon laufen? Sie war schon immer überzeugt, dass die meisten Menschen ihr Leben als eine einzige große Widerlegung ihrer Vorfahren leben.
Als sich die Gedenkfeier dem Ende zuneigt, bemerkt Willow einen Mann, der in einer der vorderen Reihen steht, von einer Aura der Unberührbarkeit umgeben, als hätten sich alle anderen verschworen, ihm nicht zu nahe zu treten. Obwohl es ein kühler Tag ist, trägt er einen feinen Leinenanzug, der nach einem europäischen Schnitt aussieht – keines dieser braunen Polyesterdinger, die unter Holzfällern beliebt sind. Eine graue Traurigkeit schwebt über ihm. Während die ersten Gäste der Reihe nach zum Haus zurückgehen, um sich am Hummer gütlich zu tun, tritt der gut gekleidete Mann ans Podium und beginnt ohne einleitende Worte aus einem kleinen Büchlein zu lesen. Seine melodische Stimme mit irischem Akzent durchschneidet das allgemeine Gemurmel wie ein Skalpell, und die Gäste wenden sich ihm zu. Er liest ein Gedicht, etwas Altes und Poetisches über Bäume und Zeit. Und sonderbarerweise ist ihr der Klang seiner Stimme vertraut, sehr sogar, obwohl sie sein Gesicht nicht im Geringsten erkennt. Und als er gerade in Fahrt kommt und seine Lesung an Leidenschaft und Exaktheit zunimmt, bahnt sich Mort Baumgartner mit seinem Krückstock einen Weg nach vorn und legt dem Mann eine massige Hand auf die Schulter. Als der Mann nicht zu lesen aufhört, beugt sich Mort vor und flüstert ihm etwas ins Ohr. Der Mann schließt die hohlen Augen und lässt langsam einen langen Atemzug entweichen. Dann steckt er das Büchlein in die Jacketttasche, tritt vom Pult zurück und verschwindet in der Menge.